22 Oktober 2023

Christa Wolf: Ein Tag im Jahr

Christa Wolf: Ein Tag im Jahr1960 - 2000, München 2003 [Links zur Wikipedia]

KLAPPENTEXT

1960 erging an die Schriftsteller der Welt ein Aufruf der Moskauer Zeitung Iswestija, sie möge den 27. September dieses Jahres so genau wie möglich beschreiben. Maxim Gorki hatte 1936 damit begonnen, "Einen Tag der Welt", wie es damals hieß, zu porträtieren. Christa Wolf reizte diese Idee, sie hat dann aber nicht nur den 27. September 1960 beschrieben, sondern von diesem Jahr an jeden darauffolgenden 27. September genau beobachtet und festgehalten, "mehr als die Hälfte ihres erwachsenen Lebens".

Rezensionen in Perlentaucher (SZ, ZEIT, NZZ, taz, FR, Sept./Okt. 2003)

Am 22.4.2004 schreibt Arno Widmann eine ungewöhnliche Rezension,
Es ist ein einmaliges Buch. 1960 rief die Moskauer Zeitung Iswestija die Schriftsteller der Welt auf, sie mögen alle einen Tag des Jahres, nämlich den 27. September so genau wie möglich beschreiben. Christa Wolf tat es. Vierzig Jahre lang. "Ein Tag im Jahr" sammelt auf fast 630 Seiten diese Aufzeichnungen. Es gibt keine vergleichbare Chronik der letzten vierzig Jahre. Jeder Leser wird die Schilderungen von Christa Wolf zu seinen Erinnerungen in Beziehung setzen. Christa Wolfs Notizen mobilisieren sein eigenes Gedächtnis. Er erinnert sich, wie sehr auch ihn Moshe Feldenkrais' "Bewusstheit durch Bewegung" (mehr) beeindruckte. Wenn er ein paar Jahre später liest, dass Christa Wolf "Feldenkrais-Exerzitien" macht, dann bewundert er die Kraft, mit der sie versucht, das für richtig Erkannte auch zu tun. Man kann, hat man ein bestimmtes Alter erreicht, "Ein Tag im Jahr" nicht lesen ohne sich dazu in Bezug zu setzen. Zu sehr ist es ein Buch über unser Leben. So anders das Leben der Christa Wolf auch gewesen sein mag als das ihrer Leser. Es sind dieselben Jahre und das übt einen eigenartigen Zauber aus. Identifikation und energische Markierung der Differenz lösen einander ab. Es gibt fast keine Seite, die den Leser ruhig lässt. Er ist zu sehr involviert. Woran Christa Wolf erinnert, beschämt den vergesslichen Leser. Was er bei ihr vermisst, wird dem Leser zu einer wichtigen Spur seiner eigenen Existenz.
Aber neben diesem die Lektüre bestimmenden Grundton gibt es die Themen, die den Leser gefangen nehmen. Da ist gleich vom ersten Jahr an - einen Monat nach dem Mauerbau- die schärfste Kritik an der DDR, die tiefgehende Enttäuschung an dem Staat, den sie gewollt und gestützt hat und die Reflexion darüber, dass sie doch bleiben muss. Um das Bessere zu ermöglichen, um dem weniger Schlimmen aufzuhelfen oder dann später nur noch, weil sie glaubt, es den Freunden, den Lesern schuldig zu sein: "denn hier werde ich gebraucht".
Die Grundspannung bleibt all die Jahre dieselbe. Sie wird nie gelöst. Sie wird gelebt, bedacht, beschrieben und erzählt. In immer neuen Gestalten. Vom "Geteilten Himmel" über "Kassandra" bis "Was bleibt?" 1979 notiert Christa Wolf: "Heute drückt mir dieses ganze Land auf meine Schultern, und nur manchmal werde ich frei davon und kann mich leichter aufrichten. Aber das wäre natürlich woanders genau so. - Nicht ganz, sagt er. Woanders würde es dich nichts angehen. - also eine Selbsttäuschung. - Ja. Aber woher eigentlich diese unauflösbare Identifizierung mit diesem Land. Warum wird man die nie los. - Ich sage, wenn sie es hätten loswerden können, wären Sarah Kirsch und Günter Kunert nicht gegangen. Das ist es eigentlich, wovor sie fliehen mussten. "Und ich werde mich immer an den Augenblick erinnern - Es war nach der Biermann-Ausbürgerung, es war in Ungarn, im Bus von Hevis zum Flughafen, als ich mir versprach: Wenn ich mich frei machen und weiter schreiben kann, ganz unabhängig, kann ich hier bleiben; wenn nicht, muss ich gehen."

