[...] heute
weiß ich klar: was damals so weh tat, war die Enttäuschung … die
Enttäuschung, daß … daß dieser junge Mensch so fügsam gegangen
war … so ohne jeden Versuch, mich zu halten, bei mir zu bleiben …
daß er demütig und ehrfurchtsvoll meinem ersten Versuch,
abzureisen, sich fügte, statt … statt einen Versuch zu machen,
mich an sich zu reißen … daß er mich einzig als eine Heilige
verehrte, die ihm auf seinem Wege erschienen … und nicht … nicht
mich fühlte als eine Frau. … ich hätte mein Geld, meinen Namen,
mein Vermögen, meine Ehre diesem Menschen geopfert … ich wäre
betteln gegangen, und wahrscheinlich gibt es keine Niedrigkeit dieser
Welt, zu der er mich nicht hätte verleiten können. Alles, was man
Scham nennt und Rücksicht unter den Menschen, hätte ich
weggeworfen, wäre er nur mit einem Wort, mit einem Schritt auf mich
zugetreten, hätte er versucht, mich zu fassen, so verloren war ich
an ihn in dieser Sekunde. [...]
Und jählings verstand ich mich selbst: alles tun, nur ihn nicht lassen! Und innerhalb einer gewalttätigen Sekunde wurde dieser Wille zum Entschluß. Ich lief hinunter zum Portier, kündigte ihm an, daß ich heute mit dem Abendzug abreise. Und nun galt es, eilig zu sein: ich klingelte dem Mädchen, daß sie mir behilflich sei, meine Sachen zu packen – die Zeit drängte ja; und während wir gemeinsam in wetteifernder Hast Kleider und kleines Gebrauchsgerät in die Koffer verstauten, träumte ich mir die ganze Überraschung aus: wie ich ihn an den Zug begleiten würde, um dann im letzten, im allerletzten Moment, wenn er mir die Hand schon zum Abschied geboten, plötzlich zu dem Erstaunten in den Wagen zu steigen, mit ihm für diese Nacht, für die nächste – solange er mich wollte. [...]
Und jählings verstand ich mich selbst: alles tun, nur ihn nicht lassen! Und innerhalb einer gewalttätigen Sekunde wurde dieser Wille zum Entschluß. Ich lief hinunter zum Portier, kündigte ihm an, daß ich heute mit dem Abendzug abreise. Und nun galt es, eilig zu sein: ich klingelte dem Mädchen, daß sie mir behilflich sei, meine Sachen zu packen – die Zeit drängte ja; und während wir gemeinsam in wetteifernder Hast Kleider und kleines Gebrauchsgerät in die Koffer verstauten, träumte ich mir die ganze Überraschung aus: wie ich ihn an den Zug begleiten würde, um dann im letzten, im allerletzten Moment, wenn er mir die Hand schon zum Abschied geboten, plötzlich zu dem Erstaunten in den Wagen zu steigen, mit ihm für diese Nacht, für die nächste – solange er mich wollte. [...]
Blindwütig
stürmte ich hin zur Schranke, aber da wehrte wieder der Schaffner:
Ich hatte vergessen, ein Billett zu nehmen. Und während ich mit
Gewalt beinahe ihn bereden wollte, mich dennoch auf den Perron zu
lassen, setzte sich der Zug bereits in Bewegung: ich starrte hin,
zitternd an allen Gliedern, wenigstens noch einen Blick von
irgendeinem der Waggonfenster zu erhaschen, ein Winken, einen Gruß.
Aber ich konnte inmitten des eilfertigen Geschiebes sein Antlitz
nicht mehr wahrnehmen. Immer rascher rollten die Wagen vorbei, und
nach einer Minute blieb nichts als qualmendes, schwarzes Gewölk vor
meinen verdunkelten Augen. [...]
Aber
bedenken Sie, wie blitzhaft jene Geschehnisse mich überstürmten –
ich hatte kaum anderes gefühlt als einen einzigen betäubenden
Schlag. Nun aber, zu rauh aus jenem Tumult erweckt, wollte ich mich
auf dies hinfliehend Erlebte noch einmal Zug um Zug nachgenießend
besinnen, dank jenem magischen Selbstbetrug, den wir Erinnerung
nennen – freilich: Das sind Dinge, die man begreift oder nicht
begreift. Vielleicht braucht man ein brennendes Herz, um sie zu
verstehen.
So ging ich zunächst in den Spielsaal, den Tisch zu
suchen, wo er gesessen, und dort unter all den Händen die seinen mir
zu erdenken. Ich trat ein: es war, ich wußte es noch, der linke
Tisch gewesen im zweiten Zimmer, wo ich ihn zuerst erblickt. Noch
deutlich stand jede seiner Gesten vor mir: traumwandlerisch, mit
geschlossenen Augen und vorgestreckten Händen hätte ich seinen
Platz gefunden. Ich trat also ein, ging gleich quer durch den Saal.
