03 Mai 2013

Autographe - Zeugen des schöpferischen Prozesses

Jene geheimnisvollste Sekunde des Übergangs, da ein Vers, eine Melodie aus dem Unsichtbaren, aus der Vision und Intuition eines Genies durch graphische Fixierung ins Irdische tritt, wo anders ist sie belauschbar, überprüfbar als auf den durchkämpften oder wie in Trance hingejagten Urschriften der Meister? Ich weiß von einem Künstler nicht genug, wenn ich nur sein geschaffenes Werk vor mir habe, und ich bekenne mich zu Goethes Wort, daß man die großen Schöpfungen, um sie ganz zu begreifen, nicht nur in ihrer Vollendung gesehen, sondern auch in ihrem Werden belauscht haben muß. Aber auch rein optisch wirkt auf mich eine erste Skizze Beethovens mit ihren wilden, ungeduldigen Strichen, ihrem wüsten Durcheinander begonnener und verworfener Motive, mit der darin auf ein paar Bleistiftstriche komprimierten Schöpfungswut seiner dämonisch überfüllten Natur geradezu physisch erregend, weil der Anblick mich so sehr geistig erregt; ich kann solch ein hieroglyphisches Blatt verzaubert und verliebt anstarren wie andere ein vollendetes Bild. Ein Korrekturblatt Balzacs, wo fast jeder Satz zerrissen, jede Zeile umgeackert, der weiße Rand mit Strichen, Zeichen, Worten schwarz zernagt ist, versinnlicht mir den Ausbruch eines menschlichen Vesuvs; und irgendein Gedicht, das ich jahrzehntelang liebte, zum erstenmal in der Urschrift sehe, in seiner ersten Irdischkeit, erregt in mir ehrfürchtig religiöses Gefühl; ich getraue mich kaum, es zu berühren.