Es sind Passagen wie diese, die einem die Augen öffnen für das, was Freiheit ist, wenn sie nur die des Urteils sein kann. Man kommt freilich auch auf den Gedanken, dass man vielleicht nicht alle Freiheiten gleichzeitig haben kann, nicht aus moralischen Gründen, sondern dass man aus ebenso unumstößlichen Gründen nicht gleichzeitig die Freiheit des Handelns wie die des Urteilens und die des Beschreibens haben kann, wie es unmöglich ist, gleichzeitig Ort und Impuls eines Teilchens zu messen. Die von unserer Alltagserfahrung vielfältig gestützte Vorstellung, der handelnde, der sich also in seiner Praxis erfahrende Mensch, sei der, der sich eine klarere Kenntnis seiner Welt und seiner Selbst anzueignen in der Lage wäre, gilt vielleicht nur auf einem bestimmten Niveau unserer Erkenntnis. Auf anderen Ebenen aber verhindert die Fähigkeit zu Handeln gerade die zur Erkenntnis. Auch dafür fehlt es ja nicht an Beispielen, auch allerjüngsten aus Wirtschaft und Politik.

Jeder Leser wird "Ein Tag im Jahr" immer wieder aus der Hand legen, um solchen Tagträumereien nachzuhängen. Wer davor erschrickt, der wird keine zehn Seiten des Buches lesen können, wer dagegen für diese Art von Droge auch nur ein wenig empfindlich ist, der wird dem Buch verfallen. "Ein Tag im Jahr" ist ein stark wirksames Halluzinogen. Wie alle derartigen Substanzen bewirkt es, dass wir die Welt, nachdem wir sie genossen haben, anders wahrnehmen. "Ein Tag im Jahr" lässt einen anders als viele andere Halluzinogene nicht vergessen, wie arm man ohne es war, und gerade diese Erinnerung beflügelt die Einbildungskraft und macht einem Mut, weiter zu denken, selber zu denken. So sehr die Autorin sich ausliefert und so sehr das Regime der schwarzen Galle  hinter jeder Zeile zu drohen scheint, so sehr immer wieder der Generalbass aller Melancholie - die Antriebslosigkeit - aufklingt, so sehr mobilisiert dieses Buch gerade dadurch die Lebenskräfte des Lesers, seinen kindlichen Assoziationsdrang, seine Einfallslust. "Ein Tag im Jahr" ist gerade durch seinen Ernst, durch die Nähe zum Schmerz ein heiteres, ein erheiterndes Buch. 
Und es gibt Sätze darin! Noch ganze Generationen werden ihre Notizbücher und - es wird sie sicher wieder einmal geben - Poesiealben damit füllen: "Das Plenum hat entschieden: Die Realität wird abgeschafft." Das hat Christa Wolf zum berühmt-berüchtigten 11. Plenum des ZK der SED 1965 notiert. Wer Herrn Weltekes langen Abschied vom Amt beobachtete, dem wurde klar, dass man dasselbe von einem Aufsichtsrat sagen kann. Institutionen, die uns helfen sollen beim Umgang mit der Welt, neigen dazu, uns den Blick auf sie zu verstellen. Mein Lieblingssatz aber lautet: "Politik machen, was soviel heißt wie: Gewalt verteilen." Soviel Carl Schmitt hat niemand bei Christa Wolf vermutet. Daneben gibt es Äußerungen, deren Zartheit so beschaffen ist, dass sie einem über Stunden weiterhilft: "Ich wusste auch, noch während ich auf meinem bequemen Kinosessel mir vornahm, klare, mutige Handlungen nicht zu meiden, sondern zu suchen, dass ich diesen Vorsatz nicht ausführen werde, dass ich nicht frei bin zu tun, was ich will, nicht einmal zu wollen, was ich will: das ist eigentlich 'Altern', das zu wissen und doch weiterzuleben und Freude und Genuss zu suchen und zu finden."

