08 Dezember 2010

Moses und Homer

Peter Bamm denkt sich Moses und Homer als zwei historische Personen und den Auszug aus Ägypten als knapp 30 Jahre vor dem Trojanischen Krieg erfolgt. Gern hätte er Homers Kunst auf die Darstellung der Szene angewendet gesehen, wie Mose vom Schiff aus den Griechen die zehn Gebote verkündet.
Im Gefolge von Cyrus H. Gordon (Geschichtliche Grundlagen des Alten Testaments, 2. Aufl., Einsiedeln 1961) sieht er viele Ähnlichkeiten zwischen dem heroischen Zeitalter der Griechen und der Juden.
Da Moses nach dem Auszug aus Ägypten  ja 40 Jahre durch die Wüste zog, musste er sich beeilen, um auch noch rechtzeitig zum Ende des Krieges an die Dardanellen zu kommen ...
Schade, dass Bamm die Szene nicht an Stelle Homers geschildert hat.
Soll ich's versuchen?

Singe, o Muse, die göttlichen Taten des Irrläufers Mose,
wie er die Tafeln mit zehn der Gebote geschleppt durch die Wüste
wandernd nach Troja und dorten verkündend Gesetze den Griechen. ...

05 Dezember 2010

Alexander - Verwandler der Welt

Peter Bamms Frühe Stätten der Christenheit waren als Serie von Rundfunksendungen höchst erfolgreich, aber auch als Buch ein Bestseller.

Sein Alexander oder die Verwandlung der Welt ist über große Strecken ähnlich unterhaltsam und verweist zu Recht darauf, dass erst Alexander in den 13 Jahren seiner Regierungszeit die Welt bereitet hat, in der Christentum und Islam, die Nachfolger des Judentums, zu Weltreligionen werden konnten, in einem Kulturkreis, der dank Alexander vom Hellenismus geprägt war.

Der Leser, der über Wikipedia, diese informative Darstellung im Internet und Bamm hinausgehen möchte, greift am besten zu Robin Lane Fox Alexander der Große, einem Werk, das jetzt in einer gegenüber der Erstausgabe von 1973 stark verbesserten Version vorliegt. Freilich, auch wenn man all diese Darstellungen und selbst auch die antiken Alexanderhistoriker gelesen hat, ein klares Bild über die Persönlichkeit Alexanders wird er nicht entwickeln können. Zu sehr verdunkeln der Verdacht, dass er Mitwisser der Ermordung seines Vaters war, und Taten wie die Tötung von sechstausend und Versklavung von 30 000 Thebanern das Bild des genialen Feldherrn und Liebhabers der Wissenschaften. Zu gegensätzlich wurde er schon von seinen Zeitgenossen gesehen, von seinem Lehrer Aristoteles, seinem Gegner Demosthenes und all den anderen, deren Welt er verwandelte.

22 November 2010

Josef und Asenat

Sie hat alle Freier zurückgewiesen und als man ihr von Josef sprach, ihn als Hirten aus Kanaan als ihr nicht ebenbürtig bezeichnet. Dann sieht sie ihn aus der Ferne und ist von seiner Erscheinung so beeindruckt, dass sie ihn für einen Gottessohn hält. Josef aber weigert sich, sie zu küssen, weil sie falsche Götter anbete.
Sie wird jetzt nicht zornig über die Zurückweisung, sie klagt aber auch nicht über ihre unglückliche Liebe, sondern sie bereut, dass sie nicht schon früher den wahren Gott angebetet hat, hüllt sich in ein Trauergewand und büßt sieben Tage, bevor sie zu Josefs Gott betet, er möge sie als Glaubende annehmen.
Da kommt der Erzengel Gabriel zu ihr, isst mit ihr eine Honigwabe und verkündet ihr, dass Jsosef ewig ihr Bräutigam sein werde.

Textauszüge:

Wie Asenath den Joseph sah,
ward sie in ihrer Seele stark bewegt;
es ward ihr Herz erschüttert
und ihre Kniee wankten;
sie zitterte am ganzen Leib
und hatte große Angst,
2
Sie seufzt und spricht in ihrem Herzen:
Weh mir Unseligen!
Wohin soll ich, Unglückliche, jetzt fliehen?
Wo mich vor seinem Angesicht verbergen?
[503]
Wie wird doch Joseph, dieser Gottessohn, mich anschauen,
da ich so schlimm von ihm gesprochen?
3
Weh mir Unseligen!
Wo soll ich hingehen und mich bergen?
Er sieht ja jegliches Versteck,
weiß alles
und nichts Verborgenes entgehet ihm
des großen Lichtes wegen, das er in sich trägt.
4
Nun sei des Joseph Gott mir gnädig,
daß ich unwissentlich so Schlimmes wider ihn geredet!
Was soll ich tun, ich Elende?
(6. Kapitel)
Als Asenath den Joseph küssen wollte,
legt Joseph seine rechte Hand auf ihre Brust
und Joseph spricht:
Nicht ziemt es sich für einen gottesfürchtigen Mann,
der mit dem Munde den lebendigen Gott verherrlicht
und der geweihtes Lebensbrot genießt
und der Unsterblichkeit geweihten Trank einnimmt
und mit der Unverweslichkeit geweihtem Salböl wird gesalbt,
daß einen Kuß er einem fremden Weibe gebe,
das mit dem Munde tote, stumme Götzen preist,
von ihrem Tisch erwürgte Speis genießt,
von ihrem Opfertrank den Kelch des Truges nimmt
sich mit des Verderbens Salbe salbt.

und sich mit des Verderbens Salbe salbt.
(8. Kapitel)
Josef und Asenat bei Wikisource Kapitel 1-10

Asenat spricht:

Ich hab gesündigt, Herr,
ich hab vor dir gesündigt;
ich habe wissentlich wie auch unwissentlich gottlos gehandelt;
ich hab ja tote, stumme Götzenbilder angebetet.
Ich bin nicht würdig, meinen Mund, o Herr, zu dir zu öffnen,
ich arme Asenath,
die Tochter Pentephres, des Priesters,
Jungfrau und Königin,
ich, die ich einstmals stolz und übermütig,
durch meinen elterlichen Reichtum glücklicher als alle Menschen war,
ich, die ich nunmehr einsam und verwaist,
von allen Menschen ganz verlassen bin.
6
Zu dir, Herr, fliehe ich;
dir trag ich meine Bitte vor;
ich ruf zu dir:
7
Errette mich von den Verfolgern, Herr,
eh’ ich von ihnen werd ergriffen!
[...]
Errette, Herr, die Einsame und Schutzlose,
weil mich der Vater und die Mutter schon verleugneten:
Sie sprachen:
„Das ist nicht unsere Tochter Asenath“,
dieweil ich ihre Götter hab zerbrochen und vernichtet,
da ich sie gänzlich haßte.
13
Nun bin ich ganz verwaist und einsam:
ich habe keine andere Hoffnung mehr als dich, mein Herr,
und keine andere Zuflucht mehr als dein Erbarmen,
du Menschenfreund.
Nur du bist ja der Waisen Vater,
der Schützer der Verfolgten,
der Helfer der Bedrückten.
14
Erbarm dich meiner, Herr!
Schütz mich, die reine Jungfrau,
die so verwaist, verlassen ist!
Nur du, Herr, bist ein süßer, guter, milder Vater.
15
Wer wäre sonst ein Vater, Herr, so süß und gut, wie du?
Sieh: alle die Geschenke meines Vaters Pentephres,
die er mir zum Besitze gab,
sind zeitlich und vergänglich;
doch deines Erbes Gaben, Herr,
sind unvergänglich, ewiglich.

Der Erzengel Gabriel spricht:

Sei guten Muts,
du reine Jungfrau Asenath!
Heut gab dich Gott der Herr zur Braut dem Joseph;
er wird dein Bräutigam für ewig sein.
7
Auch heißt du nicht mehr Asenath von heute ab;
dein Name ist jetzt Zufluchtsstadt;
denn viele Völker fliehen zu dir
und rasten unter deinen Flügeln,
und viele Völker finden durch dich Schutz.
In deinen Mauern fühlen sich gesichert,
die sich dem höchsten Gott in Reue hingegeben;
denn Reue ist des Höchsten Tochter,
und sie erweicht den höchsten Gott
zu jeder Zeit für dich und alle anderen Bereuenden,
ist er ja doch der Reue Vater
und sie der Schlußstein und der Hort der Jungfrauen allen.
(15. Kapitel)
Josef und Asenat bei Wikisource Kapitel 11-19

20 November 2010

Der große Gatsby

Warum ging dieses Werk über die Hohlheit des amerikanischen Traums nicht an mich?
Die einzige Person, für die ich Sympathie entwickeln konnte, war der Erzähler. Ich nahm an, dass er mit seinen Bonds hereinfallen würde. Dann schien mit Gatsby, sein Nachbar mit Verbindungen zur Unterwelt, eine große Bedrohung für ihn zu sein. Als ich feststellte, dass dem Erzähler keine Gefahr drohte, war ich erleichtert und verlor das Interesse an der Story.

Irgendwie menschlich vom Konflikt zwischen Gatsby, Daisy und Tom Buchanan, ihrem Mann, berührt zu werden, hätte es einer Innensicht wenigstens einer dieser Personen bedurft oder doch wenigstens einer nachfühlbaren Beziehung des Erzählers zu den Hauptpersonen.
So aber lief die Handlung an mir vorbei. Keinen Augenblick konnten mich unglückliche Liebe, Scheitern von Hoffnungen, die Verwicklung in Schuld interessieren. All dies betraf nur Romanfiguren, zu denen ich keine Beziehung hatte.
Das änderte sich erst, als der Erzähler Mitleid füt Gatsby zu empfinden begann. Ohne das hätte auch ich, der Leser, den Erzähler nicht zum Begräbnis des großen Gatsby begleitet.

18 November 2010

Die Macht der Dreijährigen

Aus dem Zimmer, in welchem Nikolai schlief, ertönte sein gleichmäßiges Atmen, das seine Frau bis in die kleinsten Nuancen kannte. Während sie so sein Atmen hörte, glaubte sie seine glatte, schöne Stirn vor sich zu sehen und seinen Schnurrbart und sein ganzes Gesicht, das sie so oft in der Stille der Nacht, wenn er schlief, lange betrachtet hatte. Plötzlich regte sich Nikolai und räusperte sich. Und in demselben Augenblick rief der kleine Andrei durch die ein wenig geöffnete Tür: »Papachen, hier steht Mamachen!« Gräfin Marja wurde blaß vor Schreck und machte dem Knaben ein Zeichen, daß er still sein solle. Er schwieg, und dieses für Gräfin Marja furchtbare Schweigen dauerte ungefähr eine Minute. Sie wußte, wie unangenehm es ihrem Mann war, wenn man ihn weckte. Da ließ sich hinter der Tür ein neues Räuspern und eine Bewegung vernehmen, und Nikolais Stimme sagte in mißvergnügtem Ton:

»Nicht eine Minute Ruhe wird einem gegönnt. Bist du da, Marja? Warum hast du ihn denn hergebracht?«

»Ich war nur hergekommen, um nachzusehen ... Ich hatte nicht bemerkt, daß er ... Verzeih ...«

Nikolai hustete eine Weile und schwieg. Gräfin Marja ging von der Tür weg und führte ihr Söhnchen nach dem Kinderzimmer. Fünf Minuten darauf lief die kleine, schwarzäugige, dreijährige Natascha, des Vaters Liebling, die von ihrem Bruder gehört hatte, Papa schlafe und Mama sei im Sofazimmer, zu dem Vater hin, ohne daß die Mutter es merkte. Die schwarzäugige Kleine knarrte dreist mit der Tür, ging auf ihren dicken Beinchen mit energischen, kleinen Schritten zum Sofa hin, und nachdem sie die Lage des Vaters betrachtet hatte, der, ihr den Rücken zuwendend, schlief, hob sie sich auf den Zehen in die Höhe und küßte die Hand des Vaters, die unter seinem Kopf lag. Nikolai drehte sich um; sein Gesicht zeigte ein Lächeln liebevoller Zärtlichkeit.

»Natascha, Natascha!« flüsterte Gräfin Marja erschrocken von der Tür her. »Papachen will schlafen.«

»Nein, Mama, er will nicht schlafen«, antwortete die kleine Natascha im Ton fester Überzeugung. »Er lacht ja.«

Nikolai nahm die Beine vom Sofa herunter, richtete sich auf und nahm sein Töchterchen auf den Arm.

»Komm doch herein, Marja«, sagte er zu seiner Frau.

Gräfin Marja kam ins Zimmer und setzte sich neben ihren Mann.

»Ich hatte vorhin gar nicht bemerkt, daß Andrei hinter mir herlief«, sagte sie schüchtern. »Ich war nur so ohne eigentlichen Zweck hergekommen.«

Nikolai, der auf dem einen Arm seine Tochter hielt, blickte seine Frau an, und als er auf ihrem Gesicht einen Ausdruck von Schuldbewußtsein wahrnahm, umschlang er sie mit dem andern Arm und küßte ihn auf das Haar.

»Darf ich Mama küssen?« fragte er Natascha.

Natascha lächelte verschämt.

