Christa Wolf: Ein Tag im Jahr. 1960 - 2000, München 2003 [Links zur Wikipedia]
KLAPPENTEXT
Die Grundspannung bleibt all die Jahre dieselbe. Sie wird nie gelöst. Sie wird gelebt, bedacht, beschrieben und erzählt. In immer neuen Gestalten. Vom "Geteilten Himmel" über "Kassandra" bis "Was bleibt?" 1979 notiert Christa Wolf: "Heute drückt mir dieses ganze Land auf meine Schultern, und nur manchmal werde ich frei davon und kann mich leichter aufrichten. Aber das wäre natürlich woanders genau so. - Nicht ganz, sagt er. Woanders würde es dich nichts angehen. - also eine Selbsttäuschung. - Ja. Aber woher eigentlich diese unauflösbare Identifizierung mit diesem Land. Warum wird man die nie los. - Ich sage, wenn sie es hätten loswerden können, wären Sarah Kirsch und Günter Kunert nicht gegangen. Das ist es eigentlich, wovor sie fliehen mussten. "Und ich werde mich immer an den Augenblick erinnern - Es war nach der Biermann-Ausbürgerung, es war in Ungarn, im Bus von Hevis zum Flughafen, als ich mir versprach: Wenn ich mich frei machen und weiter schreiben kann, ganz unabhängig, kann ich hier bleiben; wenn nicht, muss ich gehen."
Es sind Passagen wie diese, die einem die Augen öffnen für das, was Freiheit ist, wenn sie nur die des Urteils sein kann. Man kommt freilich auch auf den Gedanken, dass man vielleicht nicht alle Freiheiten gleichzeitig haben kann, nicht aus moralischen Gründen, sondern dass man aus ebenso unumstößlichen Gründen nicht gleichzeitig die Freiheit des Handelns wie die des Urteilens und die des Beschreibens haben kann, wie es unmöglich ist, gleichzeitig Ort und Impuls eines Teilchens zu messen. Die von unserer Alltagserfahrung vielfältig gestützte Vorstellung, der handelnde, der sich also in seiner Praxis erfahrende Mensch, sei der, der sich eine klarere Kenntnis seiner Welt und seiner Selbst anzueignen in der Lage wäre, gilt vielleicht nur auf einem bestimmten Niveau unserer Erkenntnis. Auf anderen Ebenen aber verhindert die Fähigkeit zu Handeln gerade die zur Erkenntnis. Auch dafür fehlt es ja nicht an Beispielen, auch allerjüngsten aus Wirtschaft und Politik.
Jeder Leser wird "Ein Tag im Jahr" immer wieder aus der Hand legen, um solchen Tagträumereien nachzuhängen. Wer davor erschrickt, der wird keine zehn Seiten des Buches lesen können, wer dagegen für diese Art von Droge auch nur ein wenig empfindlich ist, der wird dem Buch verfallen. "Ein Tag im Jahr" ist ein stark wirksames Halluzinogen. Wie alle derartigen Substanzen bewirkt es, dass wir die Welt, nachdem wir sie genossen haben, anders wahrnehmen. "Ein Tag im Jahr" lässt einen anders als viele andere Halluzinogene nicht vergessen, wie arm man ohne es war, und gerade diese Erinnerung beflügelt die Einbildungskraft und macht einem Mut, weiter zu denken, selber zu denken. So sehr die Autorin sich ausliefert und so sehr das Regime der schwarzen Galle hinter jeder Zeile zu drohen scheint, so sehr immer wieder der Generalbass aller Melancholie - die Antriebslosigkeit - aufklingt, so sehr mobilisiert dieses Buch gerade dadurch die Lebenskräfte des Lesers, seinen kindlichen Assoziationsdrang, seine Einfallslust. "Ein Tag im Jahr" ist gerade durch seinen Ernst, durch die Nähe zum Schmerz ein heiteres, ein erheiterndes Buch.
Achtung! Der Text ist nur über das Link korrekt zu lesen.