Kurzeindrücke von Fontanefan nach der Lektüre von Abschnitten aus unterschiedlichen Perioden
Periode 1993/94 nach dem Kalifornienaufenthalt: Ich staune weiter darüber, wie viel Christa Wolf noch über einen vergangenen Tag zu berichten weiß. Sie ist immerhin in dem Alter, wo andere Leute in Rente gehen oder in Pension (ich habe in dem Alter schon eine Zeit lang nicht mehr meinen Beruf ausgeübt) Und dann lese ich, dass sie bedauert, dass sie in der Zeit, wo sie diese Gedächtnisleistung aufbringt und auch noch sehr sprachbewusst (wenn auch nicht künstlerisch durchformt) das Erinnerte zu Papier bringt, dafür so viel Zeit brauche, ob es nicht verlorene Zeit sei. Dabei tut sie das schon seit über 30 Jahren und muss wissen, wie viel sie dem Vergessenwerden entrissen hat. 
Daneben: Es ist die Zeit, wo sie nach dem Kalifornienaufenthalt wieder in der deutschen Öffentlichkeit auftritt. So spricht sie offen darüber, dass sie schlecht damit zurecht gekommen sei, dass ihr Mann aus der Partei ausgeschlossen wurde, sie aber nicht. Sie habe es aber nicht fertiggebracht, von sich aus auszutreten, als die Versammlung sie nicht ausschloss: "Daß ich in dem Moment überrumpelt war, nicht geistesgegenwärtig genug, das zu tun, was ich da hätte tun müssen. [...] Heute früh fing ich an, meine Offenheit zu bereuen. Natürlich waren Pressevertreter mit im Raum, und natürlich wird man ein solches Bekenntnis gegen mich verwenden." (S.526)


Leseprobe:
 https://www.suhrkamp.de/buch/christa-wolf-ein-tag-im-jahr-t-9783518460078

Achtung! Der Text ist nur über das Link korrekt zu lesen.

"Dienstag, 27. September 1960 Halle/S., Amselweg

Als erstes beim Erwachen der Gedanke: Der Tag wird wieder anders verlaufen als geplant. Ich werde mit Tinka wegen ihres schlimmen Fußes zum Arzt müssen. Draußen klappen Türen. Die Kinder sind schon im Gange. Gerd schläft noch. Seine Stirn ist feucht, aber er hat kein Fieber mehr. Er scheint die Grippe überwunden zu haben. Im Kinderzimmer ist Leben. Tinka liest einer kleinen, dreckigen Puppe aus einem Bilderbuch vor: Die eine wollte sich seine Hände wärmen; die andere wollte sich seine Handschuh wärmen; die andere wollte Tee trinken. Aber keine Kohle gab’s. Dummheit! Sie wird morgen vier Jahre alt. Annette macht sich Sorgen, ob wir genug Kuchen backen werden. Sie rechnet mir vor, daß Tinka acht Kinder zum Kaffee eingeladen hat. Ich überwinde einen kleinen Schreck und schreibe einen Zettel für Annettes Lehrerin: Ich bitte, meine Tochter Annette morgen schon mittags nach Hause zu schicken. Sie soll mit ihrer kleinen Schwester Geburtstag feiern. Während ich Brote fertigmache, versuche ich mich zu erinnern, wie ich den Tag, ehe Tinka geboren wurde, vor vier Jahren verbracht habe. Immer wieder bestürzt es mich, wie schnell und wie vieles man vergißt, wenn man nicht alles aufschreibt. Andererseits: Alles festzuhalten wäre nicht zu verwirklichen: Man müßte aufhören zu leben. – (S.9) [...] Im Wartezimmer großes Palaver. Drei ältere Frauen hocken beieinander. Die eine, die schlesischen Dialekt spricht, hat sich gestern eine blaue Strickjacke gekauft, für hundertdreizehn Mark. Das Ereignis wird von allen Seiten beleuchtet. Gemeinsam schimpfen alle drei über den Preis. Eine jüngere Frau, die den dreien gegenüber sitzt, mischt sich endlich überlegenen Tons in die fachunkundigen Gespräche. Es kommt heraus, daß sie Textilverkäuferin und daß die Jacke gar nicht »Import« ist, wie man der Schlesierin beim Einkauf beteuert hatte. Sie ist entrüstet. Die Verkäuferin verbreitet sich über die Vor- und Nachteile von Wolle und Wolcrylon. Wolcrylon sei praktisch, sagt sie, aber ..." (S.13/14)