»Noch mal!« sagte sie mit befehlender Gebärde und zeigte auf die Stelle, wo Nikolai seine Frau geküßt hatte.

»Ich weiß nicht, weswegen du meinst, daß ich schlechter Laune wäre«, sagte Nikolai als Antwort auf die Frage, die, wie er wußte, seine Frau innerlich beschäftigte.

»Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie unglücklich und vereinsamt ich mir vorkomme, wenn du so bist. Ich denke immer ...«

»Marja, hört auf, das sind ja Torheiten. Schämen solltest du dich«, sagte er heiter.

(Tolstoi: Krieg und Frieden, Epilog)

12 November 2010

Gauck: Winter im Sommer - Frühling im Herbst

Joachim Gaucks Autobiographie erklärt das etwas herbe und allzu selbstgewisse Auftreten aus den Erfahrungen seines Vaters in einem sowjetischen Arbeitslager und der Weise, wie er diese Erfahrung an seine Kinder weitergegeben hat. Er gab Mut zum Widerstehen durch die Vermittlung des Bewusstseins, im Recht zu sein.

Besonders anrührend erscheint mir sein Brief an seine in die Bundesrepublik geflohenen Kinder vom 27.10.1989 (S.97)
Ihr Lieben im Westen!
Vor vielen Jahren hat Wolf Biermann in seinem wundervollen Lied "Ermutigung" die Zeile geschrieben: ... das Grün bricht aus den Zweigen / wir woll'n es allen zeigen ...
Ja, so ist das jetzt bei uns. Das Grün bricht aus den Zweigen.
Wir wissen noch nicht, ob ein Frost kommt und es vernichtet oder die Blüten dem Grün folgen werden oder gar die Frucht reifen und wachsen kann.
Noch mischen sich massiv Ängste, Befürcvhtungen, neue Hoffnungen und neuer Mut. Was wird sein? [...]
Übrigens: Ob ich wirklich im November nach West-Berlin fahre, weiß ich nicht. Hier ist es zur Zeit interessanter.
Rezensionen in Perlentaucher

Leseprobe

10 November 2010

Herders Cid

Traurend tief saß Don Diego,
Wohl war keiner je so traurig;
Gramvoll dacht er Tag' und Nächte
Nur an seines Hauses Schmach.

So beginnt Johann Gottfried Herders Versepos Der Cid auf der Basis von spanischen Romanzen zum Cid.




Don Diego hofft, dass einer seiner Söhne seine Schande rächt und greift zum - naheliegenden? - Mittel, dass er sie alle fesselt. Der jüngste Sohn, Rodrogo, freilich lässt sich das nicht gefallen und erklärt seinem Vater, er könne von Glück sagen, dass er ihn wegen dieses Versuchs, ihn zu fesseln, nicht getötet habe. Daraufhin ist der Vater begeistert und erkennt ihn als seinen einzig wahren Sohn an.
Rodrigo, der später Cid genannt wird, tötet den Feind des Vaters. Dessen Tochter fordert beim Köning Fernando eine Bestrafung Rodrigos, wird aber abgewiesen. Schließlich habe er schon in jugendlichem Alter fünf Maurenkönige besiegt.
Die Königstochter Uraka schwärmt von Rodrigo. Der freilich wirbt um die Tochter des Mannes, den er getötet hat, und deren Mutter aus Gram darüber gestorben ist. Diese Werbeszene liest sich bei Herder so:

Rodrigo:
In der stillen Mitternacht,
Wo nur Schmerz und Liebe wacht,
Nah ich mich hier,
Weinende Ximene,
– Trockne deine Träne!
Zu dir.

Ximene:
In der dunkeln Mitternacht,
Wo mein tiefster Schmerz erwacht,
Wer nahet mir?

Rodrigo:
Vielleicht belauscht uns hier
Ein uns feindselig Ohr;
Eröffne mir –

Ximene
Dem Ungenannten,
Dem Unbekannten
Eröffnet sich zu Mitternacht
Kein Tor.
Enthülle dich!
Wer bist du? Sprich!

Rodrigo:
Verwaisete Ximene,
Du kennest mich.

Ximene:
Rodrigo, ja, ich kenne dich,
Du Stifter meiner Tränen,
Der meinem Stamm sein edles Haupt,
Der meinen Vater mir geraubt

Rodrigo:
Die Ehre tats, nicht ich. Die Liebe wills versöhnen.

Ximene:
Entferne dich! Unheilbar ist mein Schmerz.

Rodrigo:
So schenk, o schenke mir dein Herz!
Ich will es heilen.

Ximene:
Wie? Zwischen dir und meinem Vater, ihm,
Mein Herz zu teilen? –

Rodrigo:
Unendlich ist der Liebe Macht.

Ximene:
Rodrigo, gute Nacht.

Wie es jetzt wohl weitergeht?    sieh hier


03 November 2010

Mit David Lodge ins Freie

Ein 15-jähriger Schüler aus den Londoner Vororten fährt aus dem von Lebensmittelrationierung geprägten England der Nachkriegszeit ins amerikanische Hauptquartier nach Heidelberg. Die Bahnfahrt will nicht enden, und als Leser will man auch endlich aus dem Zug heraus.
Und dann kommt er an bei der jungen Verwandten, die ihn eingeladen hat und aus Verlegenheit in einem Frauenhotel mit Heimcharakter unterbringt, wo er sich möglichst unsichtbar machen muss.
Tagsüber und bis spät in die Nacht kann er aber die Vergnügungen der amerikanischen Militärs und ihrer Entourage mitmachen.
Wie meist bei David Lodge gibt es also einen Zusammenstoß von Kulturen, an dem es viel zu lernen gibt, es gibt eine Menge Humor, wenn auch nicht ganz mit der späteren Leichtigkeit, dem Alter des Helden entsprechend gibt es viel Nachdenken über Sex und die entsprechenden Erfahrungen, und schließlich werden die Nazizeit und der Holocaust thematisiert.
Bei den vorhergehenden Schilderungen des Bombenkrieges ("Blitz") aus London und der Phasen der Evakuierung ist bei einem Autor, der 1935 geboren ist, nicht verwunderlich, dass er aus eigener Erfahrung schreibt. Aber auch die fast verrückte Geschichte vom Jungen im amerikanischen Hauptquartier ist autobiographisch. Nur die romanhaften Verwicklungen, die die Story im Hauptteil vorantreiben, sind es nicht.
So viele Schwierigkeiten der Roman Out of the Shelter auch gemacht hat (nach der für ihn höchst unbefriedigenden Ausgabe von 1970 gelang es ihm erst 1985 eine Fassung drucken zu lassen, die ihn befriedigte), der Roman ist bei aller wirklichkeitsnaher Schilderung der Problematik leicht zu lesen. Ich hatte Schwierigkeiten, ihn zwischendurch aus der Hand zu legen.

24 Oktober 2010

B. v. Weizsäcker: Die Unvollendete

Beatrice von Weizsäcker spricht mir in ihrem Buch über "Deutschland zwischen Einheit und Zweiheit" mit vielem aus dem Herzen. Dass die Bürgerrechtsbewegung so ganz ihren Einfluss auf die politische Entwicklung verlor, dass es ein Beitritt nach Artikel 23 des Grundgesetzes wurde und keine Einigung mit neuer Verfassung im Sinne des Artikels 146, beides steht der Vollendung der Einheit im Wege.
Beachtenswert ist auch ihr Hinweis auf die fortbestehenden Unterschiede in Virginia (USA), wo die Trennung des Staates während des Amerikanischen Bürgerkrieges noch heute nach weit über 100 Jahren spürbar ist. Es muss mehr für die innere Einigung getan werden.
Dankbar bin ich auch für die Erinnerung an manche beschämende Vorgänge. Wie mit Bürgerrechtlern, mit Schriftstellern und Büchern aus der ehemaligen DDR umgegangen wurde, war ein Skandal. Ihre Ausführungen - großenteils Zitate aus der damaligen Zeit - möchte ich hier wörtlich anführen:
Im Oktober 1990 folgte der Beitritt, und vorbei war es mit dem Interesse an östlichen Andersdenkenden. Das aufgestoßene Fenster war wieder zu, der aufrechte Gang gebrochen. [...] »Der Mut und die Lust, mitzusprechen in der verei­nigten Demokratie, ist denen im Osten rasch wieder aus­getrieben worden«, brachte es Gunter Hofmann von der Zeit später treffend auf den Punkt. Christa Wolf beispielsweise habe sich »von den Belehrungen aus dem Westen bis heute nicht recht erholt«. Christa Wolf war vielleicht die Bekannteste, der es so ging, aber bei weitem nicht die Einzige.
[...] Schriftsteller hatten keine Lektoren mehr und schon gar keine Kritiker. Selbst Autoren wie Ulrich Plenzdorf, der zur Zeit der Teilung im Westen noch als Kronzeuge des östlichen Aufbegehrens gefeiert worden war, resig­nierten bald. Plenzdorfs westdeutscher Verlag verlor das Interesse an ihm, später lehnte auch das Femsehen seine Drehbücher immer wieder ab. »Ich habe die Auseinan­dersetzung über die Deutungshoheit östlicher Schicksale glatt verloren«, sagte er 2003, wenige Jahre vor seinem Tod, verbittert in einem Interview.
Der gesamten DDR-Kunst sei vorgeworfen worden, sie habe dem Staat gedient und das Unrechtsregime un­terstützt, resümiert die Publizistin Dahn in ihrem Buch »Wehe dem Sieger!« - »ob Malerei, Literatur, Film oder Theater«. Wie weit die Verachtung alles Östlichen ging, beschreibt sie an einem Beispiel, das im Westen kaum bekannt ist. Eine halbe Million druckfrischer Bücher wurden »an der Peripherie der Bücherstadt Leipzig auf Müllkippen entsorgt« - Klassiker, Werke antifaschis­tischer Exilanten, wissenschaftliche Literatur, Bildbände, sogar Noten von Bach. Sie alle wurden »zu Abfall degra­diert«, nur weil sie in der DDR gedruckt worden waren. Es war der westdeutsche Pfarrer Martin Weskott, der dies entdeckte und einen Großteil der Bücher rettete." (S.48-50)
Wichtig ist in diesem Kontext Daniela Dahns Buch "Wehe dem Sieger!"

Doch die tiefere Spaltung unserer Gesellschaft liegt meiner Meinung nach bei dem Umgang mit den Gefahren des Klimawandels, mit den daher sich abzeichnenden Kriegsgefahren, bei der tiefen sozialen Ungerechtigkeit auf der Welt (Jean Ziegler spricht von der "kannibalistischen Weltordnung") und den ebenfalls schmerzhaften sozialen Ungerechtigkeiten in Deutschland.

Solange die Preise nicht die ökologische Wahrheit sagen und der internationale Austausch weiterhin primär der Plünderung der Naturschätze der wirtschaftlich schwächeren Länder dient, ist die Welt nicht in Ordnung.
Auch der Gegensatz zwischen den sich entvölkernden neuen Bundesländern und den einem naturzerstörenden Wachstum verschriebenen alten ist nicht primär ein ideologischer, sondern wesentlich durch die wirtschaftlichen Unterschiede mitbestimmt.

Der Talmud über die Schöpfung

Unsere Meister lehrten: Die vom Lehrhause Schammais sagten: Die Himmel wurden zuerst erschaffen, und daraufhin die Erde erschaffen, denn es heißt [1. Mose 1,1] Im Anfang erschuf Gott die Himmel und die Erde. Und die vom Lehrhause Hillels sagten: Die Erde wurde zuerst erschaffen und daraufhin die Himmel, denn es heißt [1. Mose 2,4]: Am Tage, da der Herr, Gott, Erde und Himmel machte.
Die vom Lehrhause Hillels sagten zu denen vom Lehrhause Schammais: Nach euren Worten baut ein Mensch den Oberstock, und daraufhin baut er das Haus, denn es heißt [Amos 9,6]: Der in den Himmeln sein Obergemach baut und sein Gewölbe über die Erde gründet. Die vom Lehrhause Schammais sagen zu denen vom Lehrhause Hillels: Nach euren Worten macht ein Mensch den Fußschemel, und daraufhin macht er den Stuhl, denn es heißt [Jesaja 66,1]: So spricht der Herr: Die Himmel sind mein Stuhl und die Erde meiner Füße Schemel.
Die Weisen aber sagen: Diese und jene wurden gemeinsam erschaffen, denn es heißt [Jesaja 48,13]: Hat doch meine Hand die Erde gegründet und meine Rechte die Himmel ausgespannt. Ich rufe ihnen zu - zusammen stehen sie da.
Der Talmud ist in seinem Wesen Auslegung der Heiligen Schrift, das heißt der hebräischen Bibel, der Tanach. Obwohl er die Schrift primär als Weisung für das tägliche Leben auslegt, denn der fromme Jude will sein ganzes Leben nach den Weisungen der Schrift leben, so finden sich doch auch Passagen zu fast allen Themen, die in der hebräischen Bibel, dem Alten Testament, behandelt werden.
Im Talmud ist die jahrhundertelange Diskussion zur Bibelauslegung festgehalten, die der schriftlichen Niederlegung dieser Diskussion vorausging. Deshalb enthält er nicht nur den bei Niederlegung des Textes neusten Wissensstand, sondern in verkürzter Form diese jahrhundertelange Diskussion. So versteht er sich als Ausgangspunkt für die Fortsetzung dieses Lehrgesprächs in der Gegenwart.
Wesentlich ist dabei immer der Dialogcharakter und dass Meinungen nicht unterschlagen werden, auch wenn sie gegenwärtig von der Mehrheit als falsch angesehen werden [Zunächst denken die Verfasser dabei an ihre Gegenwart zum Zeitpunkt der Verschriftlichung, im Grundsatz ist aber die jeweilige zukünftige Gegenwart mitgedacht.] Man kann dieses Gespräch über die Jahrtausende also durchaus mit dem herrschaftsfreien Diskurs vergleichen, den Habermas sich als die Voraussetzung für das Entstehen menschlicher Wahrheit denkt.
Weiteres Textbeispiel zum Talmud
Internetseite zum Talmud mit Erläuterungen und Textbeispielen
Günter Stemberger: Der Talmud. Einführung. Texte, Erläuterungen, Beck München, 4. Aufl. 2008
Heinrich Graetz: Geschichte der Juden, Talmudische Zeit. 1853-1875; Zeno zum Talmud