Stefan Zweig: Die Welt von Gestern. Umwege auf dem Wege zu mir selbst


 In den Anfängen hatte ich wie jeder Anfänger nur getrachtet, Namen zusammenzuraffen, berühmte Namen; dann hatte ich aus psychologischer Neugier nur mehr Manuskripte gesammelt – Urschriften oder Fragmente von Werken, die mir zugleich Einblick in die Schaffensweise eines geliebten Meisters gewährten. Von den unzähligen unlösbaren Rätseln der Welt bleibt das tiefste und geheimnisvollste doch das Geheimnis der Schöpfung. Hier läßt sich die Natur nicht belauschen, niemals wird sie diesen letzten Kunstgriff sich absehen lassen, wie die Erde entstand und wie eine kleine Blume entsteht, wie ein Gedicht und wie ein Mensch. Hier zieht sie unbarmherzig und unnachgiebig ihren Schleier vor. Selbst der Dichter, selbst der Musiker wird nachträglich den Augenblick seiner Inspiration nicht mehr erläutern können. Ist einmal die Schöpfung vollendet gestaltet, so weiß der Künstler von ihrem Ursprung nicht mehr und nicht von ihrem Wachsen und Werden. Nie oder fast nie vermag er zu erklären, wie in seinen erhobenen Sinnen die Worte sich zu einer Strophe, wie aus einzelnen Tönen Melodien sich zusammenfügten, die dann durch die Jahrhunderte klingen. Das einzige, was eine leise Ahnung dieses unfaßbaren Schöpfungsprozesses gewähren kann, sind die handschriftlichen Blätter und insbesondere die noch nicht für den Druck bestimmten, die mit Korrekturen übersäten, noch ungewissen ersten Entwürfe, aus denen sich dann erst allmählich die künftige gültige Form kristallisiert. Solche Blätter von allen großen Dichtern, Philosophen und Musikern, solche Korrekturen und somit Zeugen ihres Arbeitskampfes zu vereinigen, war die zweite, wissendere Epoche meines Autographensammelns. Es war für mich eine Lust, sie zusammenzujagen auf Auktionen, eine gern getane Mühe, sie aufzuspüren an den verstecktesten Stellen, und zugleich eine Art Wissenschaft, denn allgemach war neben meiner Sammlung von Autographen eine zweite entstanden, die sämtliche Bücher, die je über Autographen geschrieben worden sind, umfaßte, sämtliche Kataloge, die je gedruckt worden sind, über viertausend an der Zahl, eine Handbibliothek ohnegleichen und ohne einen einzigen Rivalen, weil selbst die Händler nicht so viel Zeit und Liebe an ein Spezialfach wenden konnten. Ich darf wohl sagen – was ich nie im Hinblick auf Literatur oder ein anderes Gebiet des Lebens auszusprechen wagen würde –, daß ich in diesen dreißig oder vierzig Jahren des Sammelns eine erste Autorität auf dem Gebiete der Handschriften geworden war und von jedem bedeutenden Blatte wußte, wo es lag, wem es gehörte und wie es zu seinem Besitzer gewandert war, ein wirklicher Kenner also, der Echtheit auf den ersten Blick bestimmen konnte und in der Bewertung erfahrener als die meisten Professionellen war.
Aber allmählich ging mein sammlerischer Ehrgeiz weiter. Es genügte mir nicht, eine bloße handschriftliche Galerie der Weltliteratur und Musik, einen Spiegel der tausend Arten schöpferischer Methoden zu haben; die bloße Erweiterung der Sammlung lockte mich nicht mehr, sondern was ich in den letzten zehn Jahren meines Sammelns vornahm, war eine ständige Veredelung. Hatte es mir zuerst genügt, von einem Dichter oder Musiker Blätter zu haben, die ihn in einem schöpferischen Momente zeigten, so ging allmählich mein Bemühen dahin, jeden darzustellen in seinem allerglücklichsten schöpferischen Moment, in dem seines höchsten Gelingens. Ich suchte also von einem Dichter nicht nur die Handschrift eines seiner Gedichte, sondern eines seiner schönsten Gedichte und womöglich eines jener Gedichte, das von der Minute an, da die Inspiration in Tinte oder Bleistift zum erstenmal irdischen Niederschlag fand, in alle Ewigkeit reicht. Ich wollte von den Unsterblichen – verwegene Anmaßung! – in der Reliquie ihrer Handschrift gerade das, was sie für die Welt unsterblich gemacht hat.
So war die Sammlung eigentlich in ständigem Fluß; jedes für diesen höchsten Anspruch mindere Blatt, das ich besaß, wurde ausgeschaltet, verkauft oder eingetauscht, sobald es mir gelang, ein wesentlicheres, ein charakteristischeres, ein – wenn ich so sagen darf – ewigkeitshaltigeres zu finden. Und wunderbarerweise gelang es in vielen Fällen, denn es gab außer mir nur ganz wenige, die mit solcher Kenntnis, solcher Zähigkeit und gleichzeitig mit einem solchen Wissen die wesentlichen Stücke sammelten. So vereinigte schließlich erst eine Mappe und dann ein ganzer Kasten, durch Metall und Asbest der Verderbnis wehrend, Urhandschriften von Werken oder aus Werken, die zu den dauerhaftesten Manifesten der schöpferischen Menschheit gehören. Ich habe hier, nomadisch wie ich heute zu leben gezwungen bin, den Katalog jener längst zerstreuten Sammlung nicht zur Hand und kann nur aufs Geratewohl einige der Dinge aufzählen, in denen der irdische Genius in einem Ewigkeitsmoment verkörpert war.
Da war ein Blatt aus Lionardos Arbeitsbuch, Bemerkungen in Spiegelschrift zu Zeichnungen; von Napoleon in kaum leserlicher Schrift auf vier Seiten hingejagt der Armeebefehl an seine Soldaten bei Rivoli; da war ein ganzer Roman in Druckbogen von Balzac, jedes Blatt ein Schlachtfeld mit tausend Korrekturen und mit unbeschreiblicher Deutlichkeit seinen Titanenkampf darstellend von Korrektur zu Korrektur (eine Photokopie ist glücklicherweise für eine amerikanische Universität gerettet). Da war Nietzsches ›Geburt der Tragödie‹ in einer ersten, unbekannten Fassung, die er lange vor der Veröffentlichung für die geliebte Cosima Wagner geschrieben, eine Kantate von Bach und die Arie der Alceste von Gluck und eine von Händel, dessen Musikmanuskripte die seltensten von allen sind. Immer war das Charakteristischste gesucht und meist gefunden, von Brahms die ›Zigeunerlieder‹, von Chopin die ›Barcarole‹, von Schubert das unsterbliche ›An die Musik‹, von Haydn die unvergängliche Melodie des ›Gotte erhalte‹ aus dem Kaiserquartett. In einigen Fällen gelang es mir sogar, die einmalige Form des Schöpferischen zu einem ganzen Lebensbilde der schöpferischen Individualität zu erweitern. So hatte ich von Mozart nicht bloß ein ungelenkes Blatt des elfjährigen Knaben, sondern auch als Zeichen seiner Liederkunst das unsterbliche ›Veilchen‹ Goethes, von seiner Tanzmusik die Menuette, die Figaros ›Non piú andrai‹ paraphrasierten, und aus dem ›Figaro‹ selbst die Arie des Cherubin, anderseits wieder die zauberhaft unanständigen, niemals im vollen Text öffentlich gedruckten Briefe an das Bäsle und einen skabrösen Kanon und schließlich noch ein Blatt, das er knapp vor seinem Tode geschrieben, eine Arie aus dem ›Titus‹. Ebensoweit war der Lebensbogen bei Goethe umrandet, das erste Blatt eine Übersetzung des neunjährigen Knaben aus dem Lateinischen, das letzte ein Gedicht, im zweiundachtzigsten Jahre knapp vor dem Tode geschrieben, und dazwischen ein mächtiges Blatt aus dem Kronstück seines Schaffens, ein zweiseitiges Folioblatt aus dem ›Faust‹, ein Manuskript zu den Naturwissenschaften, zahlreiche Gedichte und dazu noch Zeichnungen aus den verschiedensten Stadien seines Lebens; man überschaute Goethes ganzes Leben in diesen fünfzehn Blättern.
Stefan Zweig: Die Welt von Gestern.  Sonnenuntergang

Keine Kommentare: