18 November 2013

Der stumme Prophet IV - Flucht

»Ich muß fliehen«, sagt Friedrich.
»Unmöglich jetzt, wir werden frei.«
»Verlaß dich auf mich, ich denke jeden Tag daran.«
In diesem Augenblick stößt Lion hastig die Türe auf. Er schwingt eine Zeitung.
Der österreichische Thronfolger ist erschossen. [...]
Sie fürchteten die Aufmerksamkeit der Spitzel eher auf sich zu lenken, wenn sie zusammenblieben. Sie beschlossen also, sich für einige Tage zu trennen, sich dann wieder zu treffen und in Etappen die Reise bis zur ersten größeren Stadt zurückzulegen. Der früher Angekommene sollte auf den anderen warten. Der später Angekommene später wegfahren. Fing man einen von ihnen, so wußte der andere, daß er sich vorläufig nicht zeigen dürfe. Sie waren jeden Augenblick bereit, der Polizei in die Arme zu fallen. Aber jeder von den beiden zitterte mehr um den andern als um sich. Die beständige Sorge befestigte ihre Freundschaft mehr, als wenn sie jede Gefahr gemeinsam hätten bestehen müssen, und schenkte ihnen der Reihe nach alle Arten und Grade der Liebe, die das Verhältnis der Freundschaft bestimmten: Sie wurden einander Väter, Brüder und Kinder. Immer, wenn sie sich nach einigen Tagen trafen, fielen sie sich in die Arme, küßten sich und lachten. Auch wenn keinem von ihnen unterwegs eine wirkliche Gefahr begegnet war, so blieb jeder doch von den Gefahren erschüttert, von denen er sich eingebildet hatte, daß sie den andern bedrohen. Und obwohl ihre Trennung den Zweck hatte, wenigstens einen vor der Verhaftung zu bewahren, nahmen sich doch beide im stillen vor, sich freiwillig zu stellen, wenn dem anderen etwas zustoßen sollte. [...]
Die Radikalen fielen den Konservativen in die Arme, und wie immer, wenn fremde Menschen sich in einer Gefahr verbinden und Gegner sich versöhnen, glaubte man auch damals an eine wunderbare Wiedergeburt des Landes, weil den Menschen das Wunder einer Verbrüderung genügt, damit sie an ein noch unwahrscheinlicheres glauben. So vertraut ist der menschlichen Natur die Feindschaft und so fremd die Versöhnung. [...]
»Wie rätselhaft«, sagte Friedrich zu Berzejew, als sie in ihrem Hotelzimmer saßen, »daß die einzelnen, aus denen doch die Masse gebildet ist, ihre Eigenschaften aufgeben, selbst ihre primären Instinkte verlieren. Der einzelne liebt sein Leben und fürchtet den Tod. Zusammen werfen sie das Leben weg und verachten den Tod. Der einzelne will nicht zum Militär gehn und Steuern zahlen. Zusammen rücken sie freiwillig ein und leeren ihre Taschen aus. Und das eine ist so echt wie das andere.«
(Joseph Roth: Der stumme Prophet, Kapitel 20, 22)

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