17 Oktober 2010

Krankheitsbild - ex ovo

Velázquez und Rudolf Virchow mit der Zwergin Maria Barbola unter der Flagge Krankheitsbild zu vereinen, ihnen dann Flaubert und Charcot hinzuzufügen, das gelingt Peter Bamm, alias Curt Emmrich, in seinen medizinischen Essays "Ex Ovo" bewundernswert gebildet und geistreich. Hat Velázquez doch schon das Krankheitsbild Myxödem am Beispiel der Barbola auf seinem Bild Las Meninas bis ins kleinste Symtom hin dargestellt, lange bevor irgend jemand wusste, dass es Hormone, geschweige denn Hormonstörungen gibt.
Da Velásquez "seine Entdeckung nicht benannte, konnte sie nicht einmal zur Aufforderung für die Forschung werden [...] die Idee war da. Der Name nicht. Habent nomina aliquid numinosi." So fasst Peter Bamm sentenzenhaft den Unterschied von Maler und Pathologen zusammen, immer wieder seine geliebte klassische Bildung hervorkehrend, statt zu schreiben: "Namen haben etwas wie göttliche Kraft."
Kurz darauf bringt Bamm Charcot und Voltaire in der Sentenz zusammen: "Erst nachdem man aufgehört hatte, Hexen zu verbrennen, konnte man anfangen, sie zu behandeln. Die Voraussetzung für die Arbeit Charcots war nicht das Mikroskop, sondern Voltaire."
Dass Bamm dabei nebenbei für "Hexen" das Krankheitsbild Hysterie diagnostiziert, macht das Irritierend-Faszinierende solcher Sätze aus.

07 Oktober 2010

Chinesen auf dem Zwischendeck oder Stuttgart 21?

Es ist überhaupt ein wildes Volk, täglich kommen Reibereien zwischen ihnen und einem Schiffsunter- oder -oberoffizier vor, und nur die riesigen Dampfschlauchspritzen, die gegen die beiden Eingänge vom Zwischendeck zum Ober- und Quaterdeck gerichtet sind, und aus denen bei aufkommendem Aufruhr die Bande wie Ratten durch heiße Dämpfe abgesengt wird, gewähren Sicherheit.
(G. Michaelis: Für Staat und Volk. Eine Lebensgeschichte. Berlin 1922, S.87)


Georg Michaelis über die 1180 Chinesen auf dem Zwischendeck der "City of Peking", in der er zu 48 Erste-Kajüte-Passagieren gehört, die "fast soviel Raum wie 150 auf der 'Werra' haben" [dem Schiff, mit dem er von Deutschland nach Nordamerika fuhr].
Er ist feinfühlig, ein sehr bewusster Christ, sympathisch, späterer Reichskanzler. Seine Bemerkungen stammen aus seinem Reisetagebuch von 1889.

30 September 2010

Über die Liebe

Isabel Allende: Paula
"Auf einen Ehrenplatz mitten zwischen einer unmöglichen Flora und einer verrückten Fauna malte ich die Silhouette eines Jungen mit dem Rücken zum Beschauer, als be­trachte er das Wandbild. Das war das Porträt von Marc Chagall, in den ich mich verliebt hatte, wie nur Kin­der sich verlieben können."
" Ich glaube, sie sind ein bißchen verliebt in dei­nen Mann, so viel Liebe rührt sie; sie sehen ihn über dein Bett gebeugt, wie er flüsternd mit dir spricht, als könntest du ihn hören, und sie wünschen, selbst so geliebt zu werden."
"Ich habe nie wieder sinnlichere Ohren gesehen. Es war Liebe auf den ersten Blick, ich verliebte mich in seine Ohren, ehe ich sein Gesicht gesehen hatte, und mit solchem Ungestüm, daß in den folgenden Monaten mein Appetit verlorenging und ich vom vielen Fasten und Seufzen anämisch wurde. Diese romantische Verzückung war gänzlich frei von sexuellen Vorstellungen; das, was mir in meiner Kindheit in einem Pinienwald am Meer von einem Fischer mit heißen Händen geschehen war, verband ich nicht mit den unverbildeten Gefühlen, die mir diese außergewöhnlichen Anhängsel einflößten. Ich war von einer keuschen Verliebtheit heimgesucht, die umso verheerender war, als sie zwei Jahre andauerte. [...] Es war eine zum Scheitern bestimmte Romanze, der Gegenstand meiner Leidenschaft behandelte mich immer mit einer solchen Gleichgültigkeit, daß ich schließlich dachte, ich würde unsichtbar in seiner Gegenwart. Kurz bevor wir Bolivien endgültig verließen, brach in der Pause eine Prügelei aus, und eh' ich mich versah, war ich plötzlich mit meinem Angebeteten im Clinch, und wir rollten unter Schlägen, Haareziehen und Fußtritten durch den Staub. Er war viel größer als ich, und obwohl ich alles anbrachte, was ich mit meinem Großvater an den Catcherabenden im Teatro Caupolicán gelernt hatte, blieb ich doch verbleut und mit Nasenbluten zurück, aber in einem Augenblick kam eins seiner Ohren in Reichweite meiner Zähne, und ich konnte ihm einen leidenschaftlichen Biß verpassen. Wochenlang wandelte ich auf Wolken. Es ist die erotischste Begegnung meines Lebens, eine Mischung aus intensiver Freude und dem nicht weniger scharfen Schmerz der Prügel."
"Und jedesmal nach befriedigter Leidenschaft und erneuerter Liebe schlafen wir eng umschlungen ein, ohne zu fragen, wo der eine anfängt und der andere aufhört, wem diese Hände oder jene Beine gehören, in so vollkommener Gemeinsamkeit, daß wir uns in den Träumen begegnen und am Tag darauf nicht wissen, wer von wem geträumt hat [...]
Mir hat er errötend gestanden, daß Elvira das Licht seines Lebens ist, ohne sie ist ihm nichts mehr wichtig. Nimmst du wahr, was dich umgibt, Paula? [...]
vor allem rufe ich die Granny an, deine Großmutter mit den durchsichtigen Augen, die vor Leid starb, als sie sich von dir trennen mußte [...]
All das habe ich verloren, und meine Tochter ging von mir, aber in Wirklichkeit ist mir das Wesentliche geblieben: die Liebe. In letzter Instanz ist das einzige, was ich habe, die Liebe, die ich dir gebe."

29 September 2010

Es gibt keine zwei Seelen in der Brust, sondern nur eine, die in sich unschlüssig ist. - Wider die Manichäer

Augustinus wehrt sich gegen die manichäische Vorstellung, dass in jedem Menschen stets das Böse und das Gute miteinander kämpfen und vertritt die Position, dass auch eine einzelne Seele unsicher darüber sein kann, wie sie sich entscheiden soll.

IX.
[190] Woher und warum diese Unnatürlichkeit? Laß leuchten dein Erbarmen, denn fragen will ich, ob die verborgenen Strafgerichte der Menschen und die dunklen Bedrängnisse der Söhne Adams mir Antwort geben können. Woher diese Unnatur und warum? Die Seele gebeut dem Körper, und sogleich wird ihr gehorcht; die Seele befiehlt sich selbst und ihr wird widerstanden. Die Seele befiehlt, daß die Hand sich bewegen soll, und so leicht geschieht es, daß Befehl und Folge kaum sich unterscheiden laßen. Die Seele befiehlt, daß die Seele es wollen soll, und keine andere ist's und thut es doch nicht. Woher diese Unnatur und warum? Die Seele befiehlt, daß sie es wolle, sie würde es nicht befehlen, wenn sie es nicht wollte, und doch geschieht nicht, was sie befiehlt. Aber sie will es nicht mit ganzer Kraft, daher befiehlt sie es nicht mit ihr, denn nur so weit befiehlt sie es, als sie es nicht will. Der Wille befiehlt, weil er es will und kein anderer; befiehlt er nicht mit ganzer Kraft, so hat er nicht, da er zu befehlen hätte; und befähle er mit ganzer Kraft, so brauchte er nicht zu befehlen, daß etwas geschehe, denn schon wäre es geschehen. So ist dies Schwanken zwischen Wollen und nicht Wollen nichts Unnatürliches, sondern eine Krankheit der Seele, weil sie, von der Gewohnheit belastet, sich nicht ganz an der Wahrheit Hand erheben kann. Und zweierlei Willen hat sie, weil der deine Wille nicht ihr ganzer Wille ist, und der eine nur das hat, was dem andern fehlt.


X.
Vergehen müßen vor deinem Angesicht, o Gott, als die da Eitles reden und Herzen verführen, welche, da sie zwei [191] Willen in ihres Herzen Rath vernehmen, zwei geistige Naturen, eine gute und eine böse, und zweierlei Geist behaupten. Derselbe Mensch ist böse, so lange sein Trachten böse ist, und gut, wenn er nach deiner Wahrheit trachtet, wie dein Apostel sagt: »ihr waret einst Finsterniß, und seid nun Licht im Herrn geworden.« (Eph. 5, 8) – Wollen sie Licht werden in sich und nicht in Gott, da sie wähnen, die natürliche Seele sei das, was Gott ist, so werden sie nur dichtere Finsternis, weil sie in gräulichem Stolz nur weiter weg von dir wandten, von dir, dem wahren Licht, das jeden Menschen erleuchtet, der in diese Welt kommt. Merket auf eure Rede und erröthet über sie, erhebet euch zu ihm, und ihr werdet Licht und euer Antlitz wird nimmer erröthen. – Da ich mit mir zu Rathe gieng, ob ich nun dienen wollte dem Herrn meinem Gott, wie ich so lange schon mir vorgenommen, so war ich es, der da wollte, ich, der da nicht wollte, ich, ich war es. Nicht wollte ich völlig, noch wollte ich völlig nicht; so stritt ich mit mir selbst und wurde von mir selbst verwirrt; und ob ich selbst auch diese Verwirrung nicht wollte, so kann sie doch nicht aus einem fremden Gemüthe, sie war die Strafe des meinen. Und so habe nicht ich sie versucht, sondern die Sünde, die in mir wohnte; vom ersten Sündenfalle her, denen ich war Adams Sohn. Wenn so viele einander entgegengesetzte Naturen sind, als sich Willen widersprechen, so sind nicht nur zwei, sondern mehrere. Wenn einer Anstand nimmt, ob er in den Conventikel der Manichäer oder ins Theater gehen soll, so schreien die Manichäer: da siehst du die zwei Naturen! die eine ist gut und führt dahin, die andere ist böse und führt dorthin; denn woher jenes Zaudern der beiden einander widersprechenden Willensrichtungen? In meinen Augen sind die beide schlecht, sowohl diejenige, welche in den Conventikel, als diejenige, die ins Theater will. Aber das [192] glaube sie nicht, wenn man den Willen nicht gut nennt, der zu ihnen führt. Und wie nun, wenn Einer der Unsern unter dem Streit seiner beiden Willensrichtungen mit sich beräth, ob er ins Theater gehe oder in unsere Kirche, werden nicht auch diejenigen, die ihm rathen sollen, in Ungewißheit schwanken? Entweder werden sie bekennen, was sie nicht wollen, es werde mit vollem Willen in unsere Kirche gegangen, wie es diejenigen thun, welche von ihren Gnadengütern hingerißen sich an sie gebunden fühlen, oder sie werden glauben, in einem und demselben Menschen seien zwei böse Naturen und zwei böse Gemüther mit einander im Streit, und es wird nicht wahr sein, was sie zu behaupten pflegen, daß eine Natur gut, die andere böse sei; oder sie werden sich zur Wahrheit bekehren und anerkennen, wenn Jemand mit sich zu Rathe gehe, so sei es nur eine und dieselbe Seele, welche in verschiedenen Willensrichtungen sich umtreibe. So sollen sie also nicht behaupten, wenn sie zwei einander widersprechende Willen in sich spüren, zwei verschiedene Gemüther, ein gutes und ein böses, streiten miteinander, weil sie aus zwei entgegengesetzten Grundlagen kommen. Denn du, wahrhaftiger Gott, verwirrst die und überweisest sie gleichsam an ihre beiden bösen Willen. Jemand geht mit sich zu Rathe, ob er in Menschen mit Gift oder mit dem Schwerte morden soll; ob er in dieses oder in jenes Landgut einbreche, da er nicht in beide zugleich kann; ob er in verschwenderischen Lüsten lebe oder sein Geld habsüchtig zusammenhäufe; ob er auf die Rennbahn oder in's Schauspielhaus gehe, wenn beide an Einem Tage offen sind; ob er noch zu diesen Beiden als Drittes einen gelegenen Hausdiebstahl, als Viertes einen Ehebruch begebe, der sich ihm eben darbeut; wünscht er das Alles nicht mit gleicher böser Lust, wenn er auch nicht Eines nach dem Andern üben kann, weil sie alle auf Einen Augenblick zusammenkommen? Sie zerreißen [193] sich das Herz mit dem einander widerstrebenden vier Willensrichtungen oder mit mehreren, da so vielerlei begehrt werden kann, und doch behaupten sie keine so große Zahl von Grundlagen der Seele, sondern nur ihrer zwei. Dasselbe findet statt bei guten Willen: frage ich, was besser sei, sich an Paulus, am Evangelium oder an den Psalmen mit Lesen zu erquicken, so wird man wohl von jedem sagen, es sei gut. Wie nun, wenn sie alle zu gleicher Zeit in gleichem Grad uns erfreuen? Bringen da nicht verschiedene Willensansichten das Herz mit sich selbst in Zwiespalt, wenn wir berathen, was wir zuerst ergreifen sollen? Alle sind gut und streiten doch unter sich, bis das Eine erwählt wird, an das der ganze, eine Wille komme, der zuvor in mehrere Willen getheilt war. – Wenn nun die Ewigkeit das Höhere, die Erdenlust das Niedere in uns reizt, so trifft der Reiz dieselbe Seele, die nur nicht mit ganzem, vollem Willen Dieses oder Jenes will und so zerrißen wird in schwerem Druck, das Höhere vorziehend, dessen Wahrheit sie erkannte und noch das Niedere nicht laßend, mit dem sie so vertraut ist.
Augustinus: Bekenntnisse, 8. Buch, Kapitel 9 u. 10, S.190-193

