23 November 2017

Gerhart Hauptmann: Das Abenteuer meiner Jugend (2. Buch 5.-9. Kap.)

Fünftes Kapitel 
Aber Carls und meine brüderliche Verstiegenheit konnte sich nicht lange damit aufhalten. Die geistige Atmosphäre, in der wir atmeten und die wir uns selbst geschaffen hatten, schloß uns nach dergleichen freundlichen Familienkaffeestunden sogleich wieder ab. In den Äther dieser unserer Sphäre konnten die Damen ja doch nicht eindringen.
So zu leben, in einer intelligiblen Welt mehr zu leben als im Wirklichen, war damals schon Carls Eigenheit. In jenen Tagen wurde ich, der ich sehr reale Dinge, Ausschweifungen, Hunger, körperliche Kämpfe und das Bemühen mit dem Sohn des Wassers und der Erde, dem nassen Ton, hinter mir hatte, hinaufgehoben. Dieses Schweben im Äther war mir wohltätig. Ich verlor die Schwere meiner Glieder und meiner Wesensart. Da ich die Befreiung und Erlösung von allem grob Stofflichen auf die Alma mater in Jena als ihren Ursprung schob, wurde ich mehr und mehr von ihr angezogen. Ihr Joch schien mir leicht, verglichen mit dem, das ich trug. [...]

Etwas an unserem, Carls und meinem Wesen gefiel meinem Vater immer noch nicht, was meine Mutter mit den Worten »Ihr seid zu ideal!« zu rügen pflegte. Er fühlte die Pflicht, uns immer wieder auf die Erde, die uns unter den Füßen zu entgleiten drohte, herunterzuholen.  [...]
Vaters Absichten mit Carl waren ganz andere, als sie Carl mit sich selbst hatte. Er hätte, wie gesagt, gern aus dem Sohn einen Arzt gemacht. Aber Carl brauchte nur einen leisen Verdacht zu haben, daß irgendein Ratschlag auf Broterwerb abziele, so geriet er in Raserei und tobte gegen das Brotstudium. Weder werde man ihn je dazu bringen, Naturwissenschaften und Philosophie aus anderen Gründen als um ihrer selbst willen zu betreiben, sagte er, noch ihn bestimmen, sich selbst durch gemeine und niedrige Ziele zu entwürdigen. [...]
Um jene Zeit tauchte ein Salzbrunner Kind, Bergmannssohn – sein Vater war Steiger –, bei uns auf, der es bis zum Fuchs bei den Raczeks in Breslau gebracht hatte. Wir hatten uns als Kinder wenig beachtet. Plötzlich stand er mit dem schwarzrotgoldenen Band und der Studentenmütze vor uns da. Ein Frühschoppen wurde sogleich verabredet. [...]
Carl und Schindler, der Raczek und Bergmannssohn, nahmen Gelegenheit, mich in den studentischen Trinkkomment einzuweihen. [...]
Diese erste Begegnung mit den Trinksitten sollte für mich eine lange Periode meiner Gesundheit nicht gerade zuträglicher Zechereien einleiten. [...]
Als wir am Ende der Ferienzeit auseinandergingen, brach Carl nach Jena, ich zu einem kurzen Aufenthalt bei den Schuberts nach Lederose auf. Was sich hier ereignete, hat vielleicht keine allzu große Bedeutung für meinen schöpferischen Entwicklungsgang, aber es wurden dabei die gesamten Strahlungen meines Wesens in einem Brennpunkt gesammelt.   Im gleichen Zimmer des neuen Hauses, das ich bewohnt hatte – der Glaskasten mit der Rebhuhnfamilie hing noch darin –, war jetzt Anna Grundmann untergebracht. Sie war nun unter anderm dazu bestimmt, das Bild von Ännchen Schütz – der Name Anna deutet bei mir überall auf unglücklich-glückliche Liebe hin – auszulöschen. Das Liebesidyll, das mir hier in tragikomischer Weise zu erleiden beschieden war, gedenke ich nicht zu schildern. Genug, daß es mich bis in die Grundfesten meines Wesens angegriffen und in mancher Beziehung verändert hat. [...]
Wie sah Anna Grundmann aus? Ich weiß es nicht. Und doch ist, was noch heute von ihr als reine Form in mir lebt, einer unwiderstehlich sinnlichen Schönheit mächtigster Inbegriff. Die Wunde des Entbehrens, des Unerfüllten, des Verlustes für Ewigkeit, unstillbarer Sehnsucht ist heute, am Abend eines langen, langen Lebens, noch unverheilt. [...]
Vom Wesen eines sogenannten Backfisches war in Anna Grundmann nichts. Hatte sich Natur ein Weib, eine Männin zu bilden vorgesetzt, so war ihr Vorsatz bis zur letzten Vollendung durchgeführt, und das opaleszierende Auge ihres Geschöpfes wußte von dem Rätsel seiner Vollkommenheit – und auch von dem andern: seiner Bestimmung. [...]
Ich habe dieses schöne, unbewegliche, ernste ovale Gesicht oft und lange, in einen stillen Schrecken verloren, angestaunt: diesen resignierenden, ironischen Mund, diese gerade, kleine, griechische Nase, deren schmaler Rücken mit der Stirn eine Senkrechte bildete, und dieses Berenikekinn. [...]

