Nach drei langen Monaten, die ihm wie Jahre erschienen waren, kam er in Kursk wieder mit Berzejew zusammen. »Sooft ich dich wiedersehe«, sagte Berzejew, »erscheinst du mir anders! Das war schon damals so, als wir uns auf der Flucht immer wieder trennen mußten. Man könnte sagen, du veränderst dein Gesicht noch schneller als deinen Namen.« Seit seiner Rückkehr nach Rußland trug Friedrich jenes Pseudonym, unter dem er Artikel in den Zeitungen veröffentlicht hatte. Er gestand es nicht einmal Berzejew, daß er im stillen seinen neuen Namen liebte wie eine Art von Rang, den man sich selbst verleiht. Er liebte ihn als den Ausdruck seiner neuen Existenz. Er liebte die Kleidung, die er jetzt trug, die Wendungen, die in seinem Gehirn und auf seiner Zunge lagen und die er unermüdlich hersagte und niederschrieb; denn er fand eine Wollust gerade in der Wiederholung. Hundertmal schon hatte er vor den Soldaten dasselbe gesagt. Hundertmal schon hatte er in Flugblättern das gleiche geschrieben. Und jedesmal erfuhr er, daß es bestimmte Worte gab, die sich niemals abnutzten und etwa den Glocken glichen, die immer den alten Klang erzeugten, aber auch immer einen neuen Schauder, weil sie so hoch und unerreichbar über den Köpfen der Menschen hängen. Es gab Laute, die nicht von menschlichen Zungen geformt, sondern mitten unter die Tausende von Worten der irdischen Sprache von unbekannten Winden getragen, verweht worden waren aus überweltlichen Sphären. Es gab das Wort »Freiheit«! Ein Wort, so unermeßlich wie der Himmel, so unerreichbar einer menschlichen Hand wie ein Gestirn. Dennoch geschaffen von der Sehnsucht der Menschen, die immer wieder nach ihm griff, und getränkt von dem roten Blut Millionen Toter. Wie viele Male hatte er schon die Phrase »Wir wollen eine neue Welt!« wiederholt. Und immer war die Wendung ebenso neu wie das, was sie ausdrückte. Und immer wieder fiel sie wie ein plötzliches Licht über ein fernes Land. Es gab das Wort »Volk«. Sprach er es vor den Soldaten aus, vor diesen Matrosen und Bauern und Tagelöhnern und Arbeitern, die er für Volk hielt, so war es ihm, als hielte er einem Licht einen Spiegel entgegen, der es verstärkte. Wie hatte er sich damals, als er noch kluge Vorträge vor den jungen Arbeitern hielt, um neue und deutlichere Worte bemüht, und wie wenig gab es eigentlich zu sagen. Wie viele nutzlose Worte zählte die Sprache, solange die wenigen einfachen noch nicht ihr Recht, ihr Maß und ihre Wirklichkeit hatten. Brot war nicht Brot, solange es nicht alle aßen und solange sein Klang von dem des Hungers begleitet wurde wie ein Körper vom Schatten. Man kam mit wenigen Gedanken, ein paar Worten und einer Leidenschaft aus, die keinen Namen hatte. Sie war Haß und Liebe zugleich. Er glaubte, sie in seiner Hand zu halten wie ein Licht, mit dem man leuchtet und mit dem man ein Feuer anzündet. Vertraut war ihm der Mord geworden wie Trinken und Essen. Es gab keine andere Art des Hassens. Vernichten, vernichten! Was die Augen tot sahen, das allein war verschwunden. Erst die Leiche des Feindes war nicht mehr Feind.
(Joseph Roth: Der stumme Prophet, Kapitel 31)
vgl. auch: J.Roth: Hiob
Joachim Meyerhoff: Man kann auch in die Höhe fallen (2024)
vor 21 Stunden
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