28 September 2010

Nimm und Lies!

XII.
Als sich aber aus geheimnisvollen Tiefe die ernste Betrachtung sammelte und mein Herz mein ganzes Elend schauen ließ, brach es aus in mir, wie ein nie erfahrener Sturm und löste sich auf in einem Strom von Thränen. Ihn ganz zu ergießen, mit allen seinen Lauten, erhob ich mich von des Alypius Seite; denn passender schien mir die Einsamkeit für solche Thränen. Ich entfernte mich so weit, daß mir seine Gegenwart nicht mehr lästig werden konnte. Staunend blieb ich zurück, schon zuvor bemerkend, daß zurückgehaltene Thränen meine Stimme [196] dämpften. Ich warf mich unter einen Feigenbaum nieder, da ließ ich meinen Thränen den Lauf, und ein dir wohlgefällig Opfer ergoßen sich die Quellen meiner Augen. Und Vieles rief ich zu dir, nicht mit diesen Worten, aber dieses Sinnes: »Und du, Herr, wie so lange! Wie lange, Herr, willst du zürnen! Sei nicht eingedenk unserer vorigen Missethat!« – Denn von ihr fühlte ich mich gehalten, und entsandte meine Klagelaute: »Wie lange? Wie lange? Morgen ach und wieder Morgen! Warum nicht jetzt? Warum in dieser Stunde nicht das Ende meiner Schmach?« – So reif ich und weinte bitterlich in der Zerknirschung meines Herzens. Und siehe, da höre ich eine Stimme vom benachbarten Hause her; sie klang wie die Stimme eines singenden Knaben oder Mägdleins, und wiederholte oft die Worte: »Nimm und lies! Nimm und lies!« Ich entfärbte mich und sann nach, ob etwa Kinder in einem ihren Spiele diese Worte zu singen pflegten, aber ich erinnerte mich nicht, dergleichen je gehört zu haben. Da drängte ich zurück meine Thränen, sprang auf, und konnte diese Stimme mir nur erklären als ein Geheiß von Gott, sein Buch zu öffnen, und zu lesen, auf was ich träfe, sogleich beim ersten Aufrollen der Schrift. – Denn ich hatte von Antonius gehört, er sei einst in eine Kirche getreten, als eben das evangelische Wort gelesen wurde: »Gehe hin, verkaufe Alles, was du hast, und gib's den Armen, so wirst du einen Schatz im Himmel haben, und komm und folge mir nach.« (Matth. 19, 21) – Und er habe das Wort angewendet, als wäre es zu ihm gesagt, und habe es, als eine Gottesstimme, sogleich befolgt. – Eilig gehe ich hin, wo Alypius sitzt und wo ich die Briefe des Paulus zurückgelaßen. Ich ergreife das Buch, öffne es, und lese für mich den Abschnitt, der mir zuerst in die Augen fällt: – »Nicht in Gelagen und Trunkenheit, nicht in Kammern und Unzucht, nicht in Hader und Neid; [197] sonder ziehet an den Herrn Jesus Christ und wartet des Leibes nicht zur Stillung fleischlicher Lüste.« (Röm. 13, 13) Nicht las ich weiter, mehr bedurfte ich nicht. Ich hatte gelesen und das Licht des Friedens kam über mein Herz, und alle Zweifelsnächte flohen. Ich bezeichnete die Stelle mit dem Finger, oder irgend einem andern Zeichen, schloß das Buch und erzählte mit ruhiger Miene dem Alypius, was mir geschehen. Er aber zeigte, was in ihm, mir verborgen, vorgieng, zeigte es damit, daß er zu sehen wünschte, was ich gelesen, und als ich's ihm aufschlug, las er das Folgende: »den Schwachen im Glauben nehmet auf,« (Röm. 14, 1.) es auf sich deutend und mir eröffnend. Diese Worte stärkten ihn; friedenvoll, ohne von Zweifeln bestürmt, zu werden, vereinigte er sich mit mir in gleichem Entschluß, seinen Sitten so gemäß, in welchen er stets viel reiner war, als ich. Nun gieng es zu Mutter; wir erzählen ihr, was geschehen, sie jauchzt und frohlockt, und preist dich, der überschwänglich mehr thun kann, als wir bitten und verstehen. Sie sah ja, wie sie weit mehr von dir für mich erhalten, als sie gebeten hatte im Flehen ihrer Seufzer und Thränen; denn du hattest mich zu dir bekehrt, keiner Ehe Band, keine weltliche Hoffnung suchte ich mehr, fest stand ich auf der Regel des Glaubens, auf welcher du mich vor vielen Jahren ihr im Traumgesichte gezeigt hattest. Du wandeltest ihre Trauer in Freude, thatest es reichlicher, als sie je gehofft, und holdseliger und reiner, als sie es erwartet, da sie durch mich auf Enkel gehofft.
Augustinus: Bekenntnisse, 8. Buch, 12. Kapitel, S.193-197

Ambrosius von Mailend

Ambrosius von Mailand hatte noch nicht Theologie studiert, ja, er war noch nicht einmal getauft, als er 374 zum Bischof von Mailand gewählt wurde.
Als Politiker traute man ihm zu, dass er zwischen Trinitarien und Arianern vermitteln könnte. Er nahm aber bald eine trinitarische Position ein. Er erlangte bald eine so starke Stellung, dass er zwei Kaiser, Gratian und Theodosius I. in kirchlichen Fragen zum Einlenken und sogar zum Nachgeben bringen konnte.


So kam ich nach Mailand zu dem Bischof Ambrosius, welcher der Erde als einer der Besten bekannt war, zu deinem frommen Verehrer, dessen Predigten damals eifrig das Beste deines Waizens, dein erfreuendes Oel und die nüchterne Trunkenheit deines Weines dem Volke boten. Zu ihm aber wurde ich, ohne daß ich es wußte, von dir geführt, damit ich von ihm, wohl darum wißend, zu dir geführt würde. Väterlich nahm mich dieser Gottesmann auf und freute sich mit Hirtenliebe meiner Uebersiedlung nach Mailand; und ich lernte ihn lieben, anfänglich zwar nicht als einen Lehrer der Wahrheit, weil ich verzweifelte, das Heil in der Kirche zu finden, sondern nur als einen gegen mich gütigen Mann. Eifrig hörte ich seine öffentlichen Vorträge, wohl nicht in der Absicht, die ich schuldig war, sondern nur, um zu prüfen, ob seine Beredtsamkeit ihren Ruf erreiche, ob sie herrlicher oder dürftiger ströme, als man von ihr pries. Von seinen Worten wurde meine Aufmerksamkeit gefeßelt, um die Gegenstände aber, die sie vortrugen, kümmerte ich mich nicht, und war als Verächter gegenwärtig. Mich ergötzte die Annehmlichkeit seines Vortrags, der gründlicher, aber weniger erheiternd und einschmeichelnd war, als der des Faustus, so weit er die Worte an sich betraf, denn die Gegenstände selbst litten keine Vergleichung; jener irrte ja durch die manichäische Trugfelder, dieser aber lehrte auf die heilsamste Weise das Heil. Doch das ist fern von den Sündern, deren einer ich damals mich einfand, und dennoch naht' ich ihm allmählich und unvermerkt.
Denn ob es mir auch nicht darum zu thun war, zu lernen, was er sprach, sondern nur zu hören, wie er sprach, so kamen doch in mein Gemüth mit den Worten die ich liebte, zugleich auch die Dinge selbst; die ich geringschätze; ich konnte sie nicht davon losreißen, obgleich noch voll eitlen Kummers daran verzweifeln, daß dem Menschen irgend ein Pfad zu dir sich aufthue. Während ich nun das Herz aufschloß, um zu erfaßen, was er so beredt sprach, gieng zugleich das auch ein, was er so wahr gesprochen hatte, aber nur allmählich. Zuerst kam mir vor, es sei möglich, auch diese Dinge zu vertheidigen und es sei nicht zwecklos, den kirchlichen Glauben zu behaupten, der mir bisher unhaltbar gegen die Angriffe der Manichäer geschienen. Mit Eifer hörte ich dieses und jenes erklären, nicht selten wurde mir ein Räthsel in den Schriften des alten Bundes gelöst, während ich es buchstäblich nehmend, den Geist verlor. Die meisten Stellen der Schrift wurden mir ausgelegt und schon tadelte ich meine Rathlosigkeit, in der ich meinte, Gesetz und Propheten vermöchten sich gegen die Verwünschungen und Spötereien nicht zu halten, welche die Manichäer gegen sie ausstößen. Doch war ich da durch noch nicht der Ansicht, der kirchliche Glaubensweg müße schon darum betreten werden, weil er gelehrte Vertheidiger habe, die beredt und verständig die Einwürfe zurückweisen, und ich meinte, das, zu dem ich mich bekannte, müße deßwegen noch nicht verdammt werden, weil einige Theile seiner Vertheidigung zu Nichte gemacht wurden. So schien mir der Kirchenglaube nicht mehr überwunden, aber er konnte mir noch nicht als Sieger auftreten: Nun aber strengte ich mich nach bestimmten Beweisen an, mit welchen ich die Manichäer der Falschheit überweisen könnte, und hätte ich ein geistiges Wesen zu [112] denken vermocht, so wären alle diese Trugwerke entschleiert und aus meiner Seele geworfen worden; doch ich vermochte es nicht. Nun urtheilte ich nach sorgfältiger Erwägung, die meisten Philosophen haben über die Körperwelt und über jedes Wesen, das sich der sinnlichen Betrachtung darbeut, richtiger gedacht. Nach der Weise, die man den Akademikern zuschrieb, zweifelte ich an Allem und wurde zwischen Allem unentschieden umhergeworfen, doch entschloß ich mich endlich, die Manichäer zu verlassen, denn ich mochte in meiner Zweifelzeit nicht mehr in einer Sekte bleiben, der ich bereits einige Philosophen vorzog. Aber ich wollte auch diesen meiner Seele Heilung nicht anvertrauen, weil sie ohne den heilsamen Namen Christi waren. Und so beschloß ich, so lange in der mir von den Eltern empfohlenen Kirche als Katechumen zu bleiben, bis ein helleres Licht meine Schritte lenke.
Augustinus: Bekenntnisse 5. Buch, S.110-112

26 September 2010

Migration nach Deutschland

Isolde Heyne schildert in "Ankunft im Alltag", wie aufreibend aus der DDR kommend Einreise und Integration in die bundesrepublikanische Gesellschaft vor dem Mauerfall für eine Familie sein konnte, die legal aus- und einreiste.
Es wird dramatisiert, aber weitgehend realistisch geschildert, welche Probleme sich selbst bei bestem Willen von Einreisenden wie ihren neuen Kontakten ergeben konnten. Man kann besonders mit den Eltern und mit ihrer Tochter im Teenageralter mitfühlen, aus deren Sicht erzählt wird.
Doch während man noch mitfühlt, stellt sich auch schon die Frage: Und wie geht es illegal Einreisenden, die die Sprache nicht beherrschen und die keine Arbeitserlaubnis bekommen? Und man merkt, weshalb einem bei Berichten über diese Schicksale die Einfühlung oft so schwer fällt.

