20 November 2013

Der stumme Prophet VI - Schweiz

Es war schon Schweizer Boden, über den er jetzt fuhr. Keine kriegerischen Plakate an den Wänden der Bahnhöfe und keine Züge mit Uniformierten mehr. Es war, als käme er unmittelbar aus einer Schlacht, nicht nur aus einem Land, das Krieg führte. Jene friedliche Welt, nach der er sich in Sibirien gesehnt hatte, begann erst hier. Ihm war, als hätte der Frieden ein merkwürdiges und unbekanntes Gesicht und als wäre der Krieg ein selbstverständlicher und natürlicher Zustand gewesen. Während der ganzen Fahrt durch Rußland, Österreich und Deutschland hatte er sich an den Gedanken gewöhnt, daß der sichere Tod in Europa herrsche. Auf einmal, an einer Grenze, begann das gewöhnliche Leben. Es war, wie wenn er an die Grenze eines Regens gekommen wäre und gerade noch hätte sehen dürfen, wie plötzlich die Scheidung zwischen blauem und bewölktem Himmel, nasser und trockener Erde wäre. Auf einmal sah er junge Männer in Zivil, die längst eine Uniform hätten tragen müssen. Auf einmal sah er Männer von Frauen einen ruhigen Abschied nehmen, und er hörte, wie sie einander »Auf Wiedersehn!« sagten. Offenbar waren alle ihres Lebens sicher. [...]
Das ist also das Wesen der Neutralität, sagte er sich. Schon vom Zug aus fühle ich, wie der Krieg nebensächlich wird. Das Bewußtsein, daß soviel Blut fließt, begleitet nicht mehr jeden Gedanken. Ich fange an, die Gleichgültigkeit Gottes zu verstehen. Die Neutralität ist eine Art Gottähnlichkeit. [...]
Kein Zimmer zu kriegen. Deserteure und Pazifisten haben die ganze Schweiz besetzt.« [...]

Ich habe Hilde nicht geschrieben. Ich habe fortwährend an sie gedacht und sie nicht einen Augenblick sehen wollen. Wenn ich mir nicht vorgenommen hätte, um jeden Preis aufrichtig zu sein, sobald ich allein vor diesem Papier sitze, hätte mich die Scham gehindert, hier niederzuschreiben, daß ich vor die Auslage des Photographen gegangen bin, wo die ganze Zeit über ein großes Porträt Hildes ausgestellt war. Es ist nicht mehr da. Ein Oberleutnant, in Farben, hängt jetzt in der Vitrine. [...]

Aber die Dämmerung kam plötzlich, und ein scharfer, kristallener, gleichmäßiger, singender Wind verschärfte die finstere Kälte der langen Nacht und schien den Frost unaufhörlich zu schleifen, damit er noch schneidender und spitzer werde.

(Joseph Roth: Der stumme Prophet, Kapitel 27ff.)

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