Und da … wie ich von der Tür aus den Blick gegen das Gewühl
wandte … da geschah mir etwas Sonderbares … da saß genau an der
Stelle, an die ich mir ihn hingeträumt, da saß – Halluzinationen
des Fiebers! – … er wirklich … Er … Er … genau so, wie ich
ihn eben träumend gesehen … genau so wie gestern, stier die Augen
auf die Kugel gerichtet, geisterhaft bleich … aber Er … Er …
unverkennbar Er … Mir war, als müßte ich aufschreien, so erschrak
ich. Aber ich bezähmte meinen Schrecken vor dieser unsinnigen Vision
und schloß die Augen. ›Du bist wahnsinnig … du träumst … du
fieberst‹, sagte ich mir. ›Es ist ja unmöglich, du halluzinierst
… Er ist vor einer halben Stunde von hier weggefahren.‹ Dann erst
tat ich die Augen wieder auf. Aber entsetzlich: genau so wie vordem
saß er dort, leibhaft unverkennbar … unter Millionen hätte ich
diese Hände erkannt … nein, ich träumte nicht, er war es
wirklich. Er war nicht weggefahren, wie er mir geschworen, der
Wahnwitzige saß da, er hatte das Geld, das ich ihm zur Heimreise
gegeben, hierhergetragen an den grünen Tisch und vollkommen
selbstvergessen in seiner Leidenschaft hier gespielt, indes ich
verzweifelt mir das Herz nach ihm ausgerungen. Ein Ruck stieß mich
vorwärts: Wut überschwemmte mir die Augen, rasende rotblickende
Wut, den Eidbrüchigen, der mein Vertrauen, mein Gefühl, meine
Hingabe so schändlich betrogen hatte, an der Gurgel zu fassen. Aber
ich bezwang mich noch. Mit gewollter Langsamkeit (wieviel Kraft
kostete sie mich!) trat ich an den Tisch gerade ihm gegenüber, ein
Herr machte mir höflich Platz. Zwei Meter grünes Tuch standen
zwischen uns beiden, und ich konnte, wie von einem Balkon herab in
ein Schauspiel, hinstarren in sein Gesicht, in eben dasselbe Gesicht,
das ich vor zwei Stunden überstrahlt gesehen hatte von Dankbarkeit,
erleuchtet von der Aura der göttlichen Gnade, und das nun ganz
wieder in allen Höllenfeuern der Leidenschaft zuckend verging. Die
Hände, dieselben Hände, die ich noch nachmittags im heiligsten Eid
an das Holz des Kirchengestühls verklammert gesehen, sie krallten
jetzt wieder gekrümmt im Geld herum wie wollüstige Vampire. Denn er
hatte gewonnen, er mußte, viel, sehr viel gewonnen haben: vor ihm
glitzerte ein wirrer Haufen von Jetons und Louisdors und Banknoten,
ein schütteres, achtloses Durcheinander, in dem die Finger, seine
zitternden, nervösen Finger sich wohlig streckten und badeten. Ich
sah, wie sie streichelnd die einzelnen Noten festhielten und
falteten, die Münzen drehten und liebkosten, um dann plötzlich mit
einem Ruck eine Faustvoll zu fassen und mitten auf eines der Karrees
zu werfen. Und sofort begannen die Nasenflügel jetzt wieder diese
fliegenden Zuckungen, der Ruf des Croupiers riß ihm die Augen, die
gierig flackernden, vom Gelde weg hin zu der splitternden Kugel, er
strömte gleichsam von sich selber fort, indes die Ellenbogen dem
grünen Tisch mit Nägeln angehämmert schienen. Noch furchtbarer,
noch grauenhafter offenbarte sich sein vollkommenes Besessensein als
am vergangenen Abend, denn jede seiner Bewegungen mordete in mir
jenes andere,... [...]
Ich
kann Ihnen meine Erbitterung, meine Verzweiflung nicht schildern.
Aber denken Sie sich mein Gefühl: für einen Menschen, dem man sein
ganzes Leben hingeworfen hat, nicht mehr als eine Fliege zu sein, die
man lässig mit der lockeren Hand wegscheucht. Wieder kam diese Welle
von Wut über mich. Mit vollem Griff packte ich seinen Arm, daß er
auffuhr. ›Sie werden sofort aufstehen!‹ flüsterte ich ihm leise,
aber befehlend zu. ›Erinnern Sie sich, was Sie heute in der Kirche
geschworen, Sie eidbrüchiger, erbärmlicher Mensch.‹ Er starrte
mich an, betroffen und ganz blaß. Seine Augen bekamen plötzlich den
Ausdruck eines geschlagenen Hundes, seine Lippen zitterten. Er schien
sich mit einem Mal alles Vergangenen zu erinnern, und ein Grauen vor
sich selbst ihn zu überkommen. ›Ja … ja …‹, stammelte er. ›O
mein Gott, mein Gott … Ja … ich komme schon, verzeihen Sie …‹
Und schon raffte seine Hand das ganze Geld zusammen, schnell zuerst,
mit einem zusammenreißenden, vehementen Ruck, aber dann allmählich
träger werdend und wie von einer Gegenkraft zurückgeströmt. Sein
Blick war neuerdings auf den russischen General gefallen, der eben
pointierte. ›Einen Augenblick noch …‹ er warf rasch fünf
Goldstücke auf das gleiche Feld … ›Nur noch dieses eine Spiel …
Ich schwöre Ihnen, ich komme sofort … nur noch dieses eine Spiel …
nur noch …‹ Und wieder verlosch seine Stimme. Die Kugel hatte zu
rollen begonnen und riß ihn mit sich. [...]
Über den Exhibitionismus von Stefan Zweig ZEIT Nr.40 1.10.15
Über den Exhibitionismus von Stefan Zweig ZEIT Nr.40 1.10.15
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