23 September 2010

Theaterleidenschaft oder Mitgefühl?

[44] Auch die Spiele des Theaters rißen mich hin, weil sie voll waren von den Bildern meines Elends und von dem Zunder zu meinen sündigen Flammen. Was ist es, daß dort der Mensch im Anblick des trauervoll Tragischen Schmerzen sucht, die er selbst nicht erdulden möchte? Und doch will der Zuschauer sich davon schmerzen lassen, und ist dieser Schmerz selbst seine Lust. Der kläglichen Thorheit! Nur um so mehr wird Jemand davon gerührt, je weniger er von der Leidenschaft für sie frei ist, mag er sie gleich nur Leiden nennen, wenn er sie selbst erduldet, und Mitleiden, wenn er sie duldet mit Andern. Aber was kann das für ein Mitleiden sein, das nur bei erdichteten Schauspielen empfunden wird? Da wird der Hörer nicht zu Hilfe gerufen, nur zum Schmerz geladen, da ist er dem Schauspieler um so günstiger, je mehr den ihn schmerzt. Und wenn jene ehemaligen, oder ganz erdichteten Menschenleiden bei ihrer Darstellung nicht des Zuschauers Schmerz erregen, so geht er gelangweilt und tadelnd von dannen; erregen sie seinen Schmerz, dann nimmt er aufmerksam Antheil und freut sich in Thränen. Also werden auch die Schmerzen geliebt, während Jedermann doch Freude sucht? Und wenn auch das Leiden Keinem gefällt, so gefällt doch das Mitleid, und weil dieß nicht ohne Schmerzen ist, so werden vielleicht nur die Schmerzen des Mitleids geliebt. Doch der Schmerz durchrinnt auch die Zuneigung. Warum verrinnt ihre Quelle in einen glühenden Pechstrom, der die Gräuel häßlicher Begierden heraufbrodelt, in die sich von Willkür die Liebe wandelt und sich wegreißt von ihrer himmlischer Heiterkeit. – Sollen wir das Mitleid verwerfen? Mit nichten, und so können zuweilen die Schmerzen geliebt werden. – Aber hüte dich vor der Unreinigkeit, meine[45] Seele, hüte dich unter dem Schirm meines Gottes, des Gottes unserer Väter, des Preiswürdigen, in allen Ewigkeiten Erhabenen. – Auch jetzt noch fühl' ich Mitleid; aber damals freute ich im Schauspielhaus mit den Verliebten mich, daß sie des Lasters Freuden an einander fanden, ob sie's auch nur nachahmend spielten; mitleidsvoll wurde ich mitbetrübt, wenn sie ein ander verloren; und doch ergötzte mich Beides. Nun aber bedaure ich den mehr, der sich im Laster freut, als den, der Schweres leidet, sei sein Leiden die Folge schändlicher Lust oder der Verlust seines beklagenswerthen Glücks. Dies ist gewis das ächtere Mitleid fühlt, aber in ihm findet der Schmerz keine Ergötzung. Denn wenn auch Menschenliebe des Mitleidigen Schmerzen billigt, so wünschte doch Jeder, der brüderliches Mitleid fühlt, viel lieber, es möchte dieser Schmerz gar nicht vorhanden sein.
Augustinus: Bekenntnisse 3. Buch, S.44-45

Sehnsucht nach Liebe

Gefallen bin ich, und ich lag so tief,
Von falscher Liebe sündenvoll umfangen,
Und konnte nie der Liebe Ruh erlangen,
Ob mich der Weisheit ernster Drang ergrif.

Denn eine falsche war es, die mich rief,
Sie kam in ihrer Truggestalten Prangen,
Ich bin ihr stolz und brünstig angehangen,
Ich träumte lange, ohne daß ich schlief.

In Wollust und im Pfuhl der Ketzerlehren
Floß meine ganze, heiße Jugend hin –
Spät, als ein Mann erst, mocht ich wiederkehren.
Warum so lang in eitlen Sündenmüh'n?
Ich hab' ein Herz, und konnte dich entbehren!
O Wunderhuld, daß ich dein eigen bin!

I.
[43] Ich kam nach Karthago, und mich umrauschte überall das Gewirre lasterhafter Liebeshändel. Noch liebte ich nicht und begehrte zu lieben, und in tief verhüllter Bedürftigkeit zürnte ich mir, daß ich mich nicht liebebedürftiger fühlte. Der Liebe hold sucht ich den Gegenstand meiner Liebe, aber ich haßte den Seelenfrieden und den von Fallstricken freien Weg.
Augustinus: Confessiones (Bekenntnisse), 3. Buch, S.41-43

Das Ende

[511] Nana war plötzlich verschwunden; man erzählte von einer Flucht in unbekannte Länder mit seltsamen Namen. Vor ihrer Abreise hatte sie sich noch das Vergnügen bereitet, ihr Hab und Gut zu versteigern; das Haus, die Möbel, das Geschmeide, selbst die Toiletten und die Wäsche. Man erzählte, daß sie an sechshunderttausend Franken eingenommen habe. Paris hatte sie das letztemal als Schauspielerin in dem Ausstattungsstück »Melusine« im Possentheater [512] gesehen, das Bordenave, ohne einen Sou zu besitzen, auf gut Glück gemietet hatte. Sie hatte sich da wieder mit Prullière und Fontan zusammengefunden. Ihre Rolle war einfach die einer Statistin, die allerdings drei »plastische« Stellungen einer stummen, aber um so mächtigeren Fee hatte. Inmitten des großen Erfolges, als Bordenave mit Hilfe ungeheurer Reklame und Plakate ganz Paris in Erregung versetzt hatte, erfuhr man eines Tages, daß sie am Abend vorher nach Kairo abgereist sei. Als Ursache erwähnte man einen kleinen Wortwechsel mit ihrem Direktor, ein Wort, das ihr nicht paßte; es war eben die Laune einer Frau, die zu reich war, um sich ärgern zu lassen. Übrigens war es schon seit längerer Zeit ein Lieblingsgedanke von ihr, zu den Türken zu gehen.
Monate verflossen, man vergaß sie. Als ihr Name wieder auftauchte, waren die seltsamsten Geschichten über sie im Umlauf. Jeder wußte etwas anderes zu erzählen. Man sagte, sie hätte den Vizekönig erobert und herrsche in einem Palaste über zweihundert Sklaven, denen sie zu ihrer Belustigung die Köpfe abschlage. Ein anderer meinte, nichts von alledem sei wahr; im Gegenteil, sie habe sich mit einem langen Neger ruiniert, der sie ohne ein Hemd zurückgelassen.
[...]
Rosa verließ mühsam den Koffer. Sie murmelte:
Ja, ich komme, ich komme ... Gewiß, sie bedarf meiner nicht mehr, man muß eine barmherzige Schwester bestellen ...
Sie wandte sich um; sie vermochte ihren Schal nicht zu finden. Am Waschtische füllte sie mechanisch ein Waschbecken mit Wasser und wusch sich Hände und Gesicht, wobei sie murmelte:
Ich weiß nicht, aber es hat mich arg mitgenommen ... Wir waren, solange sie am Leben war, einander nicht sehr freundlich gesinnt. Das schmerzt mich jetzt ... Allerlei dumpfe Gedanken gehen mir durch den Kopf. Ich selbst wünsche mir den Tod ... Ja, ich brauche frische Luft.
Die Leiche begann die Luft im Zimmer zu vergiften. An die Stelle der allgemeinen Sorglosigkeit trat eine allgemeine Panik.
Schauen wir, daß wir fortkommen, meine Kätzchen, sagte Gaga. Es ist hier nicht besonders gesund.
Sie gingen hinaus, einen letzten Blick auf das Bett werfend. Da Lucy, Blanche und Karoline noch im Zimmer geblieben waren, legte Rosa noch eine letzte Hand an, um das Zimmer in Ordnung zu bringen. Sie zog den Vorhang vor dem Fenster zu; dann fiel ihr ein, daß diese Lampe sich hier nicht schickte, man bedürfe einer Wachskerze. Sie zündete eine Kerze an, die auf dem Kamin stand, und stellte sie auf das Nachtkästchen neben der Leiche. Ein helles Licht beleuchtete plötzlich das Gesicht der Toten. Es war furchtbar. Alle schreckten zusammen und eilten hinaus.
Ach, sie hat sich sehr verändert, murmelte Rosa Mignon, die als letzte das Zimmer verließ.
Sie ging hinaus und schloß die Tür. Nana blieb allein [532] im hellen Glanz der Kerze, das Gesicht nach oben gekehrt. Sie war nichts mehr als ein Haufen verdorbenen Fleisches und Blutes, hingeworfen auf diese Kissen. Die Pusteln hatten das ganze Gesicht überzogen; eine Blatter saß neben der anderen; vertrocknend, zusammenfallend nahmen sie die graue Farbe des Schmutzes an und saßen wie ein Stück Erde auf dieser unförmigen Masse, in der man keinen Zug mehr erkennen konnte. Das linke Auge war in der Entzündung der entsetzlichen Krankheit vollständig verschwunden; das andere, halb offen, saß wie ein schwarzes Loch inmitten dieser Masse. Die Nase ragte entzündet nur wenig hervor. Von einer ihrer Wangen ging eine dicke, rotentzündete Kruste aus, die sich über den Mund verbreitete und diesen da durch zu einem grauenhaften Lächeln verzog. Über diese fürchterliche, schaurige Masse des Nichts ergossen sich wie eine goldene Flut die Haare, die schönen Haare, die noch immer ihren Sonnenglanz bewahrt hatten. Venus begann allmählich zu verwesen. Es schien, daß das Gift, das sie in der Gosse, aus dem Schmutz der Menschheit aufgelesen, um ein ganzes Volk damit zu vergiften, ihr jetzt ins Gesicht gestiegen war, um die Fäulnis zu beschleunigen. Das Zimmer war leer. Ein ungeheurer Hauch der Verzweiflung stieg vom Boulevard empor und bauschte den Vorhang des Zimmers auf.

Nach Berlin, nach Berlin, nach Berlin ...

Zola: Nana (14. Kapitel), S.511-532

Der Roman spielt in Frankreich zur Zeit Kaiser Napoleons III. vor Ausbruch des deutsch-französischen Krieges. Der Ruf "Nach Berlin" entspricht spiegelbildlich den Rufen "Nach Paris" bei Ausbruch des 1. Weltkrieges.

Graf Muffat

Er dachte jetzt an seine Gattin, die sich zur Zeit auf einem Schlosse bei Macon befand, um Madame de Chezelles zu besuchen, die seit dem Herbste kränkelte. Der Landaufenthalt mußte jetzt abscheulich sein bei diesem regnerischen, schmutzigen Wetter. Plötzlich erfaßte ihn die Unruhe wieder. Er eilte zurück aus Furcht, daß Nana ihm durch die Galerie des Montmartre entkommen könnte.
Jetzt stellte er sich vor der Theatertür auf die Lauer. Nur ungern wartete er an diesem Ende des Ganges, wo er erkannt zu werden fürchtete. Es war dies an der Ecke der Galerie der Variétés und der Galerie Saint-Marc, ein häßlicher Winkel mit dunklen Buden, eine Schusterei ohne Kundschaft, Niederlagen von staubigen Möbeln, ein rauchgeschwärztes, [229] schläfriges Lesekabinett, dessen Lampen unter ihren Schirmen ein grünliches Licht verbreiteten. An diesem verdächtigen Orte sah man stets nur elegant gekleidete Herren, die geduldig vor diesem Theaterzugang warteten, bei dem betrunkene Theaterdiener und schlampige Statistinnen aus und ein gingen. Eine einzige schwache Gasflamme warf ihr Licht auf die Theatertür. Der Graf hatte einen Augenblick den Gedanken, Madame Bron zu befragen, doch hielt ihn wieder die Furcht davon ab, daß Nana durch die Hausmeisterin von seiner Anwesenheit benachrichtigt, ihm über den Boulevard entschlüpfen könne. Er nahm seinen Gang wieder auf und war gefaßt darauf, daß man ihn hinausweisen werde, um das Gitter zu schließen, wie es ihm schon zweimal geschehen war. Der Gedanke, allein zu Bett gehen zu müssen, schnürte ihm die Brust zu. Jedesmal, wenn Mädchen in bloßem Haar oder Männer in schmutziger Wäsche herauskamen und ihn betrachteten, blieb er vor der Türe des Lesekabinetts stehen und schaute hinein. Drinnen saß an einem langen Tische ein einziger Leser, ein altes, grünes Männchen, das eine grüne Zeitung in den grünen Händen hielt. Einige Minuten vor zehn Uhr erschien noch jemand: ein großer, blonder Mann in eleganter Kleidung, er ging gleichfalls vor der Theaterpforte auf und ab. Bei jeder Begegnung blickten die Herren einander mißtrauisch an. Der Graf ging bis ans Ende der Galerie, wo ein hoher Spiegel in die Wand eingelassen war, und als er sich in dem Spiegel erblickte, ergriff ihn ein Gefühl, gemengt aus Scham und Furcht.
Es schlug zehn Uhr. Es fiel plötzlich Muffat ein, daß er sich ja leicht überzeugen könne, ob Nana in ihrer Loge sei. Er stieg die drei Stufen des Theaters empor, durchschritt rasch den gelb getünschten Vorraum und schlich sich dann in den Hof.
[230] Um diese Stunde schwamm dieser Hof, feucht und schmal wie ein Brunnen, mit seinen verpesteten Aborten, seinem Brunnen und dem Kochherde der Hausmeisterin in einer schwarzen Dunstwolke. Die beiden hohen Mauern waren durch die Fenster beleuchtet, die auf den Hof gingen. Unten befand sich das Requisitenmagazin und der Feuerwehrposten, links lag die Kanzlei, rechts im Stockwerk befanden sich die Logen der Künstler. Der Graf hatte sofort bemerkt, daß die Fenster der Loge Nanas beleuchtet waren; er war getröstet, glücklich und stand, in die Höhe starrend, selbstvergessen in dem Moraste des Hofes und in dem abscheulichen Gestank, der in diesem rückwärtigen Teil eines alten Pariser Hauses herrschte. Aus einer geborstenen Dachtraufe fielen schwere Tropfen nieder. Aus der Loge der Madame Bron fiel ein Strahl des Gaslichtes schräg herab und beleuchtete einen schmutzigen Winkel des Hofes, wo allerlei Gerümpel und altes Scherbenwerk angehäuft war. Jetzt wurde irgendwo eine Tür kreischend geöffnet und der Graf entfloh von diesem Orte.
Zola: Nana 7. Kapitel, S.228-230