Textauszüge:

27.9.1960 bis  27.9.1961 Halle/S., Amselweg

27.9.1962 bis 27.9.1970 

1.10.1964 Kleinmachnow Förster-Funke-Allee S.70/1









































"Dienstag 27.September 1977

Wolf schreibt - möglichst aktuell, aber doch immer wieder auch erst nachträglich oder auf mehrere Tage verteilt. Am 27.9.77 beginnt sie am Tag selbst, Nach 4,5 Druckseiten schreibt sie "Es ist jetzt 9 Uhr 45." - Da hat sie inzwischen [ab S.217] berichtet, dass sie morgens "vielleicht gegen drei" raus musste. 

Buchtext:

"Ich schlief bald wieder ein. erwachte endgültig um sechs. Obwohl ich mir abends – getreu eines Ratschlages in einer Fernsehsendung über Träume – den Befehl gegeben hatte, bei einem wichtigen Traum aufzuwachen und ihn zu behalten, verflüchtigte sich der Morgentraum unaufhaltsam. In meinem noch halbdämmrigen Bewusstsein setzte ein Suchen und Tasten nach festen Gegenständen ein, an denen die Gedanken sich halten könnten. Ich versuchte mir diese Gegenstände zu merken, da mir nach einiger Zeit einfiel, dass heute "Tag des Jahres" ist. Jetzt schon fällt es mir schwer, sie im Gedächtnis zu reproduzieren.

Immer noch geht es, wenn ich unwillkürlich mich denken lasse, um die Bewältigung des Schocks dieses Jahres – Biermann-Ausbürgerung und die Folgen. Immer noch bin ich verstrickt in einen inneren Monolog über dieses Thema, bemüht um Rechtfertigung und Selbstrechtfertigung. Ich probte im Innern einen Dialog mit Übersetzern in Buckow, zu denen ich morgen fahren werde, minutenlang verfiel ich in dem Wunschtraum, Sarah käme zurück und wir richten ihr eine Wohnung ein. Beobachte auch seit Tagen an mir eine Verfestigung meines Willens zum Hiersein, was immer das nun für die Zukunft bedeuten mag. Überlegte eine Atmosphäre, eine Stimmung für den Mittelteil meiner Kleist-Günderode-Geschichte, der mir zu schwerfällig, noch ohne Inspiration zu sein scheint. Diese Art Inspirationen, die kleineren, handwerklichen, muss ich mir langwierig und mühsam [S.217/218] erarbeiten. Andere, "größere" Einfälle kommen öfter, scheinbar mühelos. (Eben, als Gerd sagt, in seinem Fürnberg-Nachwort habe der Verlag den Namen "Ernst Fischer" gestrichen, denke ich, man müsste einmal etwas schreiben unter dem Titel und Person. So in diesem Sommer eine Fülle von Plänen: vorgestern Nacht fiel mir ein Dialog zu dem Thema "Demontage" ein, den ich gestern Vormittag aufschrieb, der von Gerd sofort als zu platt erkannt und gar nicht erst zu Ende gelesen wurde.) Froh bin ich über den Einfall, der "Fiction" zu einem vielschichtigen Stoff gemacht hat, zu dem ich auch an diesem Morgen, nach sechs, neue Einfälle hatte, den ich nun "nur" noch ausarbeiten muss. Wie so oft denke ich über die Grenzen nach, an die unser an Tabus geschultes Denken ständig stößt. Ich sehe, da es immer hell dafür, die Rose bei der Schreibmaschine vom Bett aus, finde sie schön, freue mich. Gerd fragt, wie spät es sei. – Halb sieben.. (Er hat nie eine Uhr in Reichweite.) Gar nicht so warm hier drin, sagt er. – Ich gestehe, mein Hals ist etwas dick. Immer die erste raue Luft im Herbst legt sich mehr auf den Rachen. Er will dagegen sofort etwas unternehmen, weiß bloß nicht, was, trauert den guten Tabletten nach, die wir voriges Jahr in Tübingen hatten, als ich eine Angina niederkämpfen musste. Oder war es vor zwei Jahren in der Schweiz (mir ist es unglaublich, dass Tübingen erst ein Jahr hier sein soll. Aufregung und Trauer und Verzweiflung scheint die Zeit zu dehnen.
Gegen dreiviertelsieben stehe ich auf, lasse Badewasser ein, höre die Nachrichten vom Deutschlandfunk: Norwegen ist bereit, an einem Wirtschaftsembargo gegen Südafrika teilzunehmen. Israel will Vertreter der Palästinenser in der Genfer Verhandlungsdelegation dulden. [...] [S. 218] 

