31 Dezember 2016

David Foster Wallace: Unendlicher Spaß

David Foster Wallace: Unendlicher Spaß

An sich käme das nur unter Empfehlungen. Um die Wahrscheinlichkeit zu erhöhen, dass ich mich noch mehr damit beschäftige, nehme ich es aber schon hier auf.

24 Dezember 2016

Stefan Zweigs Leben verfilmt

Schon die erste Episode brennt sich einem ein: Der 54-jährige Zweig, gespielt von Josef Hader, ist 1936 als einziger bedeutender Exilant auf dem Schriftsteller-Kongress des PEN-Clubs in Buenos Aires anwesend – und er gibt eine für zeitgenössische Beobachter desaströse Figur ab. Der international erfolgreichste Schriftsteller deutscher Sprache, ein Flüchtling, weigert sich, ein politisches Statement gegen das Naziregime abzuliefern. Die ihn umzingelnden Reporter deuten es als Feigheit. Zweig aber, der ganz allgemein auf Sittlichkeit und Menschenfreundlichkeit abhebt, begreift sich als den Mutigen in einem Meer von Halbstarken. Es besteht schließlich kein Zweifel, dass er Humanist ist durch und durch und ein Gegner des Naziregimes, aber vereinnahmen lassen möchte er sich im Blitzlichtgewitter nicht: "Jede Widerstandsgeste, die kein Risiko in sich birgt und keine Wirkung hat, ist nichts als geltungssüchtig." Und spätestens hier, mit diesem Satz, ist man ganz in der Gegenwart – und hat die so hochfahrenden Moralprediger vor Augen, die so schnell urteilen und nervös-peinlich ihre unbeirrbaren Meinungen twittern, ohne je selbst erfahren zu haben, was es heißt, von einem Land in ein anderes transplantiert zu werden.
(Maria Schrader: Vor der Morgenröte ZEIT 15.12.16)

21 Dezember 2016

Embryo mit Mutter - ironisches Hamletschicksal

Im 13. Kapitel von Wilhelm Meisters Lehrjahren interpretiert Wilhelm den Hamlet so:

"In diesen Worten*, dünkt mich, liegt der Schlüssel zu Hamlets ganzem Betragen, und mir ist deutlich, daß Shakespeare habe schildern wollen: eine große Tat auf eine Seele gelegt, die der Tat nicht gewachsen ist."

*›Die Zeit ist aus dem Gelenke; wehe mir, daß ich geboren ward, sie wieder einzurichten.‹

McEwan versteht es in seinem neusten Roman "Nutshell" (Nussschale) (Wikipedia), der Hamletsituation ihre Tragik zu nehmen, ohne sie zu bagatellisieren. Seine Erzählerfigur, ein zweiter Hamlet, bedauert, dass er noch nicht geboren ist, und sieht darin den Hauptgrund dafür, dass er die Welt noch nicht einrichten kann. 
Er sieht sie in vorgeburtlichem Enthusiasmus und brennt darauf, nicht mehr untätiger Zuschauer sein zu müssen. 

Aus der Weltsicht des Lesers ist der Romanschluss kein Happyend, aber für den Leser von Fiktion ist es ein versöhnlicher Schluss. 

Ich persönlich tendiere dazu, dem Diktum der Washington Post Book World zuzustimmen:
"No one writing fiction in the English language surpasses Ian McEwan."

Rezensionen 
bei Perlentaucher
bei Was liest du?
bei Spiegel online
bei SWR


09 Dezember 2016

Der Schatten des Esels: Oberpriester Strobylus und Salabanda

Die Vorgeschichte

6. Kapitel 
Verhältnis des Latonentempels zum Tempel des Jason. Kontrast in den Charakteren des Oberpriesters Strobylus und des Erzpriesters Agathyrsus. Strobylus erklärt sich für die Gegenpartei des letztern, und wird von Salabanda unterstützt, welche eine wichtige Rolle in der Sache zu spielen anfängt. 

Der Dienst der Latona war (wie Strobylus den Euripides versichert hatte) so alt zu Abdera, als die Verpflanzung der Lycischen Kolonie; und die äußerste Einfalt der Bauart ihres kleinen Tempels konnte als eine hinlängliche Bekräftigung dieser Tradition angesehen werden. So unscheinbar dieser Latonentempel war, so gering waren auch die gestifteten Einkünfte seiner Priester. Wie aber die Not erfindsam ist, so hatten die Herren schon von langem her Mittel gefunden, zu einiger Entschädigung für die Kargheit ihres ordentlichen Einkommens, den Aberglauben der Abderiten in Kontribution zu setzen; und da auch dieses nicht zureichen wollte, hatten sie es endlich dahin gebracht, daß der Senat (weil er doch von keiner Besoldungszulage hören wollte) zu Unterhaltung des geheiligten Froschgrabens gewisse Einkünfte aussetzte, deren größten Teil die genügsamen und billig denkenden Frösche ihren Versorgern überließen. [...]
Aus so entgegen gesetzten Gemütsarten und aus so vielen Veranlassungen zu Neid und Eifersucht auf Seiten des Priesters Strobylus, entsprang notwendig bei beiden ein wechselseitiger Haß, der den Zwang, den ihnen ihr Stand und Platz auferlegte, mit Mühe ertrug, und nur darin verschieden war, daß Agathyrsus den Oberpriester zu sehr verachtete, um ihn sehr zu hassen, und dieser jenen zu sehr beneidete, um ihn so herzlich verachten zu können als er wohl gewünscht hätte. Zu diesem allen kam noch, daß Agathyrsus, kraft seiner Geburt und ganzen Lage, für die Aristokratie, Strobylus hingegen, ungeachtet seiner Verhältnisse zu einigen Ratsherren, ein erklärter Freund der Demokratie, und nächst dem Zunftmeister Pfriem derjenige war, der durch seinen persönlichen Charakter, seine Würde, seine schwärmerische Hitze, und eine gewisse populare Art von Beredsamkeit den meisten Einfluß auf den Pöbel hatte. Man sieht nun leicht voraus, daß die Sache mit dem Eselsschatten oder Schattenesel notwendig eine ernsthafte Wendung nehmen mußte, so bald ein paar Männer wie die beiden Hohenpriester von Abdera darein verwickelt wurden. [...]
Allein er war nun einmal in die Sache verwickelt; seine Ehre war dabei betroffen; er empfing täglich und stündlich Nachrichten, wie unziemlich der Zunftmeister und der Priester Strobylus mit ihrem Anhang wider ihn loszögen, wie sie drohten, wie übermütig sie die Sache durchzusetzen hofften, und dergleichen – und dies war mehr als es brauchte, um ihn dahin zu bringen, daß er seine ganze Macht anzuwenden beschloß, um Gegner, die er so sehr verachtete, zu Boden zu werfen, und für die Verwegenheit, sich gegen ihn aufgelehnt zu haben, zu züchtigen. Der Kabalen der Dame Salabanda ungeachtet (die nicht fein genug gesponnen waren, um ihm lange verborgen zu bleiben), war der größte Teil des Senats auf seiner Seite; und wenn gleich seine Gegner nichts unterließen, was das Volk gegen ihn erbittern konnte, so hatte er doch, zumal unter den Zünften der Gerber, Fleischer und Bäcker, einen Anhang von derben stämmichten Gesellen, die eben so hitzig vor der Stirne als nervig von Armen, und auf jeden Wink bereit waren, für ihn und seine Partei, je nachdem es nötig wäre, zu schreien oder zuzuschlagen. [...]
Man bemerkte indessen, daß bei weitem der größte Teil der Abderitinnen sich für den Erzpriester erklärte; und wo in einem Hause der Mann ein Schatten war, da konnte man sich darauf verlassen, die Frau war eine Eselin, und gemeiniglich eine so hitzige und unbändige Eselin, als man sich eine denken kann. Unter einer Menge teils heilloser teils lächerlicher Folgen dieses Parteigeistes, der in die Abderitinnen fuhr, war keine der geringsten, daß mancher Liebeshandel dadurch auf einmal abgebrochen wurde, weil der eigensinnige Seladon lieber seine Ansprüche als seine Partei aufgeben wollte; so wie hingegen auch mancher, der sich schon Jahre lang vergebens um die Gunst einer Schönen beworben und ihre Antipathie gegen ihn durch nichts, was gewöhnlich von einem unglücklichen Liebhaber versucht wird, hatte überwinden können, jetzt auf einmal keines andern Titels bedurfte um glücklich zu werden, als seine Dame zu überzeugen daß er – ein Esel sei. [...]
8. Kapitel 
Gute Ordnung in der Kanzlei von Abdera. Präjudizialfälle, die nichts ausmachen. Das Volk will das Rathaus stürmen, und wird von Agathyrsus besänftigt. Der Senat beschließt, die Sache dem großen Rat zu überlassen. 