Nana

Das ist Bordenave, sagte Fauchery und stieg die Treppe hinab.
Doch der Direktor hatte ihn schon wahrgenommen.
Ach, Sie sind ein sauberer Patron, rief er ihm schon von weitem zu. So haben Sie mir einen Artikel über Nana geschrieben. Ich habe heute kaum erwarten können, den Figaro zur Hand zu bekommen; aber es steht nichts darin, kein Wort ...
Fassen Sie sich in Geduld, erwiderte Fauchery. Ich muß sie doch kennen lernen, Ihre Nana, ehe ich von ihr spreche ... Ich habe Ihnen übrigens nichts versprochen ...
Um diesem Gespräch ein Ende zu machen, stellte er dem Direktor seinen Vetter vor, Hern Hektor de la Faloise, der nach Paris gekommen war, um seine Ausbildung zu vollenden. Der Direktor maß den jungen Mann mit einem Blicke, Hektor hingegen besah sich den Mann mit großer Aufmerksamkeit. Das also war Bordenave, der große Weiberverführer, der mit ihnen wie ein Galeerensklavenwächter umging; der Mann, dessen Gehirn fortwährend über irgendeine Reklame brütet; der Mann, der jetzt schreit, spuckt, sich mit den Händen auf die Schenkel schlägt, der Zyniker mit dem Geist eines Gendarmen.

[9] Hektor glaubte, etwas angenehmes sagen zu müssen.
Ihr Theater ... begann er mit sanfter Stimme.
Bordenave unterbrach ihn und entgegnete in dem rauhen Tone eines Mannes, der gewohnt ist, frei von der Leber weg zu reden:
Sagen Sie lieber: mein Bordell ... [...]
Fauchery, der indessen die eintretenden Frauen gemustert hatte, kam jetzt seinem Vetter zu Hilfe, der mit offenem [10] Munde dastand und nicht wußte, ob er lachen oder sich ärgern sollte.
Tu doch Bordenave den Gefallen, sein Theater ein Bordell zu nennen, da es ihm Vergnügen macht. – Und Sie, mein Lieber, geben Sie uns keine Rätsel auf. Wenn Nana weder singen noch spielen kann, wird Ihre Neuheit nicht einschlagen, was ich ohnehin befürchte.
Was, nicht einschlagen? rief der Direktor, dessen Antlitz sich rötete. Hat eine Frau es nötig, singen und spielen zu können? Ach, mein Kleiner, du bist recht dumm! ... Nana hat etwas anderes ... Donnerwetter! Etwas, das alles ersetzt ... Ich habe es herausgefunden, es ist sehr stark bei ihr ausgeprägt, oder ich müßte eine schlechte Nase haben. Du wirst sehen, sie braucht nur zu erscheinen, und das ganze Haus läßt die Zunge heraushängen.
Er hatte die Hände erhoben, die vor Begeisterung zitterten; dann senkte er besänftigt die Stimme und brummte vor sich hin:
Sie wird ihren Weg machen, sie wird es weit bringen. Eine Haut! Oh, eine Haut ...
Dann gab er, von Fauchery aufgefordert, Einzelheiten über Nana, mit einer Roheit der Ausdrücke, die Hektor de La Faloise in Verlegenheit brachte. Er hatte Nana kennen gelernt, erzählte er, und wolle ihr den Weg bahnen. Er sei auf der Suche nach einer Venus für das neue Stück gewesen. Es sei nicht seine Sache, eine Frau lange auf dem Nacken zu behalten, er liebe es vielmehr, sie bald dem Publikum zu überlassen.
Zola: Nana 1. Kapitel, S.8-10

20 September 2010

Mann: Philosophie, Wollust, Neugier; Frau: Liebe?

Mit Schmerz bedachte ich die lange Zeit, welche nun von meinem neunzehnten Lebensjahre an verstrichen war, seit welchem ich in brennendem Eifer die Weisheit mit dem Vorhaben gesucht, wenn ich sie gefunden hätte, alle meine verwerfliche Begierden und lügnerische Albernheiten aufzugeben; denn siehe, ich lebte im dreißigsten Jahre und klebte noch an diesem Unrath, voll Gier nach dem flüchtigen, zerstreuenden Genuß der Gegenwart. Und das waren in der langen Zeit meine Gedanken: »Morgen werde ich es finden, es wird sich mir darbieten und fest werde ichs halten; siehe, Faustus wird kommen und wird mir Alles erklären. [...]
Ich liebte das selige Leben, und fürchtete, es in seiner Wohnung zu finden, ich floh vor ihm, da ich es suchte. Denn ich wähnte, ich würde gar zu elend werden, wenn ich des Weibes Umarmungen entbehren müßte, und dachte nicht an das Heilmittel deiner Erbarmung, das mich von diesem Uebel erlösen konnte, denn ich hatte es nie noch versucht. Ich hielt die Enthaltsamkeit für Sache der eigenen Kraft, von der ich wußte, daß sie mir fehlte, da ich in Thorheit nicht wußte, was geschrieben steht: »ich kann nicht anders züchtig sein, es gebe mirs denn Gott.« (Weish. 8, 21.) Wahrlich, mir hättest du es gegeben, wäre ich mit Seufzen zu dir gekommen und hätte mit festem Glauben mein Anliegen auf dich geworfen. [...]
Wohl suchte mich Alypius von der Heimführung einer Gattin abzuhalten und mich zu überzeugen, wenn ich das ausgeführt hätte, könnten wir nicht ungestört der Liebe zur Weisheit leben, der wir schon so lange verlangten. Er selbst lebte rein, während er sich in der ersten Jugend befleckt, aber dem Laster nicht hingegeben hatte, und es in schmerzendem Gedächtnis seines Falls um so mehr verachtete und um so enthaltsamer lebte. Ich hielt ihm das Beispiel derer entgegen, welche sich auch in der Weisheit befleißigt, Gott erworben und ihre Freunde treu und werth gehalten hätten; und [136] doch war ich weit entfernt von dem Seelenadel solcher Männer, war gebunden von der krankhaften Sinnenlust nach tödlichem Genuße und schleppte mich an meiner Kette. Ich fürchtete, von ihr gelöst zu werden, und da mir schon die Wunde geschlagen war, verschmähte ich die Worte des freundlich Rathenden, die doch einer heilenden Hand glichen. Ja, durch mich sprach die Schlange selbst zu Alypius und umstrickte mit meinen lockenden Worten seinen bisher reinen Pfad. Er selbst wurde mehr aus Neugier, als aus sinnlichen Frieden heirathslustig, da ich, den er so hoch achtete, ihm betheuerte, gar nicht ohne ehelichen Umgang leben zu können und als ich ihn versicherte, der Ehe Freuden seien etwas ganz Anderes, als jene von ihm genoßene, vorübergehende Lust. So wurde er nach dem begierig, ohne dessen Genuß ich mein Leben, das ihm so wohlgefiel, kein Leben, sondern eine Strafe nannte. Seine noch freie Seele wunderte sich über meine Sklaverei, im Verwundern schritt sie zur Neugier und war nahe am Fall und an der Verlobung mit dem Tode. Denn wer die Gefahr liebt, den stürzt sie. Keinen von uns veranlaßte ja das Würdige des Ehestandes, häusliches Walten, Kindes- und Elternliebe, kaum nebenbei dachten wir des; mich trieb gewöhnte Gier, ihn ihre neugierige Verwunderung. So waren wir, bis du Höchster, der du unser niedriges Leben nicht verließest, dich der elenden erbarmtest und wunderbar und verborgen halfest.
Ohne Rast wurde nun darauf hingewirkt, daß ich eine Gattin heimführen möge. Schon freite ich und erhielt das Jawort, wobei sich meine Mutter die größte Mühe gab; denn sie hoffte, nach meiner Verehelichung sollte mich die heilsame Taufe reinigen, für die sie mich mit Freuden täglich tauglicher werden [137] sah. [...] Doch blieben wir bei unserer Wahl, die auf eine Jungfrau gefallen war, wegen deren Jugend wir mit der Vollziehung der Ehe noch zwei Jahre zu warten gedachten. [...]
Inzwischen mehrten meine Sünden sich. Und da Sie, ein Hinderniß gegen meine Vermählung, von meiner Seite gerißen wurde, mit welcher ich mein Lager zu theilen gewöhnt war, wurde mein ihr anhängliches Herz getroffen, verwundert und wollte in Schmerzen verbluten. Sie aber war nach Afrika zurückgekehrt und hatte dir gelobt, nie mehr von einem andern Manne zu wißen. Mir wurde von ihr ein natürlicher Sohn zurückgelassen. Ich Elender aber konnte nicht einmal eines Weibes Nachahmer werden, und den Aufschub nicht ertragen, durch welchen ich die Verlobte erst nach zwei Jahren heimführen sollte; denn ich war nicht ein Freund der Ehe, ein Knecht der Lust war ich; und so nahm ich eine Andere zu mir, ohne sie zum Weibe zu nehmen.
(6. Buch), S.133-138

Der Freund Alypius

Als er einst in Karthago, noch las mein Zuhörer, eines Mittags im Forum, nach der Weise der Studierenden, auf eine Rede sich vorbereitete, ließest du zu, daß ihn die Diener des Forums ergriffen, als wäre er ein Dieb. Auch das hast du, mein Gott, nur zugelassen, damit er, der später so wichtige Mann, frühzeitig lerne, daß beim Urtheilfällen kein Mensch so leicht von seinem Mitmenschen [130] in unbesonnener Leichtgläubigkeit verdammt werden dürfe. Einsam nämlich gieng er mit Griffel und Schreibtafel vor der Gerichtsbühne auf und nieder, während ein anderer Jüngling aus der Zahl der Studierenden, der wahre Dieb, mit einem verbogenen Beil, ohne daß mein Freund davon etwas wußte, sich an das bleierne Geländer machte, welches über dem Platze der Geldwechsler angebracht war, und das Blei dort abblieb. Die Wechsler, durch den Klang des Beiles aufmerksam gemacht, besprachen sich drunten an ihrem Ort und sandten Häscher aus, die ergreifen sollten, wen sie fänden. Jener aber bloß, da er seine Stimme hörte, und ließ, aus Furcht, damit ergriffen zu werden, das Beil zurück Alypius, welcher ihn nicht hatte eintreten sehen, aber bemerkte, wie er sich schnell davon machte, wollte die Ursache wißen, betrat den Ort und blieb verwundert stehen, während er das gefundene Beil betrachtete. Die Häscher finden nur ihn, mit dem Beil in der Hand, dessen Klang sie herbeigezogen. Sie nehmen ihn fest, führen ihn fort, unter dem Zusammenlauf des Forums, und rühmen sich, den Dieb auf der That ertappt zu haben. Und so wurde er dem Richter zugeführt. Aber nur bis dahin sollte er belehrt werden, denn plötzlich kamst du, Herr, seiner Unschuld zu Hilfe, deren Zeuge du allein warst. Als man ihn hinführte, entweder zum Gefängniß, oder zum Tode, begegnete ihnen ein Baumeister, der die Aussicht über die öffentlichen Gebäude führte. Die Häscher freuten sich, eben ihm zu begegnen, der sie im Verdacht hatte, als pflegten sie das vom Forum abhanden Kommende zu entwenden; sie freuten sich, daß er nun endlich erkennen möchte, wer der Thäter sei. Aber er hatte den Alypius oft im Haufe eines Senators gesehen, dem er aufzuwarten pflegte; sobald er ihn daher erkannte, entriß er ihn eigenhändig der Schaar, erfuhr von ihm, was geschehen war, und befahl dem lärmenden, [131] drohenden Haufen ihm zu folgen. Und sie kamen vor des Jünglings Wohnung, der die That verübt hatte. Dort war ein Knabe vor der Thüre, zu klein noch, als daß er für seinen Herrn – denn er war in des Jünglings Diensten – etwas zu fürchten vermocht hätte, so daß er Alles leicht angeben konnte. Alypius erkannte ihn und vertraute seinen Verdacht dem Baumeister; dieser zeigte dem Knaben das Beil und fragte ihn, wem es gehöre. Sogleich antwortete er: es gehört uns zu, und weiter ausgefragt, eröffnete er Alles. So kam der Proceß über jenes Haus und wurde der Haufen beschämt, der schon über Alypius triumphirt hatte. Er aber, der künftige Verwalter deines Wortes, der Schiedsmann so vieler Angelegenheiten deiner Kirche, gieng erfahrener und belehrter von dannen.