"Dienstag, 27. September 1960 Halle/S., Amselweg
Als erstes beim Erwachen der Gedanke: Der Tag wird wieder anders verlaufen als geplant. Ich werde mit Tinka wegen ihres schlimmen Fußes zum Arzt müssen. Draußen klappen Türen. Die Kinder sind schon im Gange. Gerd schläft noch. Seine Stirn ist feucht, aber er hat kein Fieber mehr. Er scheint die Grippe überwunden zu haben. Im Kinderzimmer ist Leben. Tinka liest einer kleinen, dreckigen Puppe aus einem Bilderbuch vor: Die eine wollte sich seine Hände wärmen; die andere wollte sich seine Handschuh wärmen; die andere wollte Tee trinken. Aber keine Kohle gab’s. Dummheit! Sie wird morgen vier Jahre alt. Annette macht sich Sorgen, ob wir genug Kuchen backen werden. Sie rechnet mir vor, daß Tinka acht Kinder zum Kaffee eingeladen hat. Ich überwinde einen kleinen Schreck und schreibe einen Zettel für Annettes Lehrerin: Ich bitte, meine Tochter Annette morgen schon mittags nach Hause zu schicken. Sie soll mit ihrer kleinen Schwester Geburtstag feiern. Während ich Brote fertigmache, versuche ich mich zu erinnern, wie ich den Tag, ehe Tinka geboren wurde, vor vier Jahren verbracht habe. Immer wieder bestürzt es mich, wie schnell und wie vieles man vergißt, wenn man nicht alles aufschreibt. Andererseits: Alles festzuhalten wäre nicht zu verwirklichen: Man müßte aufhören zu leben. – [...] Im Wartezimmer großes Palaver. Drei ältere Frauen hocken beieinander. Die eine, die schlesischen Dialekt spricht, hat sich gestern eine blaue Strickjacke gekauft, für hundertdreizehn Mark. Das Ereignis wird von allen Seiten beleuchtet. Gemeinsam schimpfen alle drei über den Preis. Eine jüngere Frau, die den dreien gegenüber sitzt, mischt sich endlich überlegenen Tons in die fachunkundigen Gespräche. Es kommt heraus, daß sie Textilverkäuferin und daß die Jacke gar nicht »Import« ist, wie man der Schlesierin beim Einkauf beteuert hatte. Sie ist entrüstet. Die Verkäuferin verbreitet sich über die Vor- und Nachteile von Wolle und Wolcrylon. Wolcrylon sei praktisch, sagt sie, aber ..."
Textauszüge:
27.9.1960 bis 27.9.1961 Halle/S., Amselweg
27.9.1962 bis 27.9.1970
1.10.1964 Kleinmachnow Förster-Funke-Allee S.70
"Dienstag 27.September 1977
Wolf schreibt - möglichst aktuell, aber doch immer wieder auch erst nachträglich oder auf mehrere Tage verteilt. Am 27.9.77 beginnt sie am Tag selbst, Nach 4,5 Druckseiten schreibt sie "Es ist jetzt 9 Uhr 45." - Da hat sie inzwischen [ab S.217] berichtet, dass sie morgens "vielleicht gegen drei" raus musste. Die folgenden Abschnitte des Buchtextes sind der Spracherkennung diktiert und nur unzureichend korrigiert. Aber wenn das Diktierte in Zusammenhang stehen und ich später einen Überblick haben will, muss der Text zumindest vorläufig im Blog festgehalten sein.
Buchtext:
"Ich schlief bald wieder ein. erwachte endgültig um sechs. Obwohl ich mir abends – getreu eines Ratschlages in einer Fernsehsendung über Träume – den Befehl gegeben hatte, bei einem wichtigen Traum aufzuwachen und ihn zu behalten, verflüchtigte sich der Morgentraum unaufhaltsam. In meinem noch halbdämmrigen Bewusstsein setzte ein Suchen und Tasten nach festen Gegenständen ein, an denen die Gedanken sich halten könnten. Ich versuchte mir diese Gegenstände zu merken, da mir nach einiger Zeit einfiel, dass heute "Tag des Jahres" ist. Jetzt schon fällt es mir schwer, sie im Gedächtnis zu reproduzieren.
[S.222] Freitag 30.9. 77, wieder in Meteln. Inzwischen ist das Wetter umgeschlagen, gestern kam ich bei Regen wieder in Schwerin an, um die Erkenntnis reicher, dass ich nicht so stabil bin dass ich so stabil nicht bin, wie ich vor drei Tagen noch dachte, dass Meldungen über bestimmte Versammlungen mich immer noch deprimierend können. Aber ich muss den Dienstag rekonstruieren, ohne auf Notizen zurückgreifen zu können. Zwischenraum mache Spiegeleier, wasche das Frühstücksgeschirr ab… Was ich dabei dachte, weiß ich nun nicht mehr, wieso wird jetzt ein veräußerlich des Bild dieses Tages hier entstehen müssen. Es zeigt sich – was auch am erzählte nach prüfbar –: die äußeren Geschehnisse, Handlungen bleiben scharfer in der Erinnerung als das, was an inneren Leben – oft nicht synchron damit - abläuft. Ebenso man sagt es mir auch von "Kindheitsmuster" immer wieder: die fast konventionell erzählten Parteien, die dort entwickelten Figuren prägen das Erinnerungsbild des Buches bei vielen Lesern, viel stärker jedenfalls als die Reflektionen. Die Frage einer jungen Polin vorgestern auf dem Übersetzerseminar: Man lebe so mit der Familie [S.223] Jordan mit, man identifiziere sich so mit ihr – könne man da nicht die 6 Millionen Toten in Polen darüber vergessen? Zielte auf dieses Phänomen, auf die Kraft des erzählten, auf sie ein Durchsetzungsvermögen gegenüber dem nur Gedachten. Muss überlegt werden für künftige Arbeiten.
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