Die Kanzlei der Stadt Abdera – weil es doch die Gelegenheit mit sich bringt, ihrer hier mit zwei Worten zu erwähnen – war überhaupt so gut eingerichtet und bedient, als man es von einer so weisen Republik erwarten wird. Indessen hatte sie doch mit vielen andern Kanzleien zwei Fehler gemein, über welche zu Abdera schon seit Jahrhunderten fast täglich Klage geführt wurde, ohne daß jemand auf den Einfall gekommen wäre: ob es nicht etwa möglich sein könnte, dem Übel auf eine oder andre Weise abzuhelfen? Das eine dieser Gebrechen war, daß die Urkunden und Akten in einigen sehr dumpfen und feuchten Gewölben verwahrt lagen, wo sie aus Mangel der Luft verschimmelten, vermoderten, von Schaben und Würmern gefressen, und nach und nach ganz unbrauchbar wurden; das andre, daß man, alles Suchens ungeachtet, nichts darin finden konnte. So oft dies begegnete, pflegte irgend ein patriotischer Ratsherr, meistens mit Beistimmung des ganzen Senats, die Anmerkung zu machen: «Es komme bloß daher, weil keine Ordnung in der Kanzlei gehalten werde.» In der Tat ließ sich schwerlich eine Hypothese erdenken, vermittelst welcher diese Erscheinung auf eine leichtere und begreiflichere Weise zu erklären gewesen wäre. Daher kam es nun, daß fast allemal, wenn bei Rat beschlossen wurde daß in der Kanzlei nachgesehen werden sollte, jedermann schon voraus wußte und meistens sicher darauf rechnete, daß sich nichts finden würde. Und eben daher kam es auch, daß die gewöhnliche Erklärung, die bei der nächsten Ratssitzung erfolgte, «es habe sich, alles Suchens ungeachtet, nichts in der Kanzlei gefunden», mit der kaltsinnigsten Gelassenheit, als eine Sache die man erwartet hatte und die sich von selbst verstand, aufgenommen wurde. [...]
Indessen hatte der Auflauf, der hierdurch verursacht wurde, eine Anzahl Esel herbei gerufen, die den Herren von ihrer Partei mit Knitteln, Feuerzangen, Hämmern, Fleischmessern, Mistgabeln, und dem ersten dem besten was ihnen in die Hände gefallen war, zu Hülfe kommen wollten: und wiewohl sie von den Schatten bei weitem übermehrt waren; so trieb sie doch ihre Herzhaftigkeit und die Verachtung, womit sie die ganze Partei der Schatten ansahen, die wörtlichen Beleidigungen mit so nachdrücklichen Hieben und Stößen zu erwidern, daß es blutige Köpfe absetzte, und das Handgemeng in wenig Augenblicken allgemein wurde. Bei so gestalten Sachen war nun freilich in der Ratsstube nichts andres zu tun, als einhellig zu beschließen: daß man, lediglich aus Liebe zum Frieden und um des gemeinen Besten willen, für diesmal citra praejudicium sich gefallen lassen könne, daß der Handel wegen des Eselsschattens vor den großen Rat gebracht, und der Entscheidung desselben überlassen würde.  [...]

(Wieland: Die Abderiten, 2. Teil 4. Buch 6.-8. Kapitel)