Ihn also traf ich in Rom. Mit der innigsten Freundschaft hieng er an mir und wanderte mit mir nach Mailand, sowohl um bei mir zu sein, als um die Rechtswissenschaft auszuüben, die er mehr nach dem Willen seiner Eltern, als nach seinem eigenen erlernt hatte. Vorher hatte er dreimal das Amt eines Beisitzers in den Gerichten mit der edelhaften Uneigennützigkeit bekleidet, über die sich seine Kollegen wunderten, während er selbst sich noch viel mehr über sie verwunderte, daß sie das Gold der Unbestechlichkeit vorzogen. Dort wurde seine Jugend nicht nur durch lockenden Gewinn, sie wurde auch durch Anfechtung zur Furcht versucht. In Rom nemlich bekleidete er einst die Stelle eines Beisitzers im Schatzmeisteramte für Italien. Und damals war dort ein sehr angesehener Senator, dem Viele durch empfangene Wohlthaten verpflichtet, aber aus Furcht dienstwillig waren. Der machte einst, nach seiner gewaltthätigen Weise, ein gesetzwidriges Ansinnen, dem Alypius entgegen war,[132] dargebotene Belohnung verlachend und angewandte Drohung verachtend, so daß Jedermann den ungewöhnlichen Muth bewunderte, mit dem er solch einen Mann weder zum Freunde wollte, noch als Feind fürchtete. Der Richter aber, dessen Rath Alypius war, verweigerte das Ansinnen nicht offen, ob er es gleich nicht gewähren wollte, sondern schob alle Schuld auf Alypius, der nicht einwilligen, und wenn der Richter selbst einwillige, gegen ihn stimmen würde. In dieser Stellung wurde er einmal bei einer literarischen Arbeit fast versucht sich um prätorianische Gerichtsgelder zu lassen, aber sein Rechtssinn brachte ihn auf beßeren Entschluß und er hielt die Billigkeit, die ihn abhielt für nutzbringender, als seine Gewalt, die ihm Jenes erlaubte. Das ist eine Kleinigkeit, aber wer im Kleinen treu ist, der ist auch im Großen treu. Und kein leeres Wort sprach der Mund deiner Wahrheit: wenn ihr im ungerechten Mammon nicht treu seid, wer wird euch das Wahrhaftige anvertrauen? Und wenn ihr im Fremden nicht treu seid, wer wird euch geben was euer ist? (Lut. 16, 10-12.) Ein Mann solcher Besinnungen hieng er an mir und berieth sich mit mir über die Wahl unserer Lebensweise.
(6. Buch), S.129-132

15 September 2010

Schwäbisch

»Bygott!« rief der Allgäuer, »send des au Spieß? So oaner wär mer grad reacht zume Zahnstihrer. For mi ischt e Spieß von siebe Mannslengen noh net lang gnueg.« – Drob schaute ihn der Meister wiederum an mit einem Blick, der den Allgäuer beinahe verdroß. Denn dieser lugte zurück mit grimmigen Augen, und bei einem Haar hätt's etwas gegeben, wenn der Blitzschwab nicht just zur rechten Zeit sich ins Mittel gelegt. »Hotz Blitz!« rief er, »du hoscht Reacht und i merk doin Maining: Wie älle siebe for oin, so for älle siebe noh oin Spieß.«
So steht es am Anfang der Erzählung. Gegen Schluss wird die Erläuterung gegeben:
Mit den Seeweinen verhält es sich aber also: es gibt ihrer drei Arten, zum ersten der Sauerampfer, schmeckt nur ein weniges besser als Essig und verzieht das Maul nur ein bißchen, zumal wenn man sich daran gewöhnt hat. Die zweite Gattung ist Dreimännerwein geheißen, steht im Geschmack nach 10 Grad unter Essig und wurde so getauft, weil man behauptet, daß derjenige, so ihn zu trinken verurteilt, von zweien gehalten werden muß, während ihn ein dritter eingießt. Die dritte Sorte ist der Rachenputzer, hat die rühmliche Eigenschaft, daß er Schleim und alles andere abführt, tut aber dabei not, daß wer sich mit dem Wein im Leib schlafen legt, in der Nacht sich wecken lasse, damit er sich umkehren möge, sonst möchte ihm der Rachenputzer ein Loch in den Magen fressen.
Als Kind habe ich mich ziemlich gewundert, als ich das in meinem Märchenbuch las.
Der Schluss lautet dann:
Da nun unmöglich war, wie vor Zeiten tapfere Ritter getan, die Drachenhaut in einer Kirche aufzuhängen, dieweil kein Drache sein Fell zu Markte getragen und der Has in seinem Balg wohlbehalten entkommen war, so wurden die guten Gesellen dahin eins, ihr Bärenfell und ihren Spieß als eine Trophäe in die nächstgelegene Kapelle zu stiften, die hieß man hernach die Kapell zum schwäbischen Heiland. Dort wird wohl der Spieß noch hängen, das Bärenfell aber haben die Motten verzehrt, und die Sperlinge haben die Haare in ihre Nester getragen.
Auch heute noch ist es nicht die fehlende Formel "und wenn sie nicht gestorben sind, ...", die mich am Märchen zweifeln lässt, sondern mich die Erzählung als Schwank einordnen lässt.
Der Autor Bechstein hat offenbar andere Erzählabsichten als Wilhelm Grimm.

13 September 2010

Aeneas und Kreusa

Überall lauerte Schrecken, auch Stille jagte mir Furcht ein.
Dann begab ich nach Hause mich; hatte Krëusa viel leicht sich
dorthin gewandt? Erstürmt und besetzt von den Danaern alles!
Gierig schon fraß sich das Feuer zum oberen Teil des Gebäudes,
über den Dachfirst züngelten Flammen, hoch stoben die Funken.
Weiter gelangte ich dann zum Priamosschloß und zur Stadtburg.
In den verödeten Hallen der Juno – einst heiliger Freistatt! –
walteten Phoinix bereits und der schlimme Odysseus als Wächter
sämtlicher Beutestücke. Man hatte die troischen Schätze
Tempeln entrafft und hierher zusammengetragen, geweihte
Tische der Götter, vergoldete Mischkrüge, schöne Gewebe.
Kinder und schreckenverstörte Mütter standen, zu langen
Zügen gereiht, ringsumher.
Schließlich wagte sogar ich laut durch das Dunkel zu rufen,
ließ durch die Straßen tieftraurig den Namen Krëusas erschallen
und wiederholte ihn immer aufs neue, doch ohne Ergebnis.

Während ich zwischen den Häusern umsonst, wie von Sinnen, sie suchte,
trat mir Krëusa als Bildnis des Unglücks, als Schatten, ganz plötzlich
klar vor die Augen, größer, als ich sie im Leben einst kannte.
Starr vor Entsetzen stand ich, mir sträubte das Haar sich, die Stimme
stockte. Da sprach sie mich an und benahm mir Schrecken und Sorge:
›Warum, mein teurer Gefährte, ergibst du dich derart verzweifelt
grundlosem Schmerze? Nicht ohne das Wirken der Götter vollzog sich
alles Geschehene. Weder das Schicksal noch Jupiter, Herrscher
hoch im Olympus, gestatten, daß dich Krëusa begleitet.
Lange Zeit heimatlos, wirst du weithin die Meere durchfurchen.
Auch nach Hesperien wirst du gelangen. Der lydische Tiber
windet sich dort gemächlich voran durch fruchtbare Fluren.
Dort erringst du dir Glück, ein Königreich, eine Gemahlin
fürstlichen Stammes. Beweine nicht deine geliebte Krëusa!
Keinen stolzen Palast bei den Dolopern und Myrmidonen
werde ich sehen, nicht griechische Mütter als Sklavin bedienen,
ich, als Dardanerin, Schwiegertochter der göttlichen Venus.
Nein, hierzulande behält mich die mächtige Mutter der Götter.
Lebe jetzt wohl, bewahr dir die Liebe zu unserem Jungen!‹

Vieles noch wollte ich, unter Tränen, zur Antwort ihr sagen,
doch sie verließ mich, entwich und löste sich auf in die Lüfte.
Dreimal versuchte ich ihr noch den Arm um den Nacken zu schlingen,
dreimal indessen griffen die Hände ins Leere; der Schatten
war wie der Windhauch so leicht, er glich dem geflügelten Traumbild.

Als die Gefährten ich wiedersah, war die Nacht schon vorüber.
Staunend erblickte ich jetzt den gewaltig geschwollenen Zustrom
neuer Begleiter, Mütter und Männer, Menschen im Elend*,
eine zum Auswandern willige Schar. Sie waren von allen
Seiten zusammengeströmt, voll Mut, mit den Resten der Habe,
wünschten in See zu stechen, wohin ich auch immer sie führte.

Lucifer** stieg vom Rücken des Ida bereits in die Höhe,
Bote der Ankunft des Tages. Fest hielten die Danaer Trojas
Tore besetzt, uns winkte keinerlei Hilfe. Zum Aufbruch
mahnte ich, zog dann, den Greis auf den Schultern, voran ins Gebirge.«

*Joseph Spitzenberger übersetzt: "ein kläglicher Haufe". Das passt freilich nicht zu der Kriegsmacht, die Aeneas auch nach Jahren der Irrfahrt noch mit sich führt.
**der Morgenstern

Vergil: Werke in einem Band. Berlin 21987; Zweiter Gesang S. 189-191.

Wofür Thomas Mann den Geist der Erzählung bemüht hätte, das übernehmen bei Homer und Vergil dankenswerterweise die Götter: Wofür ein realistischer Erzähler umfangreiche Motivierungsarbeit geleistet hätte, wo eine Fernsehserie von heute auf die verschiedensten Todesarten zurückgreift, um eine Person aus der Erzählung zu entfernen, die den geplanten Gang der Handlung stören könnte, da ist bei ihnen stets ein Gott zur Stelle. In diesem Fall ist es laut Vergil Juno, laut Wikipedia Aphrodite, die Kreusa aus dem Verkehr zieht, ohne dass diese sich darüber beklagt. Pausanias freilich weiß zu berichten, dass sie in der Lesche der Knidier unter den troischen Gefangenen der Griechen ist. Aeneas hört davon freilich nichts und kann von seiner Frau informiert, dass ein göttlicher Plan hinter ihrem Verschwinden steht, unbesorgt in Karthago (Dido) und Italien (Lavinia) seine Frauengeschichten erleben.
Das klingt für manchen vielleicht frivol. Es ist aber anzunehmen, dass auch die antiken Autoren die Götter, die einen Teil ihrer Handlungsstränge bevölkern, durchaus funktional sahen.

sieh auch:
Irene VallejoElyssa. Königin von Karthago, 2024 - Eine Aeneis aus weiblicher Sicht (Dido), Perlentaucher

12 September 2010

Buchempfehlung

Reinhard Berkau: Ich gegen Amerika: Ein deutscher Anwalt in den Fängen der US-Justiz - ein sachlicher Erlebnisbericht, der Dimensionen des US-Rechtswesens aufzeigt, die auch im US-Recht Erfahrene so kaum für möglich gehalten hätten.
So ist mir das Buch empfohlen worden. Ich habe keinen Grund, der Empfehlung und den Rezensionen nicht zu trauen. Es steht jetzt auf meiner Leseliste.

Ich denke an mein Studium zurück, wo ein Professor aus den USA uns erläuterte: In den USA gibt es von allem Extremeres als in Deutschland und vor allem viel mehr davon. Aber auch der Hinweis, dass die Arbeitslosenzahlen in den USA sehr niedrig sind, zusammen mit den Zahlen der Gefängnisinsassen aber meist der deutschen Arbeitslosigkeit entsprechen, gehört hierher. Und der berühmte Satz aus US-Krimis "Ich lese Ihnen Ihre Rechte vor" und die Verzweiflung in den Augen dessen, der in die Hände der Justiz übergeben wird.

