Das europäische Mittelalter bildet sich in dem Zusammenstoß und der Verschmelzung des germanisch-heidnischen Lebens mit dem romanisch-christlichen. Der jugendlich-kräftige Germanenstamm zerbricht das morsche Römerreich und gründet auf den Trümmern desselben neue, eigentümliche Staatenbildungen. Aber die Kultur der Besiegten, noch nicht die literarische, sondern die bürgerlich-gesellige, übt rückwirkend ihre Macht auf die Sieger aus. Und eben im Zerfall der alten Welt ist ein neues, geistiges Licht angezündet worden, das Christentum, vor dessen aufglänzendem Strahl die heidnischen Eroberer sich niederwerfen. Die Geisteskräfte nun, welche aus dem Kampf und der Vermittlung jenes weitgreifenden Gegensatzes ein neues Weltalter erschaffen, sind diejenigen, deren vorherrschende Wirksamkeit überall der wissenschaftlichen Bildung, dem Reiche des Gedankens vorangeht, dieselben, welche vorzugsweise das dichterische Vermögen ausmachen, die Kräfte der Phantasie und des Gemüts. Alle größern Erscheinungen des Mittelalters zeigen uns diesen Charakter des Phantastisch-Gemütlichen. Nehmen wir die Kreuzzüge, welche jahrhundertelang die Völker aufgeregt, so werden uns die politischen Triebfedern, welche dabei mitunterliefen, doch nimmer ausreichend bedünken, diese große Bewegung hervorzubringen; selbst die religiösen Antriebe dieser kriegerischen Wallfahrten setzen einen auf das Phantastische gerichteten Glauben voraus. [...]
Indem wir jedoch Phantasie und Empfindung, die wir als dauernde, konstante Seelenstimmung Gemüt nennen, für die auszeichnenden Bestandteile des Dichtervermögens erklärt haben, für diejenigen, wodurch es sich von andern Fähigkeiten und Richtungen des Geistes eigens unterscheidet, so war es keineswegs die Absicht, dem Dichter die Denkkraft abzusprechen oder zu erlassen. [...] Der Zusammenhang und Fortschritt der Zeiten aber wird uns nicht zu der lieblosen und einbildischen Ansicht der Weltgeschichte verleiten, als wäre je die frühere Periode nur vorhanden gewesen, um die spätere zur Reife zu bringen, so daß gerade nur um unsertwillen, die wir jetzt über dem Boden stehen, alle die gelebt hätten, die darunter liegen. Wir müssen in jedem einzelnen und in jedem Geschlechte der Menschen den Selbstzweck anerkennen; [...]
Das Höchste, was eine Zeit in sich trägt und was sie niemals ganz verwirklicht, ist ihre Ideenwelt: das Mittelalter hat die seinige in der Poesie niedergelegt, nur diese also kann uns seinen innern Gehalt erschließen.
[...] die geschichtliche Auffassung kennt das Werden und das Gewordene, sie unterscheidet das Wesentliche von dem Zufälligen, sie verbindet, was in der Wirklichkeit durch Zeit und Raum getrennt war. [...]
Der erste Abschnitt behandelt das älteste Erbteil der deutschen Poesie, die Heldensage, das Epos, tief im heidnischen Glauben und in der angestammten germanischen Sitte wurzelnd. Der zweite gibt uns in den Heiligensagen und Rittergedichten Erzeugnisse des eingeführten Christenglaubens und seiner Verbindung mit den Begriffen und Angewöhnungen der bekehrten Völker. Der dritte zeigt uns im Minnesang eine Verschmelzung des Naturgefühls und Naturdienstes mit den geistigen Einflüssen des Christentums und den geselligen der romanischen Bildung. Im vierten endlich, unter dem Namen der Lehr- und Zeitgedichte, fassen wir alles das zusammen, was eine unmittelbare praktische Richtung auf das Leben hat: Spruchgedichte, Lehrfabeln, politisch-kirchliche Streitgedichte, Satiren und Schwanke, Sittenschilderungen nach den verschiedenen Ständen und hieran angereiht auch die Lebensverhältnisse der Dichter selbst. Hier werden wir erkennen, wie der Gedanke, die Betrachtung, der gesunde Haus- und Welt- Verstand mitten unter den phantastischen Stimmungen des Mittelalters sein Recht behauptet, wie er mehr und mehr über diese das Übergewicht erlangt hat, und so wird uns dieser letzte Abschnitt den natürlichen Übergang des Mittelalters in die neuere Zeit ausmachen. Aber eben mit dieser Anlage im Größern ist die chronologische Anreihung der einzelnen vorhandenen Werke nicht verträglich. Eine solche literarische Chronologie hat zwar auch ihr besondres Interesse. Sie kann uns zeigen, wie zuerst die Geistlichkeit, der christliche Priesterstand, sich im ausschließlichen Besitze der Schrift befand, so daß alle Schriftwerke von der frühesten Zeit bis in das letzte Viertel des zwölften Jahrhunderts, mit ganz seltener Ausnahme, von Geistlichen verfaßt, daher auch meist geistlichen Inhalts sind oder, sofern ihr Inhalt ein weltlicher ist, die Spur der geistlichen Hand an sich tragen, wie dann um die bemerkte Zeit die Handhabung der Schrift, wenigstens mittels des Diktierens, allmählich auch auf die Laien, den Ritterstand, überging und zuletzt, bei zerfallender Bildung des Adels, der Bürgerstand sich der Literatur bemächtigte. Diesen Gang der literarischen Ausbildung werden wir zwar stets im Auge haben, aber er kann die Anordnung eines Vortrags nicht bestimmen, dem es hauptsächlich um den innern Bestand der Dichtungskreise zu tun ist.
Ludwig Uhland: Geschichte der deutschen Poesie im Mittelalter
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