Der Proceß um des Esels Schatten

Veranlassung des Prozesses und Facti Species. 
Kaum hatten sich die guten Abderiten von dem wunderbaren Theaterfieber, womit sie des ehrlichen, arglosen Euripides Götter- und Menschenherrscher Amor heimgesucht hatte, wieder ein wenig erholt; kaum sprachen die Bürger wieder in Prosa mit einander auf den Straßen, kaum verkauften die Drogisten wieder ihre Niesewurz, schmiedeten die Waffenschmiede wieder ihre Rapiere und Transchiermesser, machten sich die Abderitinnen wieder keusch und emsig an ihr Purpurgewebe, und warfen die Abderiten ihr leidiges Haberrohr weg, um ihren verschiednen Berufsarbeiten wieder mit ihrem gewöhnlichen guten Verstande obzuliegen [...]
Die Sache fing sich (wie alle große Weltbegebenheiten) mit einer sehr geringfügigen Veranlassung an. Ein gewisser Zahnarzt, namens Struthion, von Geburt und Voreltern aus Megara gebürtig, hatte sich schon seit vielen Jahren in Abdera häuslich niedergelassen; und weil er vielleicht im ganzen Lande der einzige von seiner Profession war, so erstreckte sich seine Kundschaft über einen ansehnlichen Teil des mittäglichen Thracien. [...]
Struthion mietete sich also einen andern Esel, bis zu dem Orte, wo er sein erstes Nachtlager nehmen wollte, und der Eigentümer begleitete ihn zu Fuße, um das lastbare Tier zu besorgen und wieder nach Hause zu reiten. Der Weg ging über eine große Heide. Es war mitten im Sommer und die Hitze des Tages sehr groß. Der Zahnarzt, dem sie unerträglich zu werden anfing, sah sich lechzend nach einem schattigen Platz um, wo er einen Augenblick absteigen und etwas frische Luft schöpfen könnte. Aber da war weit und breit weder Baum noch Staude, noch irgend ein andrer Schatten gebender Gegenstand zu sehen. Endlich, als er seinem Leibe keinen Rat wußte, machte er Halt, stieg ab, und setzte sich in den Schatten des Esels. «Nu, Herr, was macht Ihr da», sagte der Eseltreiber, «was soll das?» «Ich setze mich ein wenig in den Schatten», versetzte Struthion, «denn die Sonne prallt mir ganz unleidlich auf den Schädel.» «Nä, mein guter Herr», erwiderte der andre, «so haben wir nicht gehandelt! Ich vermiete Euch den Esel, aber des Schattens wurde mit keinem Worte dabei gedacht.» «Ihr spaßt, guter Freund», sagte der Zahnarzt lachend; «der Schatten geht mit dem Esel, das versteht sich.» «Ei, beim Jason! das versteht sich nicht», rief der Eselmann ganz trotzig; «ein andres ist der Esel, ein andres ist des Esels Schatten. Ihr habt mir den Esel um so und so viel abgemietet. Hättet Ihr den Schatten auch dazu mieten wollen, so hättet Ihrs sagen müssen. Mit Einem Wort, Herr, steht auf und setzt Eure Reise fort, oder bezahlt mir für des Esels Schatten was billig ist.» [...]
Der ungeschlachte Mensch bestand darauf, daß er für den Schatten seines Esels bezahlt sein wollte; und da Struthion eben so hartnäckig dabei blieb nicht bezahlen zu wollen, so war kein andrer Weg übrig, als nach Abdera zurückzukehren, und die Sache bei dem Stadtrichter anhängig zu machen.  [...]
Allein diesmal kamen so viele besondere Ursachen zusammen, der Sache einen schnellern Schwung zu geben, daß man sich nicht darüber zu verwundern hat, wenn der Prozeß über des Esels Schatten binnen weniger als vier Monaten schon so weit gediehen war, daß nun am nächsten Gerichtstage das Endurteil erfolgen sollte. Ein Rechtshandel über eines Esels Schatten würde sonder Zweifel in jeder Stadt der Welt Aufsehen machen. Man denke also, was er in Abdera tun mußte! Kaum war das Gerücht davon erschollen, als von Stund an alle andre Gegenstände der gesellschaftlichen Unterhaltung fielen, und jedermann mit eben so viel Teilnehmung von diesem Handel sprach, als ob er ein Großes dabei zu gewinnen oder zu verlieren hätte. Die einen erklärten sich für den Zahnarzt, die andern für den Eseltreiber. Ja, sogar der Esel selbst hatte seine Freunde, welche dafür hielten, daß derselbe ganz wohl berechtigt wäre, interveniendo einzukommen, da er durch die Zumutung, den Zahnarzt in seinem Schatten sitzen zu lassen und unterdessen in der brennenden Sonnenhitze zu stehen, offenbar am meisten prägraviert worden sei. [...]
Endlich besann sich der ehrliche Anthrax eines Mittels, wie er vielleicht den Erzpriester ohne Dazwischenkunft der Tänzerin und ihres Kammermädchens auf seine Seite bringen könnte. Das Beste daran deuchte ihm, daß er es nicht weit zu suchen brauchte. Ohne Umschweife – er hatte eine Tochter, Gorgo genannt, die, in Hoffnung auf eine oder andre Weise beim Theater unterzukommen, ganz leidlich singen und die Zither spielen gelernt hatte. Das Mädchen war eben keine von den schönsten. Aber eine schlanke Figur, ein Paar schwarze große Augen, und die frische Blume der Jugend ersetzten (seinen Gedanken nach) reichlich was ihrem Gesicht abging; und in der Tat, wenn sie sich tüchtig gewaschen hatte, sah sie in ihrem Festtagsstaat, mit ihren langen pechschwarzen Haarzöpfen und mit einem Blumenstrauß vor dem Busen, so ziemlich dem wilden Thracischen Mädchen Anakreons ähnlich. Da sich nun bei näherer Erkundigung fand, daß der Erzpriester Agathyrsus auch ein Liebhaber vom Zitherspielen und von kleinen Liedern war, deren die junge Gorgo eine große Menge nicht übel zu singen wußte: so machten sich Anthrax und Krobyle große Hoffnung, durch das Talent und die Figur ihrer Tochter am kürzesten zu ihrem Zwecke zu kommen. Anthrax wandte sich also an den Kammerdiener des Erzpriesters, und Krobyle unterrichtete inzwischen das Mädchen, wie sie sich zu betragen hätte, um wo möglich die Tänzerin auszustechen, und von der kleinen Gartentür ausschließlich Meister zu bleiben. Die Sache ging nach Wunsch. Der Kammerdiener, der durch die Neigung seines Herrn zum Neuen und Mannigfaltigen nicht selten ins Gedränge kam, ergriff diese gute Gelegenheit mit beiden Händen; und die junge Gorgo spielte ihre Rolle für eine Anfängerin meisterlich. Agathyrsus fand eine gewisse Mischung von Unschuld und Mutwillen und eine Art wilder Grazie bei ihr, die ihn reizte weil sie ihm neu war. Kurz, sie hatte kaum zwei- oder dreimal in seinem Kabinette gesungen, so erfuhr Anthrax schon von sichrer Hand, Agathyrsus habe seine gerechte Sache verschiedenen Richtern empfohlen, und sich mit einigem Nachdruck verlauten lassen: wie er nicht gesonnen sei, auch den allergeringsten Schutzverwandten des Jasontempels den Schikanen des Sykophanten Physignatus und der Parteilichkeit des Zunftmeisters Pfriem preiszugeben. [...]
4. Kapitel 
Gerichtliche Verhandlung. Relation des Beisitzers Miltias. Urtel, und was daraus erfolgt. 
Inzwischen war der Gerichtstag herbeigekommen, an dem dieser seltsame Handel durch Urtel und Recht entschieden werden sollte. Die Sykophanten hatten in Sachen geschlossen, und die Akten waren einem Referenten, namens Miltias, übergeben worden, gegen dessen Unparteilichkeit die Mißgönner des Zahnarztes verschiednes einzuwenden hatten. Denn es war nicht zu leugnen, daß er mit dem Sykophanten Physignatus sehr vertraut umging; und überdies wurde ganz laut davon gesprochen, daß die Dame Struthion[Fußnote: Wir wissen wohl daß dies nicht à la Grecque gesprochen ist; aber die Dame Struthion ist wie Frau Damon in unsern Komödien: und was liegt dem Leser daran, wie die Zahnärztin mit ihrem eigenen Namen geheißen haben mag? ], die für eine von den hübschen Weibern in ihrer Klasse galt, ihm die gerechte Sache ihres Mannes zu verschiedenen Malen in eigner Person empfohlen habe. Allein da diese Einwendungen auf keinem rechtsbeständigen Grunde beruhten, und der Turnus nun einmal an diesem Miltias war, so blieb es bei der Ordnung. [...]
Der Erzpriester hingegen hatte den Handel bisher nicht für wichtig genug gehalten, sein ganzes Ansehen zugunsten seines Beschützten anzuwenden. Allein da die Sachen zwischen ihm und der schönen Gorgo ernsthafter zu werden anfingen, indem sie, anstatt einer gewissen Gelehrigkeit die er bei ihr zu finden gehofft hatte, einen Widerstand tat, dessen man sich zu ihrer Herkunft und Erziehung nicht hätte vermuten sollen, ja sich sogar vernehmen ließ: «Wie sie Bedenken trage, ihre Tugend noch einmal den Gefahren eines Besuchs durch die kleine Gartentür auszusetzen», – so war es ganz natürlich, daß er nun nicht länger säumte, durch den Eifer, womit er die Sache des Vaters zu unterstützen anfing, sich ein näheres Recht an die Dankbarkeit der Tochter zu erwerben. Der neue Lärm, den der Eselsprozeß durch die Provokation an den großen Rat in der Stadt machte, gab ihm Gelegenheit, mit einigen von den vornehmsten Ratsherren aus der Sache zu sprechen. «So lächerlich dieser Handel an sich selbst sei, sagte er, so könne doch nicht zugegeben werden, daß ein armer Mann, der unter dem Schutze Jasons stehe, durch eine offenbare Kabale unterdrückt werde. Es komme nicht auf die Veranlassung an, die oft zu den wichtigsten Begebenheiten sehr gering sei; sondern auf den Geist, womit man die Sache treibe, und auf die Absichten, die man im Schilde oder wenigstens in Petto führe. [...]
(Wieland: Die Abderiten, 2. Teil 4. Buch 1.- 4. Kapitel)

07 Dezember 2016

Jutta Winkelmann: Mein Leben ohne mich

Download von Leseprobe

NDR: Eine Art Krebstagebuch einer Hippie-Ikone

"Sie und ihre Schwester Gisela galten in der Hippie-Zeit als wild und unerschrocken. Ihre Schwester heiratete den Milliardärssohn Paul Getty. Dessen Entführung 1973 durch die italienische Mafia machte auch die Schwestern weltberühmt. Ihr Leben war geprägt von Neugier, nichts war bestimmt, das, was kommen sollte, erfreulich ungewiss."


Bilder von Winkelmann, Rainer Langhans und ihrer Zwillingsschwester


Wikipedia über den spanisch-kanadischen Film gleichen Titels

03 Dezember 2016

Richard Christ: Mein Indien

Richard Christ: Mein Indien. Aufbau-Verlag,1982 (Kommentare)

File:Mumbai 03-2016 52 Dharavi near Mahim Junction.jpg
Mumbai travel map.svg 
Bilder aus: Wikivoyage Mumbai*
sieh auch: Lonely Planet Indien
Dieser Artikel ist auf Fontanefans Schnipsel entworfen und auch veröffentlicht worden.

*Mumbai. (2016, August 30). Wikivoyage, The FREE worldwide travel guide that anyone can edit. Retrieved 04:17, October 3, 2016 fromhttps://en.wikivoyage.org/w/index.php?title=Mumbai&oldid=3042379.