11 September 2010

Juno rettet Turnus und der ist darüber unglücklich

Juno entgegnete demütig: »Warum, du herrlichster Gatte,
quälst du mich Arme, die deine gestrengen Weisungen fürchtet?
Liebtest du mich doch so innig wie früher und wie es der Gattin
eigentlich zusteht! Dann würdest, Allmächtiger, du es mir schwerlich
abschlagen, daß ich Turnus dem Schlachtengetümmel entziehe,
Daunus, dem Vater, gesund ihn und wohlbehalten bewahre.
Mag er jetzt sterben, mit frommem Blute büßen den Troern!
Trotzdem, er führt sein edles Geschlecht zurück auf das unsre.
War doch Pilumnus sein Urahn. Auch hat er freigebig oftmals
reichliche Gaben in deinen Tempeln als Opfer gespendet.«

Kurz nur erteilte ihr Antwort der König der himmlischen Höhen:
»Wenn du für einen dem Tode verfallenen Helden nur einen
Aufschub erbittest und glaubst, ich könnte den Aufschub bewirken,
führe den Turnus vom Schlachtfeld, entzieh ihn dem nahenden Schicksal!
Soweit vermag ich Nachsicht zu üben. Verbirgt sich indessen
unter der Bitte ein größerer Wunsch und wähnst du, dem Kriege
einen ganz anderen Ausgang zu geben, so hoffst du vergeblich.«

Weinend erwiderte Juno: »Gewährtest du das mit dem Herzen,
was du dem Wortlaut nach ablehnst, bliebe mein Turnus am Leben.
Nunmehr erwartet ein bitterer Tod den Schuldlosen, sollte
ich mich nicht täuschen. Narrte mich lieber doch falsche Befürchtung,
schlügest den Weg du zum Besseren ein, da allmächtig du waltest!«

Darauf ließ sie sogleich sich vom hohen Himmel hernieder,
quer durch die Lüfte, von Sturmwind umhüllt und von Wolken umflattert,
eilte zur troischen Streitmacht sowie zum laurentischen Lager,
formte aus Wolkendunst klüglich ein kraftloses Schattengebilde,
das wie Aeneas aussah, ein kunstreiches Werk zum Erstaunen,
rüstete es mit dardanischen Waffen, ähnlichem Schutzschild,
täuschendem Helmbusch auf göttlichem Haupt, verlieh ihm auch Sprache,
Laute nur, nichtig, vernunftlos, und gab ihm die typischen Schritte;
Seelen der Sterblichen sollen, verstarb der Körper, so flattern,
oder auch Träume, die der Empfindungen Schlafender spotten.
Frohlockend eilte der Schatten vor das vordere Treffen,
reizte zum Schein mit funkelnden Waffen, lauthöhnend, den Turnus.
Dieser entsandte von ferne auf ihn die schwirrende Lanze,
stürmte dann gegen ihn. Aber da wandte zur Flucht sich der andre.
Turnus wähnte, Aeneas suche tatsächlich das Weite,
schöpfte, verwirrt durch die Täuschung, eine ganz grundlose Hoffnung:
»Wohin, Aeneas? Verschmähe nicht die dir verheißene Ehe!
[403] Meine Faust verschafft dir das Land, das zu Wasser du suchtest.«
Derart prahlte er, folgte dem Fliehenden, zückte die blanke
Klinge – und sah nicht, daß Windstöße ihm sein Wunschbild entrafften.

Zufällig lag ein Schiff vor Anker am ragenden Felshang,
hatte die Leitern heruntergelassen, den Laufsteg befestigt.
Clusiums König Osinius war auf dem Fahrzeug gekommen.
Dorthin schwebte bestürzt der Schatten des fliehenden Troers,
schlüpfte hinein und verschwand. Beharrlich folgte ihm Turnus,
ließ durch kein Hemmnis sich abhalten, eilte hoch über den Laufsteg.
Kaum betrat er das Vorschiff, da kappte Juno die Leine;
forttreiben ließ sie das Schiff auf rückläufig kabbelnden Wellen.
Während Aeneas in Wirklichkeit Turnus zum Zweikampfe suchte
und die ihm zahlreich entgegentretenden Feinde erlegte,
suchte nicht länger mehr sich zu verstecken der flüchtige Schatten,
sondern entschwebte zur Höhe, zerfloß in den düsteren Wolken.
Seewärts entführten indessen wirbelnde Winde den Turnus.

Nichtsahnend, keineswegs froh der Errettung, schaute der König
rückwärts und streckte flehend die Hände empor zu den Sternen:
»Vater, Allmächtiger, hast du mich eines so schweren Verbrechens
etwa für schuldig befunden, daß du mich so grausam bestrafest?
Wohin nur soll ich? Woher? Als Flüchtling? Als was für ein Feigling?
Soll ich die Mauern Laurentums wiedersehen, das Lager?
Was unternehmen die Männer, die mir in das Schlachtgewühl folgten?
Ließ ich sie alle schmachvoll zurück zu abscheulichem Tode,
sehe sie ratlos umherirren, höre die Fallenden jammern?
Wie jetzt handeln? Wo könnte für mich ein Abgrund jetzt klaffen,
hinreichend tief? Doch lieber erbarmt euch meiner, ihr Winde!
Jagt mir das Fahrzeug an Felsen, auf Klippen – ich, Turnus, ich flehe
innig darum –, in die tückischen Untiefen wütender Syrten,
wohin die Rutuler mir und die wissende Fama nicht folgen!«
Während des Flehens schwankte er unschlüssig, fast wie von Sinnen
[404] angesichts solcher Schande: Ob er sich selbst in die Klinge
stürzen, das grausame Schwert durch den Brustkorb hindurchjagen solle
oder auch springen ins Meer und schwimmen zur buchtreichen Küste,
dort sich aufs neue ins Schlachtgewühl gegen die Teukrer begeben.
Dreimal versuchte er beides, doch hemmte die mächtige Juno
dreimal ihn auch und hielt ihn zurück aus innigem Mitleid.
Über die hohe See glitt er mit günstiger Strömung,
trieb dann ans Festland, zur uralten Hauptstadt des Daunus, des Vaters.

Quelle: Vergil: Werke in einem Band. Berlin 21987, S. 402-404

Wie sich die Sterblichen darüber täuschen, was ihnen gut tut, zeigt diese Passage genauso wie das Ende des Kampfes zwischen Turnus und Pallas. Es spricht freilich kein allwissender Erzähler, wie es in einer epischen Vorausdeutung geschieht, sondern der Leser/Hörer hat mehr Wissen als die handelnden Personen und kann ihren Irrtum daher ohne weitere Nachhilfe durch den Erzähler erkennen.

Das Ende des Kampfes zwischen Aeneas und Turnus

Turnus, am Boden, demütigen Blickes, streckte die Rechte
bittend nach vorn: »Ich verdiene mein Los, erflehe nicht Gnade.
Nutze dein Glück! Und vermag dich das Schicksal meines geprüften
Vaters zu rühren, bitte – du hattest ja selber solch einen
Vater, Anchises –: Erbarm dich des alten Daunus, den Meinen
gib mich zurück jetzt oder, sofern du das vorziehst, den toten
Körper. Du siegtest, mich sehen die Völker Italiens die Hände
heben als völlig Geschlagenen. Dein ist Lavinia. Treibe
aber den Haß nicht zu weit!«

Aeneas stand mit gezücktem
Schwerte, erbittert, mit rollenden Augen. Noch hemmte er seine
Rechte, er schwankte. Schon wollten die Worte zur Milde ihn stimmen.
Aber da glänzte zum Unglück, hoch auf des Geschlagenen Schulter,
prächtig das Wehrgehenk mit den goldenen Buckeln, der Schwertgurt
früher des jungen Pallas, den Turnus besiegt und erschlagen
hatte. Jetzt trug er das herrliche Schmuckstück sich selbst zum Verderben.
Starrte Aeneas doch wie gebannt auf die Beute, ein Mahnmal
wütenden Schmerzes. Dann rief er mit schrecklicher Stimme, von wilder
Rachgier entflammt: »Du willst mir entschlüpfen – und trägst noch die Beute,
die du den Meinen entrissest? Pallas erschlägt dich jetzt, Pallas
sühnt jetzt mit deinem Blut die Verbrechen, die du begingest!«
Damit stieß er, glühend vor Zorn, in die Brust ihm die Klinge.
Unter der Kälte des Todes erschlafften die Glieder des Turnus,
unwillig stöhnend entwich sein Geist hinab zu den Schatten.

Vergil: Werke in einem Band. Berlin 1987, Übersetzung von Wilhelm Hertzberg, S. 477

Der Kampf zwischen Turnus und Pallas

Fürst Turnus

sprang von dem Wagen, er wollte den Zweikampf zu Fuße bestehen.

Ganz wie ein Löwe, der fern von der Höhe hernieder im Felde

einen zum Kampfe entschlossenen Stier erspähte und grimmig

gegen ihn stürmt, so bot sich der nahende Turnus den Blicken.



Als ihn Pallas in Wurfweite wähnte, gedachte den Anfang

kühn er zu wagen; er hoffte, als Schwächerem werde ein Zufall

Hilfe ihm bringen, und flehte innig zum mächtigen Äther:

»Enkel des Alkeus, bei meines Vaters gastlichem Tische,

den du einst aufsuchtest, hilf mir, bitte, beim schweren Beginnen!

Sähe mich Turnus, noch lebend, die blutigen Waffen ihm rauben!

Müßte er, sterbenden Auges, den Anblick des Siegers ertragen!«

Herkules hörte den Jüngling, er unterdrückte die bittre

Klage im tiefsten Herzen, vermochte nur hilflos zu weinen.

Aber da sprach sein Vater zu ihm die tröstlichen Worte:

»Jeden erwartet sein Tag, die Lebensfrist dehnt sich für alle

kurz nur und unwiederholbar. Doch rühmlich zu glänzen durch Leistung,

bleibt des Tapfren Verpflichtung. Vor Trojas ragenden Mauern

[397] fielen so zahlreiche Söhne von Göttern, mit ihnen mein eigner

Sprößling sogar, Sarpedon. Den Turnus auch wird noch sein Schicksal

rufen, auch er gelangt noch zum Schluß der verliehenen Spanne.«

Damit wandte er seine Augen vom Rutulerlande.



Pallas jedoch entsandte den Speer mit Anspannung aller

Kräfte und riß dann sogleich das funkelnde Schwert aus der Scheide.

Über der Schulter ritzte die Waffe im Fluge den Panzer,

hatte zuvor schon den oberen Schildrand durchschlagen und streifte

schließlich, gehemmt schon, nur leicht den Riesenkörper des Turnus.

Seinerseits schwang jetzt dieser den Schaft mit der schneidenden Spitze

längere Zeit, dann rief er, und schleuderte los ihn auf Pallas:

»Schau jetzt, ob unsere Waffe nicht kraftvoller durchdringt zum Ziele!«

Quer durch den Schild, durch so zahlreiche Schichten von Eisen und Bronze,

auch durch so zahlreiche Lagen von Rindsfellen bohrte im starken

Schwung sich die Lanze, genau in der Mitte, durchschlug auch den Panzer,

drang in die Brust dann des jungen stattlichen Helden. Vergeblich

riß der Getroffene noch das warme Geschoß aus der Wunde:

Gleich mit der Spitze entströmten dem Körper das Blut und das Leben.

Jäh auf die Wunde stürzte der Held, ihn umklirrten die Waffen,

schlug noch, im Sterben, ins feindliche Erdreich die blutigen Zähne.

Über ihn stellte sich Turnus und rief:

»Hört, ihr Arkader, und meldet mein Wort dem König Euander:

Wie es die Sühne erheischt, so schicke zurück ich ihm Pallas.

Ehren des Grabes und Trost der Bestattung will ich gewähren.

Teuer bezahlt er die Gastfreundschaft, die er Aeneas gewährte.«

Danach setzte er seinen linken Fuß auf den Leichnam,

zog das gewichtige Wehrgehenk ab mit dem Bild des Verbrechens,

[398] der in der Brautnacht vollzognen Ermordung der eben vermählten

Jünglinge und der mit Blut besudelten Hochzeitsgemächer,

kunstreich getrieben in Gold von dem Sohn des Eurytus, Clonus.

Dieses gewann jetzt Turnus frohlockend als Beute des Sieges.

Nichts von den künftigen Schicksalen ahnen die menschlichen Herzen,
wissen im Übermaß reichlichen Glückes das Maß nicht zu wahren.
Turnus erlebt noch die Stunde, da vieles er gäbe für einen
lebenden Pallas, da er den Sieg von heute verabscheut!

Diese letzten Worte sind eine epische Vorausdeutung auf den Kampf zwischen Turnus und Aeneas, der aufgrund dieses vorausgegangenen Kampfes Turnus den Tod bringt.

Pamuk: Istanbul

Abgebrochen hatte ich die Lektüre von Orhan Pamuks Buch über Istanbul, weil mir zu viele konkrete Details eines Instanbul geschildert wurden, die ich nicht kenne (während ich bis dahin die Sicht auf den jungen Pamuk und seine Schilderung des Griechenpogroms durchaus sehr interessiert hatten).
Nun nehme ich die Lektüre an der Stelle des Abbruchs wieder auf und bin von seiner Faszination vom Bosperus, den fremden Schiffen, die dort fahren und die er sich ganz genau einzuprägen versucht (in der Übersetzung "zählen" genannt) meinerseits fasziniert.
Dann die Begeisterung für das Betrachten von Schiffsunglücken, Bränden, die lange so typisch waren, so lange es die Holzpaläste noch gab.

Zusatz vom 17.3.15:
Interview mit Pamuk