08 März 2015

Natalie

Der Erzähler gibt Auskunft über sein Verhältnis zu Mädchen:
Über Mädchen konnte ich ein Urteil gar nicht sagen, weil ich sehr wenig mit ihnen sprach und weil mich natürlich keine in meiner Zurückgezogenheit aufsuchen konnte. Wie älteren Leuten, Männern wie Frauen, kam mir oft jemand entgegen, dem ich Achtung zollen mußte; aber auch zu alten Leuten wie zu Mädchen konnte ich mich nicht drängen.

Der Erzähler ist dabei, wie Natalie ihrer Mutter Rechenschaft gibt, was sie getan hat:

»Wo bist du denn gewesen?« fragte die Mutter. »Ich bin zu mehreren Rosenstellen in dem Garten gegangen«, antwortete Natalie, »ich bin zwischen den Gebüschen neben den Zwergobstbäumen und unter den großen Bäumen, dann zu dem Kirschbaume empor und von da in das Freie hinaus gegangen. Dort standen die Saaten und es blühten Blumen zwischen den Halmen und in dem Grase. Ich ging auf dem schmalen Wege zwischen den Getreiden fort, ich kam zur Felderrast, saß dort ein wenig, ging dann auf dem Getreidehügel auf mehreren Rainen ohne Weg zwischen den Feldern herum, pflückte diese Blumen und ging dann wieder in den Garten zurück.« »Und hast du dich denn lange auf dem Berge aufgehalten, und hast du alle Zeit zu dem Aufsuchen und Pflücken dieser Blumen verwendet?« fragte Mathilde. »Ich weiß nicht, wie lange ich mich auf dem Berge aufgehalten habe; aber ich meine, es wird nicht lange gewesen sein«, antwortete Natalie, »ich habe nicht bloß diese Blumen gepflückt, sondern auch auf die Gebirge geschaut, ich habe auf den Himmel gesehen und auf die Gegend, auf diesen Garten und auf dieses Haus geblickt.«
Adalbert Stifter: Der Nachsommer, 2. Band, 3. Der Einblick

Die Wirkung des Gefühls für Natalie wirkt sich beim Erzähler in einem verstärkten Kunstverständnis aus:

die hohe Gestalt auf der Treppe trat mir immer näher, seit ich die geschnittenen Steine gesehen hatte und seit ich wußte, daß etwas unter den Lebenden wandle, das ähnlich sei.

Begegnung an der Esche bei der Felderrast:

[...] ich stand vor Natalien. Kaum zwei Schritte waren wir von einander entfernt. Das Bänklein stand zwischen uns. Der Baumstamm war jetzt etwas seitwärts. Wir erschraken beide. Ich hatte nehmlich nicht - auch nicht im Entferntesten - daran gedacht, daß Natalie auf dem Bänklein sitzen könne, und sie mußte erschrocken sein, weil sie plötzlich Schritte hinter sich gehört hatte, wo doch kein Weg ging, und weil sie, da sie sich umwendete, einen Mann vor sich stehen gesehen hatte. Ich mußte annehmen, daß sie nicht gleich erkannt habe, daß ich es sei. Ein Weilchen standen wir stumm gegenüber, dann sagte ich: »Seid ihr es, Fräulein, ich hatte nicht gedacht, daß ich euch unter dem Eschenbaume sitzend finden würde.« »Ich war ermüdet«, antwortete sie, »und setzte mich auf die Bank, um zu ruhen. Auch dürfte es wohl an der Zeit später geworden sein, als man gewohnt ist, mich nach Hause kommen zu sehen.« [...] 
Mir war es seltsam, daß ich mit Natalien allein unter der Esche der Felderrast sitze. Ihre Fußspitzen ragten in den Staub der vor uns befindlichen offenen Stelle hinaus, und der Saum ihrer Kleider berührte denselben Staub. [...] 
Endlich stand sie auf und langte nach ihrem Hute, der in dem Grase lag. Ich hob denselben auf und reichte ihn ihr dar. Sie setzte ihn auf und schickte sich zum Fortgehen an. Ich bot ihr meinen Arm. Sie legte ihren Arm in den meinigen, aber so leicht, daß ich ihn kaum empfand. Wir schlugen nicht den Weg auf den Anhöhen hin zu dem Gartenpförtchen ein, das in der Nähe des Kirschbaumes ist, sondern wir gingen auf dem Pfade, der von der Felderrast zwischen dem Getreide abwärts läuft, gegen den Meierhof hinab. Wir sprachen nun gar nicht mehr. Ihr Kleid fühlte ich sich neben mir regen, ihren Tritt fühlte ich im Gehen. [...] 
Adalbert Stifter: Der Nachsommer, 2. Band, 3. Der Einblick

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