Das Buch liest sich gut, ist nicht komprimiert, aber auf unterhaltsame Weise unterrichtend.
Beispiele: 
Elephanta, S.34
Über die vielfältigen Göttersagen und die zentralen religiösen Texte wissen auch ungebildete Inder erstaunlich gut Bescheid. Was früher die mündliche Überlieferung leistete, leisten jetzt Comics (in schreienden Farben illustriert) in Anlehnung an die bedeutendsten und berühmtesten Skulpturen und  Plastiken sehr effektiv:
"Wir sind im Westen ungeheuer spezialisiert, von profunder Wissenschaftlichkeit [...] aber unsere Vergangenheit haben wir darüber langsam, doch unwiderrufbar verloren. Sie lebt nur noch in den Archiven und im Gedächtnis studierter Altertumsforscher. Für die Mehrzahl der Bevölkerung ist unsere Kulturgeschichte tot." (S.106)
[Die Wikipedia ermöglicht freilich zu vielem einen im Vergleich zu früher sehr unkomplizierten Zugang. Nur aufgrund des hohen Anspruchs der Autoren an sich selbst droht sie sich mehr und mehr dem Verständnis der "Mehrzahl der Bevölkerung" zu entziehen.]
Parsen. Aus Persien kommend, die geborenen Händler und Unternehmer. Kein Kastendenken, kein Verbot, Schiffe zu benutzen, wie bei den Hindus. Dafür Zoroaster, Feuerkult, keine Verunreinigung der Elemente, Totentürme, auf denen Geier das Fleisch der Menschen fressen, ohne dass Feuer, Erde oder Wasser verunreinigt werden. Freilich ... (S.118-125)
Adschanta (Ajanta WikipediaWikimedia Commons) S.143-152
Ellora (S.156ff), besonders Kailasa-Tempel ("Höhle 16"), dazu auch Lingam und Yoni.
Avatare Wischnus (Vishnu) S.160-163 (Buddha als Verkörperung Vishnus)
Pune S.164ff
"Keralas Hauptstadt Trivandrum schickt zur Begrüßung einen Mann, der in meiner Erinnerung weiterleben wird gewissermaßen als der indischste Inder." Mr. Menon. (S.225)

Vivekananda versuchte das Kastensystem aufzubrechen, Suchindram, ein eindrucksvoller Tempel (S.258 ff.)
Kasten "Wachsende Arbeitsteiligkeit führte ebenso wie die unablässige Verästelung des Hinduglaubens zu einer vielfachen Unterteilung der Stände", den Kasten. (S.266) 1927 zählten die Briten etwa 2500 Kasten, neuere Schätzungen schwanken zwischen 2000 und 3000. Zu den Parias, den Unberührbaren, Gandhi nannte sie die "Gotteskinder" , gibt es heute etwa 100 Millionen. (S.268)
Bhagavad Gita: "Ich hatte in Goa das heiligste Buch der Hindus gelesen und war verzweifelt, weil ich mir nicht einmal die Synonyme der Personen merken konnte." (S.271)
Bei der Verabschiedung sagte Mr. Menon "mir nichts von den flotten Floskeln, die einem oft wie eingelernt vom Munde gehen [...]. Er [...] sah mir lange in die Augen und sagte: [...] Denken Sie gut von mir, wenn ich Ihnen in Erinnerung komme." (S.272)
Golkonda-Festung (S.293), Koh-i-Noor (S.294)
Bangalore (S.299 ff.)
Tanz zur Geschichte der Kuhhirtin Radha und Krischnas (S.302)

Für verschiedene Stimmungen stehen bestimmte Weisen, Ragas, die so wirkmächtig sind, dass eine feurige - der Legende nach - den Sänger selbst verbrennen kann und eine andere Regen für Bengalen gebracht und so die Ernte gerettet hat. S.304) Ohne Kenntnis der Ragas sei ein Tanz nicht vergnüglicher als ein Buch für einen Analphabeten. Der Autor, Richard Christ, kann das nicht bestätigen. Er war von dem Tanz sehr angetan. (S.305)
Bild: Krischna (blau) mit Kuhhirtinnen. (Wikipedia)

R. Christ fährt auch zum Mausoleum Tipu Sultans, der mit den Franzosen gegen die Briten kämpfte. Er war so begeistert für die Französische Revolition, dass er sich gelegentlich auch Citoyen Tipu nannte. (S.305-307)
Von Maisur/Mysore geht es zu den Gärten von Vrindavan (in französischem Stil). 


In Madurai fährt Christ zum Minakshi-Tempel, dem gegenüber andere Tempelanlagen winzig erscheinen (sieh Bild aus Wikipedia). (S.313-327)

Madras (S.333 ff.)

Witwenverbrennung 
Ram Mohan Roy (1772-1833), S. 340

In Südindien wurden Denkmäler für britische Könige u.ä. weniger oft zerstört als in Nordindien. (S.344)

Streit um die indische Gemeinsprache. Die Verhandlungen wurden auf Englisch geführt. Die Entscheidung fiel für Hindi. Bengalen und Tamil Nadu wehrten sich dagegen. Bis 1975 sollte der Umlernprozess abgeschlossen sein. (S.346)
1983 war das noch nicht erreicht.
Im Süden von Madras eine Schlangenfarm und das "Welthauptquartier der Theosophischen Gesellschaft." (S,349)
Schlangen sind in Südindien und Bengalen fast so heilig wie die Kühe. Sie sind oft als eine Art Halstuch oder Gürtel Begleiter der Götter, dienen als Tempelwächter, müssen aber vor"skrupellosen Händlern geschützt" werden. (S.350)
Mamalapuram (S.357)
heutige Steinmetze (S.359)
auf dem Lande, Reisfelder (S.363ff.)
Auroville (S.371)
Aurobindo Ghose
Mirra Alfassa ("die Mutter")
Matrimandir (S.372)
Pondicherry (S.379)


Banyan-Feige (Ficus Benghalensis L.) (S.406-408)
Milton beschreibt im "Paradise Lost" 25 Jahre vor der Gründung Kalkuttas einen solchen Baum:
"der heut in Indien bekannt,/ In Malabar und Deckhan, der die Zweige/ So breit und lang ausstreckt, dass die zum Boden/ Gesenkten Reiser wurzeln und als Töchter/ Den Mutterbaum umwachsen, hoch gewölbt,/ Ein Pfeilerwald mit widerhallenden Gängen./ Dort sucht der indische Hirt, die Hitze scheuend, / Im Kühlen Schutz und hütet seine Herden/ Durch Lücken, die er in das Dickicht haut." (S.406)
Der Same des Baums wurde 1786 in den Boden gesenkt. Als Queen Viktiria sich zur Kaiserin Indiens machte, hatte der Hauptstamm schon 15 Meter Umfang. Zur Zeit des Ersten Weltkriegs war der Kronenumfang 300 Meter. Während der Regierungszeit Georgs V. verliert der Baum seinen Hauptstamm. Seine Krone wird weiter von den Luftwurzeln gehalten. Eine Zählung ergibt 526.
1947 dann zum Ende der britischen Herrschaft bedeckt der Baum eine Fläche von 7000 Quadratmetern. Die Krone hat einen Umfang von 400 m. Unter Indira Gandhi Höhe des Baums 27 Meter, Kronenumfang 417 m. 1983 zählt Richard Christ 1125 Stämme.