Sechstes Kapitel 
Am Abend etwa des dritten Tages war die Neugier von Onkel und Tante durch die Erzählung meines Triumphes so rege geworden, daß sie nun auch mein Dichtwerk hören wollten, dieses so vielbesprochene »Hermannslied«. Und so zog ich es wiederum aus der Brusttasche. Nicht anders als das erstemal, ja mit größerer Inbrunst, da Anna Grundmann zugegen war, sagte ich mir das »Nimm alle Kraft zusammen, die Lust und auch den Schmerz! Es gilt uns heut, zu rühren ...« Ich wußte, welches Herz! [...]
Mein Vortrag verlief in gewohnter Art, und ich hatte im großen ganzen denselben Erfolg, den ich zuerst im Kreise Hugo Schmidts, alsdann vor den Professoren, später vor Carl, noch später bei Tante Jaschke im Kurländischen Hof einheimsen durfte. Die dichterischen Freiheiten, die ich mir genommen hatte, lockten Onkel Schubert ein freundliches Schmunzeln ab, während der Ausdruck in Tante Juliens Antlitz seinen unveränderten Ernst behielt. Beide wollten nicht leugnen, daß sie das Gelesene schön fänden und mir nicht zugetraut hätten, wie Onkel, in ein Lachen ausbrechend, Tante in aller Ruhe äußerte. Anna schwieg. Aber ich spürte, daß sie die wahrhaft Ergriffene war. Magnetische Fühlungen sagten mir mehr. [...]
Meine Liebe zu Anna Grundmann wurde erwidert. Von Stund an spürte ich das. Der letzte Tag brachte es ganz an den Tag: denn weshalb wäre Anna sonst an Tante Juliens Brust in Tränen ausgebrochen, als ich in dem zur Abfahrt bereiten Wagen saß? Was zwischen jenem Anfang und diesem Ende liegt, beschäftigt noch heute zuweilen mein Nachdenken. [...]