[S.222] Freitag 30.9. 77, wieder in Meteln. Inzwischen ist das Wetter umgeschlagen, gestern kam ich bei Regen wieder in Schwerin an, um die Erkenntnis reicher, dass ich so stabil nicht bin, wie ich vor drei Tagen noch dachte, dass Meldungen über bestimmte Versammlungen mich immer noch deprimieren können. Aber ich muss den Dienstag rekonstruieren, ohne auf Notizen zurückgreifen zu können. [...] mache Spiegeleier, wasche das Frühstücksgeschirr ab… Was ich dabei dachte, weiß ich nun nicht mehr, so wird jetzt ein veräußerlichtes Bild dieses Tages hier entstehen müssen. Es zeigt sich – was auch am Erzählen nachprüfbar –: die äußeren Geschehnisse, Handlungen bleiben schärfer in der Erinnerung als das, was an inneren Leben – oft nicht synchron damit - abläuft. Ebenso, man sagt es mir auch von "Kindheitsmuster" immer wieder: die fast konventionell erzählten Partien, die dort entwickelten Figuren prägen das Erinnerungsbild des Buches bei vielen Lesern, viel stärker jedenfalls als die Reflektionen. Die Frage einer jungen Polin vorgestern auf dem Übersetzerseminar: Man lebe so mit der Familie [S.223] Jordan mit, man identifiziere sich so mit ihr – könne man da nicht die sechs Millionen Toten in Polen darüber vergessen? Zielte auf dieses Phänomen, auf die Kraft des Erzählten, auf sein Durchsetzungsvermögen gegenüber dem nur Gedachten. Muß überlegt werden für künftige Arbeiten.