Kalkutta ist einmalig in seinem Verkehrschaos "Weil es keine Stdt gibt, die so wenige Quadratmeter für den Verkehr unbebaut lässt (im indischen Vergleich dreimal weniger als Bombay)."
Im Stau ergibt sich folgender Eindruck: "Die gesamte Bewegungsenergie der Fahrzeuge scheint sich umzuwandeln in Geräusche." (S.409) "Jam hour: Wenn alles zerrieben und zermahlen wird zu Verkehrsmarmelade." (S.410)

New Market: "Schaufenster gibt es nicht, alle Ware liegt offen. Jedes Stehenbleiben provoziert ein fast gewalttätiges Angebot." (S.414)

Bettler
"Hier wird in anderem Stil gebettelt, unfreundlich, fast aggressiv. [...] Die Miserablen setzen das letzte ein, was ihnen geblieben ist, ihre Krankheit. Sie bedrängen mit beulenbesetzten Gliedern und zerfressenen Gesichtern die ahnungslose Kundschaft, verursachen Schrecken und Ekel, aus dem jeder bereit ist, sich loszukaufen [...] Ihr Aussatz ist echt. Sie betteln ohne Vorspiegelung falscher Leiden." (S.415)
"Die Statistik neutralisiert das Grauen zu Zahlen. In derStadt werden jährlich zehn Millionen Dollar erbettelt, allein gewerbsmäßige Bettler zählt man hundertfünfzigtausend." (S.415)
"Seither stirbt Kalkuttas Armut unter den sanften Händen der Mutter Theresa und ihrer tapferen Helfer. Das Los der Todkranken wird gelindert, ohne dass missioniert würde. [...] das Heim, in dem noch niemand verzweifelt, verlassen, unversorgt oder - dies ist vielleicht das Größte, was Mutter Theresa leistet - ungeliebt gestorben ist." (S.416)

Lord Curzon, Kaiserin Victoria (S.430)

Orissa, Puri, Kaiser Aschoka (S.435 ff.)
Entfernungsmaß: "Geh einen grünen Zweig lang! Es ist die durch das Verdorren eines gebrochenen Zweiges geeichte kurze Zeitspanne." (S.441)
Dschagannath (S.441 ff.) Sein Tempel steht von Beginn an allen Kasten der Hindus offen. Er wird behandelt "als regierendes Oberhaupt von Orissa", gewaschen, angezogen, gespeist, umgezogen, gespeist ... (S.443) Das Götterbild ist aus Holz und unvollständig (S.444)

Varanasi, Ganges, Ghat, (S.457ff.) 
"Denn vor allem die Alten, einen Schritt vor dem Grab, wollen nach Varanasi. Der Fluß wäscht alle Sünden ab und sichert die Wiedergeburt in besserer Existenz." (S.464) "Panchganga-Ghat, unter ihm sollen sich fünf heilige Flüsse treffen." (S.467)

"Chemiker haben Versuchsreihen angesetzt, mischten Gangawasser mit Choleraerrregern. Die Krankheitskeime starben nach kurzer Zeit ab. [...] man vermutet desinfizierende mineralische Bestandteile [...] (S.473)

Kinderhochzeit ist verboten. "Vor kurzem habe ich in der Presse gelesen, daß in Radschasthan an einem Tag, der als besonders glückverheißend gilt, zehntausend Kinder vermählt worden sind." (S.479) Essen im Tempel der tibetischen Lamaisten (S.481ff.)

Lord Krishna (S.484) Tadsch Mahal (S.488)

Ali: "Ich bin wie Kaiser Akbar. Ich war nie in einer Schule." (S.502)

KhadschurahoTempelKamasutra, (S.502 ff.)

Raschputenland, Dschaipur, Pfauen (S.517)
Dschai Singh II. "Palast der Winde" (nur Fassade aus lauter Erkern) (S.519)
Amber, Elefant,
Udaipur, Maharana, Maharadscha, Insel Dschag Mandir,
Nagda (S.531) Mewar 
"Spruch aus einem Handbuch über Radschstan: "Sieh Venedig und stirb, aber sieh Udaipur und lebe, um es wieder und wieder zu sehen!" Bei Vollmond gab es da gar nichts zu Belächeln." (S.532)

Simla; Hanuman "Sein Affenfuß hat hier einen Abdruck hinterlassen, als er auf die Insel Ceylon hinübersprang, wo er Rama beistand. Es sind die gleichen Mythen, wie sie dreitausend Kilometer südlich, in Tamil Nadu oder Kerala erzählt werden. Sie verbinden das Land, und wenn es ein Indien gibt, trotz vieler Nationalitäten, Religionen, Rassen, Kasten, so sind die alten Geschichten, so ist Poesie nicht unbeteiligt daran." (S.592)

"Die schwimmenden Gärten im Paradies" (S.593)
KaschmirSrinagar (S.593)
Shalimar-GärtenDal-See. (S.602)

Kangar/Kangri: ein Korb mit irdenem oder Messingeinsatz, den man in Kaschmir statt der nicht vorhandenen Öfen verwendet. Man nimmt ihn unter dem Umhang auch nach draußen mit. Gefüllt ist er mit glühender Holzkohle "gebrannt aus Kiefernholz, das mit den Flüssen vom Gebirge heruntertreibt. Gewöhnlich wird noch trockenes Laub zugefüllt." (S.607) "die individuelle Art des Heizens", recht ökologisch.

Der Bergführer (S.611), Weg zum Nanga Parbat. Der liegt in Wolken.   

"ein Wort aus dem Sanskrit: "Wer kann getadelt werden, wenn er trotz redlicher Bemühung das erwünschte Ziel nicht erreicht?" (S.625)


Weiteres zu Indien:

eher etwas zum Schmökern: 
- "An den inneren Ufern Indiens. Eine Reise entlang des Ganges" von Ilija Trojanow, Piper
- "Der Sadhu an der Teufelswand. Reportagen aus einem anderen Indien" von Ilija Trojanow, Sierra Taschenbuch
- "Notbremse nicht zu früh ziehen! Mit dem Zug durch Indien" von Andreas Altmann von Rowohlt Tb.

26 November 2016

Hinweis für Geschichtsschreiber

Wie ganz Abdera vor Bewunderung und Entzücken über die Andromeda des Euripides zu Narren wurde. Philosophisch-kritischer Versuch über diese seltsame Art von Phrenesie, welche bei den Alten insgemein die Abderitische Krankheit genannt wird, – den Geschichtschreibern ergebenst zugeeignet. 
Als der Vorhang gefallen war, sahen die Abderiten noch immer mit offnem Aug und Munde nach dem Schauplatze hin; und so groß war ihre Verzückung, daß sie nicht nur ihrer gewöhnlichen Frage: Wie hat Ihnen das Stück gefallen? vergaßen, sondern sogar des Klatschens vergessen haben würden, wenn Salabanda und Onolaus (die bei der allgemeinen Stille am ersten wieder zu sich selbst kamen) nicht eilends diesem Mangel abgeholfen, und dadurch ihren Mitbürgern die Beschämung erspart hätten, gerade zum ersten Male, wo sie wirklich Ursache dazu hatten, nicht geklatscht zu haben. [...]
Wenn der Rat nicht (wie so viele andre, die uns von den Weisen gegeben werden) den einzigen Fehler hätte – daß er nicht praktikabel ist, so würden wir eilen was wir könnten, allen Menschen den Rat zu geben: «niemals von irgend einer Begebenheit, die ihnen erzählt wird, ein Wort zu glauben». Denn unzählige Erfahrungen, die wir hierüber seit mehr als dreißig Jahren gemacht, haben uns überzeugt, daß an solchen Erzählungen ordentlicher Weise kein Wort wahr ist; und wir wissen uns in ganzem Ernste nicht eines einzigen Falles zu besinnen, wo eine Sache, wiewohl sie sich erst vor wenigen Stunden zugetragen hatte, nicht von jedem, der sie erzählte, anders, und also (weil doch ein Ding nur auf Eine Art wahr ist) von jedem falsch erzählt worden wäre. Da es diese Bewandtnis mit Dingen hat, die zu unsrer Zeit, an dem Ort unsers Aufenthalts, und beinahe vor unsern sichtlichen Augen geschehen sind: so kann man leicht ermessen, wie es um die historische Treue und Zuverlässigkeit solcher Begebenheiten stehen müsse, die sich vor langer Zeit zugetragen, und für die wir keine andre Gewähr haben, als was uns davon in geschriebenen oder gedruckten Büchern vorgespiegelt wird.  [...]
(Wieland: Die Abderiten, 3.Buch, 12. Kapitel)

