04 Mai 2013

James Joyce

Die ergreifendsten unter diesen Menschen waren für mich – als ob mich schon eine Ahnung zukünftigen eigenen Schicksals berührt hätte – die Menschen ohne Heimat oder schlimmer noch: die statt eines Vaterlandes zwei oder drei hatten und innerlich nicht wußten, zu welchem sie gehörten. Da saß meist allein in einer Ecke des Café Odeon ein junger Mann mit einem kleinen braunen Bärtchen, auffallend dicke Brillen vor den scharfen dunklen Augen; man sagte mir, daß es ein sehr begabter englischer Dichter sei. Als ich nach einigen Tagen James Joyce dann kennenlernte, lehnte er schroff jede Zusammengehörigkeit mit England ab. Er sei Ire. Er schreibe zwar in englischer Sprache, aber er denke nicht englisch und wolle nicht englisch denken – „ich möchte“, sagte er mir damals, „eine Sprache, die über den Sprachen steht, eine Sprache, der sie alle dienen. In Englisch kann ich mich nicht ganz ausdrücken, ohne mich damit in eine Tradition einzuschließen.“ Mir war das nicht ganz klar, denn ich wußte nicht, daß er damals schon an seinem „Ulysses“ schrieb; er hatte mir nur sein Buch „Portrait of an artist as a young man“ geliehen, das einzige Exemplar, das er besaß, und sein kleines Drama „Exiles“, das ich damals sogar übersetzen wollte, um ihm zu helfen. Je mehr ich ihn kennenlernte, desto mehr setzte er mich durch seine phantastische Sprachkenntnis in Erstaunen; hinter dieser runden, fest gehämmerten Stirn, die im elektrischen Licht wie Porzellan glatt glänzte, waren alle Vokabeln aller Idiome eingestanzt, und er spielte sie in brillantester Weise durcheinander. Einmal als er mich fragte, wie ich einen schwierigen Satz in „Portrait of an artist“ deutsch wiedergeben würde, versuchten wir die Formung zusammen in Italienisch und Französisch; er hatte für jedes Wort vier oder fünf in jedem Idiom parat, selbst die dialektischen, und wußte ihren Valeur, ihr Gewicht bis in die kleinste Nuance. Eine gewisse Bitterkeit wich selten von ihm, aber ich glaube, es war eigentlich diese Gereiztheit, gerade die Kraft, die ihn innerlich vehement und produktiv machte. Sein Ressentiment gegen Dublin, gegen England, gegen gewisse Personen hatte in ihm die Form dynamischer Energie angenommen und ist tatsächlich erst im dichterischen Werke frei geworden. Aber er schien diese seine eigene Härte zu lieben; nie habe ich ihn lachen oder eigentlich heiter gesehen. Immer wirkte er wie eine in sich zusammengeballte dunkle Kraft, und wenn ich ihn auf der Straße sah, die schmalen Lippen scharf aneinander gezogen und immer raschen Schritts, als ob er auf etwas Bestimmtes zuginge, so spürte ich das Abwehrende, das innerlich Isolierte seines Wesens noch stärker als in unseren Gesprächen. Und ich war später keineswegs erstaunt, daß gerade er das einsamste, mit allem unverbundenste, dies gleichsam meteorisch in unsere Zeit niedergestürzte Werk geschrieben. Stefan Zweig: Die Welt von Gestern. Im Herzen Europas

Sieh auch: Wollschläger-Übersetzung des "Ulysses" von James Joyce  

Funkelnder Kronzeugenbericht eines überzeugten Europäers von Sandra Kegel faz.net 5.2.218
"Warum Stefan Zweigs Reflexionen „Die Welt von gestern“ aus dem Jahr 1942 Pflichtlektüre nicht nur für Schüler, sondern vor allem für die Europa-Kritiker unserer Zeit sein sollte."

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