Ich wusch noch das Mittagsgeschirr – jetzt weiß ich es wieder: Ich war unwillig geworden, nahm das ewige Geschirrwaschen zum Vorwand für den Widerwillen, der sich in Wirklichkeit um eine unterdrückte Angst zusammenzog:; dieses Selbstbehauptungsprogramm, das ich mir fest vorgenommen habe, zeigt seine Kehrseite: ich gebe mir weniger gern die Rückfälle zu, die Angst, die durch einen lächerlichen kleinen Artikel ausgelöst wird, die Fantasien – selbstquälerische –, die sich sofort daran knüpfen und mich mutlos machen, gleich wieder den Wunsch nach Selbstzerstörung hervor treten lassen, den ich doch ernsthaft und systematisch niederkämpfen will. Mir ist klar, daß ich damit werde ich leben müssen – aber eben leben: Er darf mich nicht einschränken. Vielleicht sind manche meiner Mutproben diesem unbewußten Vorsatz zu danken, das ich mich von meiner Angst nicht einschränken lassen will. Dabei ungeheuer und unabweisbar nach diesem Jahr (das eigentlich 'zuviel' war, aber Gerd hat natürlich recht: man muss es anders nehmen: so ist diese Zeit, und so bin ich in ihr, und auch das muss ich nicht aushalten, sondern zur Kenntnis nehmen und durchleben…) Eine alles andere zurückdrängende Sehnsucht nach Ruhe. Nach einem Winkel, in dem man mich einfach leben ließe, ohne Verdächtigung, ohne Beschimpfungen, ohne den Zwang, mich andauernd vor anderen und vor mir verteidigen zu müssen dafür, dass ich so bin oder: so werde. Dies niederzuschreiben, kostet Überwindung wegen der bodenlose Naivität und Unerfüllbarkeit eines solchen Wunsches. Es gibt diesen Winkel nicht. Es gibt nur dieses Spannungsfeld (hier oder dort), in dem Leute wie ich immer zwischen den Fronten stehen, immer von beiden Seiten angegriffen sein müssen; da dann damit zu rechnen haben, dass sie sich, unter dieser Belastung, verändern: [S.223/ 224] zu empfindlich, auch ungerecht werden, also Angriffsfläche bieten, was dann die Munterkeit der Kampagne steigert. Es ist fast eine Materialfrage: wir müssen Nerven beschaffen sein, die das auf die Dauer aushalten. Manchmal wünsche ich mir einen Zusammenbruch, der mir vielleicht eine Pause von ein paar Wochen beschaffen könnte. Aber ich bin inzwischen so gefestigt, daß ich sehr lange am Rande meiner Kraft leben kann. Nicht mehr als ein bißchen Blutdruckanstieg manchmal, ein bisschen Herz- und Magenschmerzen, gehäufte Migräne: das war früher schlimmer, aus minderen Anlässen.
Neulich schrieb mir jemand, die Zahl meiner potentiellen Leser in diesem Land müsse immer mehr abnehmen, das sei gesetzmäßig. Das glaube ich auch.
Die Wunden sind noch schmerzempfindlich, und ich habe Angst auch vor diesem Schmerz, der an Grausamkeit alles überstieg, was ich vorher kannte. So, unter diesen Empfindungen, sitze ich dann stumm neben Gerd im Auto, er streicht mir manchmal übers Knie, dringt nicht in mich wie sonst oft, wenn er Charakter und Herkunft einer Stimmung sofort erfahren will, um dagegen zu polemisieren.
Die Luft ist kalt und klar. Als wir in Lübstorf abbiegen sagt Gerd: Hier ist es einem direkt schon heimatlich, findest du nicht. – Ich denke, wie kostbar ein Heimatgefühl ist und wie schwer man es aufgeben würde. Diesen doppelten Boden haben seit ein paar Monaten alle meine Gedanken. Ich denke, nie mehr würde ich mich woanders heimisch fühlen können, wenn ich hier wegginge. Und ich frage mich, wie hoch der Preis unter Umständen wäre, den ich für dieses Heimatgefühl zu zahlen bereit wäre. Ich frage mich, welchen Preis ich täglich unbewußt zahle, einen Preis in der Münze: Wegsehen, weghören, oder zumindest schweigen. Ich denke oft, ob die Rechnung dafür uns noch zu unseren Lebzeiten präsentiert wird. Wenn nicht, muss ich sie mir selber präsentieren. Ich weiß nicht, ob ich noch einmal die Kraft aufbringe zu der Schonungslosigkeit, die da gebraucht würde. Das ist vielleicht, [S.225] die Kernfrage für die Weiterarbeit, die ich manchmal einfach aufgeben möchte. [...]"


Zu Wolfs Bericht über den 27.9.94
Ich habe den Eindruck, dass Wolf sich anlässlich des ausführlichen Berichts manches von der Seele schreibt, was sie sonst nicht zu Papier bringen würde, wenn nicht der Auftrag, den sie vor 34 Jahren angenommen hat, ihr die Rechtfertigung böte, einiges relativ ausführlich unverarbeitet als rohen Erlebnis- und Reflexionsstoff  festzuhalten.

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