Euripides führt in Abdera seine Andromeda auf

Der Senat zu Abdera gibt dem Euripides, ohne daß er darum angesucht, Erlaubnis, eines seiner Stücke in dem Abderitischen Theater aufzuführen. Kunstgriff, wodurch sich die Abderitische Kanzlei in solchen Fällen zu helfen pflegte. Schlaues Betragen des Nomophylax. Merkwürdige Art der Abderiten, einem, der ihnen im Wege stand, allen Vorschub zu tun. 
Nachdem Euripides die Wahrzeichen von Abdera sämtlich in Augenschein genommen hatte, führte man ihn nach dem Garten der Salabanda, wo er den Ratsherrn ihren Gemahl (einen Mann, der bloß wegen seiner Gemahlin bemerkt wurde) und eine große Gesellschaft von Abderitischem Beau-Monde fand, alle sehr begierig zu sehen, wie man es machte, um Euripides zu sein. Euripides sah nur Ein Mittel sich mit Ehren aus der Sache zu ziehen; und das war – in so guter Abderitischer Gesellschaft nicht Euripides – sondern so sehr Abderit zu sein als ihm nur immer möglich war. Die wackern Leute wunderten sich, ihn so gleichartig mit ihnen selbst zu finden. «Es ist ein scharmanter Mann», sagten sie; «man dächte, er wäre sein Leben lang in Abdera gewesen.» [...]
Das ist eine wunderliche Art zu agieren, flüsterten sie einander zu; man merkt gar nicht daß man in der Komödie ist; es klingt ja ordentlich als ob die Leute ihre eignen Rollen spielten. Indessen bezeugten sie doch ihr Erstaunen über die Dekorationen, die zu Athen von einem berühmten Meister in der Theaterperspektiv gemalt waren; und da die meisten in ihrem Leben nichts gutes in dieser Art gesehen hatten, so glaubten sie bezaubert zu sein, wie sie das Ufer des Meers, den Felsen wo Andromeda angefesselt war, und den Hain der Nereiden an einer kleinen Bucht auf der einen Seite, und den Palast des Königs Cepheus in der Ferne auf der andern, so natürlich vor sich sahen, daß sie geschworen hätten, es sei alles wirklich und wahrhaftig so wie es sich darstellte. Da nun überdies die Musik vollkommen nach dem Sinne des Dichters, und also das alles war, was die Musik des Nomophylax Gryllus – nicht war; da sie immer gerad aufs Herz wirkte, und ungeachtet der größten Einfalt und Singbarkeit doch immer neu und überraschend war: so brachte alles dies, mit der Lebhaftigkeit und Wahrheit der Deklamation und Pantomime und mit der Schönheit der Stimmen und des Vortrags vereinigt, einen Grad von Täuschung bei den guten Abderiten hervor, wie sie noch in keinem Schauspiel erfahren hatten. Sie vergaßen gänzlich, daß sie in ihrem Nationaltheater saßen, glaubten unvermerkt mitten in der wirklichen Szene der Handlung zu sein, nahmen Anteil an dem Glück und Unglück der handelnden Personen, als ob es ihre nächsten Blutsfreunde gewesen wären, betrübten und ängstigten sich, hofften und fürchteten, liebten und haßten, weinten und lachten, wie es dem Zauberer, unter dessen Gewalt sie waren, gefiel; – kurz, Andromeda wirkte so außerordentlich auf sie, daß Euripides selbst gestand, noch niemals des Schauspiels einer so vollkommnen Empfindsamkeit genossen zu haben. [...]
In der Tat haben Dichter, Tonkünstler, Maler, einem aufgeklärten und verfeinerten Publikum gegen über, schlimmes Spiel; und gerade die eingebildeten Kenner, die unter einem solchen Publikum immer den größten Haufen ausmachen, sind am schwersten zu befriedigen. Anstatt der Einwirkung still zu halten, tut man alles was man kann um sie zu verhindern. Anstatt zu genießen was da ist, räsoniert man darüber was da sein könnte. Anstatt sich zur Illusion zu bequemen[Fußnote: Es versteht sich von selbst, daß der Dichter das Seinige getan haben muß, um die Illusion zu bewirken und zu unterhalten; denn sonst hat er freilich kein Recht, von uns zu verlangen, daß wir, ihm zu Gefallen, tun sollen als ob wir sähen, was er uns nicht zeigt, fühlten, was er uns nicht fühlen macht, usw. ], wo die Vernichtung des Zaubers zu nichts dienen kann als uns eines Vergnügens zu berauben, setzt man ich weiß nicht welche kindische Ehre darein, den Philosophen zur Unzeit zu machen; zwingt sich zu lachen, wo Leute, die sich ihrem natürlichen Gefühl überlassen, Tränen im Auge haben, und, wo diese lachen, die Nase zu rümpfen, um sich das Ansehen zu geben als ob man zu stark oder zu fein oder zu gelehrt sei, um sich von so was aus seinem Gleichgewicht setzen zu lassen. Aber auch die wirklichen Kenner verkümmern sich selbst den Genuß, den sie von tausend Dingen, die in ihrer Art gut sind, haben könnten, durch Vergleichungen derselben mit Dingen anderer Art; Vergleichungen, die meistens ungerecht und immer wider unsern eignen Vorteil sind. Denn das, was unsre Eitelkeit dabei gewinnt, ein Vergnügen zu verachten, ist doch immer nur ein Schatten, nach welchem wir schnappen indem uns das Wirkliche entgeht.
(Wieland: Die Abderiten 3. Buch, 10. u. 11. Kapitel)

Die Theaterdichter von Abdera

Es blieb also kein ander Mittel, als die Abderitischen Dichter auf Unkosten des Geschmacks gemeiner Stadt aufzumuntern; d.i. alle Waren, die sie gratis liefern würden, für gut zu nehmen – nach dem alten Sprichworte: Geschenktem Gaul sieh nicht ins Maul; oder, wie es die Abderiten gaben: Wo man umsonst ißt, wird immer gut gekocht. [...]
«Man sieht doch recht augenscheinlich, (sagten sie) was es auf sich hat, wenn die Künste an einem Orte aufgemuntert werden. Noch vor zwanzig Jahren hatten wir kaum zwei oder drei Poeten, von denen, außer etwa an Geburtstagen oder Hochzeiten, kein Mensch Notiz nahm. Jetzt, seit den zehn bis zwölf Jahren daß wir ein eignes Theater haben, können wir schon über sechshundert Stücke, groß und klein in einander gerechnet, aufweisen, die alle auf Abderitischem Grund und Boden gewachsen sind.» [...]
Damals, als ihnen der kleine Verdruß mit dem Arzt Hippokrates zustieß, waren unter einer ziemlichen Anzahl von Theaterdichtern, welche Handwerk davon machten, (die Freiwilligen nicht gerechnet) vornehmlich zwei im Besitz der höchsten Gunst des Abderitischen Publikums. Der eine machte Tragödien und eine Art Stücke, die man jetzt komische Opern nennt; der andere, namens Thlaps, fabrizierte eine Art von Mitteldingen, wobei einem weder wohl noch weh geschah, wovon er der erste Erfinder war, und die deswegen nach seinem Namen Thlapsödien genannt wurden. Der erste war eben der Hyperbolus, dessen schon zu Anfang dieser eben so wahrhaften als wahrscheinlichen Geschichte als des berühmtesten unter den Abderitischen Dichtern gedacht worden ist. Er hatte sich zwar auch in den übrigen Gattungen hervorgetan; die außerordentliche Parteilichkeit seiner Landsleute für ihn hatte ihm in allen den Preis zuerkannt: und eben dieser Vorzug erwarb ihm den hochtrabenden Zunamen Hyperbolus; denn von Haus aus hieß er Hegesias. Der Grund, warum dieser Mensch ein so besondres Glück bei den Abderiten machte, war der natürlichste von der Welt – nämlich eben der, weswegen er und seine Werke an jedem andern Orte der Welt als in Abdera ausgepfiffen worden wären. Er war unter allen ihren Dichtern derjenige, in welchem der eigentliche Geist von Abdera, mit allen seinen Idiotismen und Abweichungen von den schönern Formen, Proportionen und Lineamenten der Menschheit, am leibhaftesten wohnte; derjenige, mit dem alle übrigen am meisten sympathisierten; der immer alles gerade so machte wie sie es auch gemacht haben würden, ihnen immer das Wort aus dem Munde nahm, immer das eigentliche Pünktchen traf wo sie gekitzelt sein wollten; mit Einem Worte, der Dichter nach ihrem Sinn und Herzen: und das nicht etwa kraft eines außerordentlichen Scharfsinns, oder als ob er sich ein besondres Studium daraus gemacht hätte, sondern lediglich, weil er unter allen seinen Brüdern im Marsyas am meisten – Abderit war. Bei ihm durfte man sich darauf verlassen, daß der Gesichtspunkt, woraus er eine Sache ansah, immer der schiefste war woraus sie gesehen werden konnte; daß er zwischen zwei Dingen allemal die Ähnlichkeit gerade da fand, wo ihr wesentlichster Unterschied lag; daß er je und allezeit feierlich aussehen würde wo ein vernünftiger Mensch lacht, und lachen würde wo es nur einem Abderiten einfallen kann zu lachen, usw. Ein Mann, der des Abderitischen Genius so voll war, konnte natürlicher Weise in Abdera alles sein was er wollte. [...]
Ungeachtet ihn die Abderiten wegen des Bombasts seiner Schreibart ihren Äschylus zu nennen pflegten, so wußte er sich selbst doch nicht wenig mit seiner Originalität. «Man weise mir», sprach er, «einen Charakter, einen Gedanken, ein Gefühl, einen Ausdruck, in allen meinen Werken, den ich aus einem andern genommen hätte!» – «Oder aus der Natur», setzte Demokrit hinzu. – «O! (rief Hyperbolus) was das betrifft, das kann ich Ihnen zugeben, ohne daß ich viel dabei verliere. Natur! Natur! Die Herren klappern immer mit ihrer Natur, und wissen am Ende nicht was sie wollen. Die gemeine Natur – und die meinen Sie doch – gehört in die Komödie, ins Possenspiel, in die Thlapsödie, wenn Sie wollen! Aber die Tragödie muß über die Natur gehen, oder ich gebe nicht eine hohle Nuß darum.» Von den seinigen galt dies im vollesten Maß. So wie seine Personen hatte nie ein Mensch ausgesehen, nie ein Mensch gefühlt, gedacht, gesprochen noch gehandelt. Aber das wollten die Abderiten eben – und daher kam es auch, daß sie unter allen auswärtigen Dichtern am wenigsten aus dem Sophokles machten. [...]
Wie aber die menschliche Unbeständigkeit sich an allem, was in seiner Neuheit noch so angenehm ist, gar bald ersättiget, so fingen auch die Abderiten bereits an es überdrüssig zu werden, daß sie immer und alle Tage gar schön finden sollten, was ihnen in der Tat schon lange gar wenig Vergnügen machte: als der junge Thlaps auf den Einfall kam, Stücke aufs Theater zu bringen, die weder Komödie noch Tragödie noch Posse, sondern eine Art von lebendigen Abderitischen Familiengemälden wären; wo weder Helden noch Narren, sondern gute ehrliche hausgebackne Abderiten auftreten, ihren täglichen Stadt- Markt- Haus- und Familiengeschäften nachgehen, und vor einem löblichen Spektatorium gerade so handeln und sprechen sollten, als ob sie auf der Bühne zu Hause wären, und es sonst keine Leute in der Welt gäbe als sie. Man sieht, daß dies ungefähr die nämliche Gattung war, wodurch sich Menander in der Folge so viel Ruhm erwarb. Der Unterschied bestand bloß darin: daß er Athener, und jener Abderiten auf die Bühne brachte, und daß er Menander, und jener Thlaps war. Allein da dieser Unterschied den Abderiten nichts verschlug, oder vielmehr gerade zu Thlapsens Vorteil gereichte: so wurde sein erstes Stück in dieser Gattung mit einem Entzücken aufgenommen, wovon man noch kein Beispiel gesehen hatte. Die ehrlichen Abderiten sahen sich selbst zum ersten Mal auf der Schaubühne in puris Naturalibus, ohne Stelzen, ohne Löwenhäute, ohne Keule, Zepter und Diadem, in ihren gewöhnlichen Hauskleidern, ihre gewöhnliche Sprache redend, nach ihrer angebornen eigentümlichen Abderitischen Art und Weise leiben und leben, essen und trinken, freien und sich freien lassen, usw. und das war eben was ihnen so viel Vergnügen machte. Es ging ihnen wie einem jungen Mädchen, das sich zum ersten Mal in einem Spiegel sieht; sie konntens gar nicht genug bekommen."
(Wieland: Die Abderiten)

Die Sykophanten in Abdera

Rechtsstreitigkeiten übergaben die Abderiten in der Regel den Sykophanten. Das hatte den Vorteil, dass sie nicht selbst die Dinge so verdrehen mussten, dass es nach außen so erschien, als wären sie im Recht. Außerdem hatten die Sykophanten ein so gutes Verhältnis zu den Magistratspersonen, dass sie bei ihnen durchsetzen konnten, was sie wollten. Freilich: 
"Die einzigen, die sich übel bei dieser Eintracht befanden, waren – die Clienten. Bei allen andern Unternehmungen, so gefährlich und gewagt sie auch immer sein mögen, bleibt doch wenigstens eine Möglichkeit, mit ganzer Haut davon zu kommen. Aber ein abderitischer Client war immer gewiß, um sein Geld zu kommen, er mochte seinen Handel gewinnen oder verlieren. Nun rechteten die Leute zwar darum weder mehr noch weniger; allein ihre Justiz kam dabei in einen Ruf, gegen welchen nur Abderiten gleichgültig sein konnten. Denn es wurde zu einem Sprüchwort in Griechenland, demjenigen, dem man das Ärgste an den Hals wünschen wollte, einen Proceß in Abdera zu wünschen. [Hervorhebung v. Fontanefan]

Um den geneigten Leser mit keiner langweiligen Umständlichkeit aufzuhalten, begnügen wir uns zu sagen, daß Thrasyllus die Sache seinem Sykophanten auftrug. Es war einer von den geschicktesten in ganz Abdera; ein Mann, der die gemeinen Kunstgriffe seiner Mitbrüder verachtete, und sich viel darauf zugut tat, daß er, seitdem er sein edles Handwerk trieb, ein paar hundert schlimme Händel gewonnen hatte, ohne jemals eine einzige direkte Lüge zu sagen. Er steifte sich auf lauter unleugbare Fakta; aber seine Stärke lag in der Zusammensetzung und im Helldunkeln. Demokrit hätte in keine bessern Hände fallen können. Wir bedauern nur, daß wir, weil die Akten des ganzen Prozesses längst von Mäusen gefressen worden, außerstande sind, jungen neu angehenden Sykophanten zum besten, die Rede vollständig mitzuteilen, worin dieser Meister in der Kunst dem großen Rate zu Abdera bewies, daß Demokrit seines Vermögens entsetzt werden müsse. Alles, was von dieser Rede übrig geblieben, ist ein kleines Bruchstück, welches uns merkwürdig genug scheint, um, zur Probe wie diese Herren eine Sache zu wenden pflegten, ein paar Blätter in dieser Geschichte einzunehmen.
«Die größten, die gefährlichsten, die unerträglichsten aller Narren (sagte er) sind die räsonierenden Narren. Ohne weniger Narren zu sein als andre, verbergen sie dem undenkenden Haufen die Zerrüttung ihres Kopfes durch die Fertigkeit ihrer Zunge, und werden für weise gehalten, weil sie zusammenhangender rasen als ihre Mitbrüder im Tollhause. Ein ungelehrter Narr ist verloren, sobald es so weit mit ihm gekommen ist daß er Unsinn spricht. Bei dem gelehrten Narren hingegen sehen wir gerade das Widerspiel. Sein Glück ist gemacht und sein Ruhm befestiget, so bald er Unsinn zu reden oder zu schreiben anfängt. Denn die meisten, wiewohl sie sich ganz eigentlich bewußt sind daß sie nichts davon verstehen, sind entweder zu mißtrauisch gegen ihren eigenen Verstand, um gewahr zu werden daß die Schuld nicht an ihnen liegt; oder zu dumm, um es zu merken; oder zu eitel, um zu gestehen daß sie nichts verstanden haben. Je mehr also der gelehrte Narr Unsinn spricht, desto lauter schreien die dummen Narren über Wunder; desto emsiger verdrehen sie sich die Köpfe, um Sinn in dem hoch tönenden Unsinn zu finden. Jener, gleich einem durch den öffentlichen Beifall angefrischten Luftspringer, tut immer desto verwegnere Sätze, je mehr ihm zugeklatscht wird: diese klatschen immer stärker, um den Gaukler noch größere Wunder tun zu sehen. Und so geschieht es oft, daß der Schwindelgeist eines Einzigen ein ganzes Volk ergreift, und daß, so lange die Mode des Unsinns dauert, dem nämlichen Manne Altäre aufgerichtet werden, den man zu einer andern Zeit, ohne viele Umstände mit ihm zu machen, in einem Hospital versorgt haben würde. Glücklicher Weise für unsere gute Stadt Abdera ist es so weit mit uns noch nicht gekommen. Wir erkennen und bekennen alle aus Einem Munde, daß Demokrit ein Sonderling, ein Phantast, ein Grillenfänger ist. Aber wir begnügen uns über ihn zu lachen; und dies ist es eben worin wir fehlen. Jetzt lachen wir über ihn; aber wie lange wird es währen, so werden wir anfangen etwas außerordentliches in seiner Narrheit zu finden? Vom Erstaunen zum Bewundern ist nur ein Schritt; und haben wir diesen erst getan, – Götter! wer wird uns sagen können wo wir aufhören werden? – Demokrit ist ein Phantast, sprechen wir jetzt und lachen. Aber was für ein Phantast ist Demokrit? Ein eingebildeter starker Geist, ein Spötter unsrer uralten Gebräuche und Einrichtungen; ein Müßiggänger, dessen Beschäftigungen dem Staate nicht mehr Nutzen bringen als wenn er gar nichts täte; ein Mann, der Katzen zergliedert, der die Sprache der Vögel versteht, und den Stein der Weisen sucht; ein Nekromant, ein Schmetterlingsjäger, ein Sterngucker! – Und wir können noch zweifeln, ob er eine dunkle Kammer verdient? Was würde aus Abdera werden, wenn seine Narrheit endlich ansteckend würde?  [...]
(Wieland: Abderiten)

Wieland: Kosmopoliten

Es gibt eine Art von Sterblichen, deren schon von den Alten hier und da unter dem Namen der Kosmopoliten Erwähnung getan wird, und die – ohne Verabredung, ohne Ordenszeichen, ohne Loge zu halten, und ohne durch Eidschwüre gefesselt zu sein – eine Art von Brüderschaft ausmachen, welche fester zusammen hängt als irgend ein anderer Orden in der Welt. Zwei Kosmopoliten kommen, der eine von Osten, der andere von Westen, sehen einander zum ersten Male, und sind Freunde; – nicht vermöge einer geheimen Sympathie, die vielleicht nur in Romanen zu finden ist; – nicht, weil beschworne Pflichten sie dazu verbinden; sondern, weil sie Kosmopoliten sind. In jedem andern Orden gibt es auch falsche oder wenigstens unwürdige Brüder: in diesem hingegen ist dies eine völlige Unmöglichkeit; und das ist, deucht uns, kein geringer Vorzug der Kosmopoliten vor allen andern Gesellschaften, Gemeinheiten, Innungen, Orden und Brüderschaften in der Welt. Denn wo ist eine von allen diesen, welche sich rühmen könnte, daß sich niemals ein Ehrsüchtiger, ein Neidischer, ein Geiziger, ein Wucherer, ein Verleumder, ein Prahler, ein Heuchler, ein Zweizüngiger, ein heimlicher Ankläger, ein Undankbarer, ein Kuppler, ein Schmeichler, ein Schmarotzer, ein Sklave, ein Mensch ohne Kopf oder ohne Herz, ein Pedant, ein Mückensäuger, ein Verfolger, ein falscher Prophet, ein Gaukler, ein Plusmacher und ein Hofnarr in ihrem Mittel befunden habe? Die Kosmopoliten sind die einzigen, die sich dessen rühmen können. Ihre Gesellschaft hat nicht vonnöten, durch geheimnisvolle Zeremonien und abschreckende Gebräuche, wie ehmals die Ägyptischen Priester, die Unreinen von sich auszuschließen. Diese schließen sich selbst aus, und man kann eben so wenig ein Kosmopolit scheinen wenn man es nicht ist, als man sich ohne Talent für einen guten Sänger oder Geiger ausgeben kann. Der Betrug würde an den Tag kommen, so bald man sich hören lassen müßte. Die Art, wie die Kosmopoliten denken, ihre Grundsätze, ihre Gesinnungen, ihre Sprache, ihr Phlegma, ihre Wärme, sogar ihre Launen, Schwachheiten und Fehler, lassen sich unmöglich nachmachen, weil sie für alle, die nicht zu ihrem Orden gehören, ein wahres Geheimnis sind. Nicht ein Geheimnis, das von der Verschwiegenheit der Mitglieder, oder von ihrer Vorsichtigkeit nicht behorcht zu werden, abhängt; sondern ein Geheimnis, auf welches die Natur selbst ihren Schleier gedeckt hat. Denn die Kosmopoliten könnten es ohne Bedenken bei Trompetenschall durch die ganze Welt verkündigen lassen, und dürften sicher darauf rechnen, daß außer ihnen selbst kein Mensch etwas davon begreifen würde. [...]
«Du scherzest», erwiderte unser Mann: «die Abderiten sollten zum Gefühl, wo es ihnen fehlte, gekommen sein? Ich kenne sie zu gut. Darin liegt eben ihre Krankheit, daß sie dies nicht fühlen.» «Indessen», sagte der andre, «ist nichts gewisser, als daß ich jetzt nicht in Abdera wäre, wenn die Abderiten nicht von dem nämlichen Übel, wovon du sprichst, geplagt würden. Die armen Leute!» «Ah! nun versteh ich dich! Deine Berufung konnte eine Wirkung ihrer Krankheit sein, ohne daß sie es selbst wußten. Laß doch sehen! – Ha! da haben wirs. Ich wette, sie haben dich kommen lassen, um dem ehrlichen Demokrit so viel Aderlässe und Niesewurz zu verordnen, als er vonnöten haben möchte, um ihres gleichen zu werden! Nicht wahr?» «Du kennst deine Leute vortrefflich, wie ich sehe, Demokrit: aber um so kaltblütig von ihrer Narrheit zu reden, muß man so daran gewöhnt sein wie du.» «Als ob es nicht allenthalben Abderiten gäbe.» «Aber Abderiten in diesem Grade! Vergib mir, wenn ich deinem Vaterlande nicht so viel Nachsicht schenken kann als du. [...]
Wir sehen uns aber genötigt, uns von dem günstigen und billig denkenden Leser vorher eine kleine Gnade auszubitten, an deren großmütiger Gewährung ihm selbst am Ende noch mehr gelegen ist als uns. Und dies ist – aller widrigen Eingebungen seines Kakodämons ungeachtet, sich ja nicht einzubilden, als ob hier unter verdeckten Namen, die Rede von den Theaterdichtern, den Schauspielern, und dem Parterre seiner lieben Vaterstadt die Rede sei. Wir leugnen zwar nicht, daß die ganze Abderitengeschichte in gewissem Betracht einen doppelten Sinn habe: aber ohne den Schlüssel zu Aufschließung des geheimen Sinnes, den unsere Leser von uns selbst erhalten sollen, würden sie Gefahr laufen, alle Augenblicke falsche Deutungen zu machen. Bis dahin also ersuchen wir sie Per genium, dextramque, Deosque Penates, sich aller unnachbarlichen und unfreundlichen Anwendungen zu enthalten, und alles was folgt, so wie dies ganze Buch, in keiner andern Gemütsverfassung zu lesen, als womit sie irgend eine andre oder neue unparteiische Geschichtserzählung lesen würden. [...]