Siebentes Kapitel 
Mit dem unauslöschlich schmerzhaft geprägten Bilde Anna Grundmanns im Herzen ging ich dann nach Breslau zurück. Meine Vorstellungswelt hatte einen neuen, unsterblichen Gast bekommen. [...]
Es ist erstaunlich, welchem Zudrang von Ideen ein junger Mensch in gewissen Jahren standhalten muß und schließlich auch wirklich gewachsen ist. Während ich am nassen Ton den Kultus der Formen trieb, darüber mit meinen Freunden diskutierte, mit dem wenigen, was ich hatte, weiter schlechte Wirtschaft trieb, schwelgerische Hungervisionen ausbaute, meiner Armut irgendwie steuern wollte, die ich nunmehr als Schmach und als unerträgliches Hemmnis empfand, während ich meinen gebrechlichen Körper mit kaltem Wasser zu stärken versuchte, einer Nacktkultur das Wort redete und das Schamgefühl als Unmoral brandmarkte – während ich ein Schauspiel »Germanen und Römer« im Kopf trug, das mir Ruhm, Geld und vor allem Anna Grundmann als Frau verschaffen sollte, fand ich mich auf einmal in den Wirbel politischen Wesens neu hineingestellt. Alfred Ploetz diente sein Militärjahr ab und studierte zugleich Nationalökonomie. Er stand in einem Kreis, in den er auch mich autoritativ einführte. Der Pangermanist war der Gründer einer harmlosen – aber was ist harmlos in der Politik? – alldeutsch-sozialen Gesellschaft geworden. Dies und was nicht noch sonst lag verborgen in mir, als ich im Herbst von Tante Jaschke nach Ober-Salzbrunn eingeladen und plötzlich der Mittelpunkt einer kleinen Damengesellschaft im Garten des Kurländischen Hofes wurde. Es lag etwas Seltsames in der Luft, ich konnte das Tante Jaschke und meiner Schwester Johanna anmerken. Ihre bezugreichen Worte und sprechenden Augen deuteten auf eine Verschwörung hin. Etwas wie ein lustiger Krieg um ein öffentliches Geheimnis schien ausgebrochen. Was für eine Rolle ich dabei zu übernehmen hätte oder schon übernommen hatte, wußte ich nicht. Man behandelte mich wie ein Wundertier, und bald begriff ich, daß mir Tante Jaschke und Schwester Johanna in diesem Kreise einen Ruf als Dichter gemacht hatten. Freilich kam es mir vor, man sehe in mir nicht einen Erwachsenen, sondern etwas wie ein Wunderkind. [...]

Als die Teestunde ihrem Ende entgegenging, fragte mich Helene Loß – sicher war dies abgekartet –, ob ich nicht etwas aus meinem Epos, dem »Hermannsliede«, vorlesen wolle. »Oh, so haben wir also einen Dichter vor uns«, sagte Berthold Thienemann. »Ich muß gestehen, da bin ich doch neugierig.«   Zum dritten Male stand ich mit meinem Opusculum, meinem »Hermannslied«, vor einem Wendepunkt. Ich muß mir sagen, daß es auch hier schicksalhaften Einfluß ausübte. Mein Vortrag unter der Fassade des Kurländischen Hofes, nahe der gewaltigen Glaskugel, in der sich Himmel und Erde spiegelten, führte auch diesmal zum Erfolg. Mein Gedicht erregte, wie überall, besonders unter den Damen Begeisterung. Für mein Erinnern ist aber mit diesen Tagen ein Umstand verknüpft, der sich meinen achtzehn Jahren wohl einprägen mußte. Helene Loß hatte sich, bevor die Woge des Entzückens zurückgetreten war, in den Besitz einiger Lorbeerzweiglein zu setzen gewußt, die sie, zum Kranze gewunden, mit schalkhaftem Ernst unter dem Beifall aller mir ins Haar drückte. [...]

Achtes Kapitel
In Breslau, wohin ich zurückkehrte, traten diese Ereignisse bald zurück. Das Zentrum meiner Teilnahme lag wiederum in mir, statt außer mir. Mein eigenes Wesen, Werden und nebelhaftes Wollen wurde wieder die Hauptsache, ich mir selber der einzig wahre Besitz. Trotzdem blieb ich ins Leben verstrickt. Nicht nur, daß meine manuellen Übungen am nassen Ton ihren Fortgang nahmen, das Drama »Germanen und Römer« mich beschäftigte, es bestand auch der alte Freundeskreis, zu dem sich ein junger, wohlerzogener Mensch aus Wien namens Thilo zuweilen gesellte. Er war nicht ohne Bedeutung für mich. Thilo, um weniges älter als ich, in Wien, einer mit Bildungselementen überladenen Atmosphäre, aufgewachsen, war mir an sicherer Bildung und Reife voraus. Er schloß sich mir an, weil er von meinen Seltsamkeiten gehört, mein suchendes Wesen erkannt und den Gedanken gefaßt hatte, daß er mir etwas nützen könne. Er wies mich auf eine Dichtung »Der entfesselte Prometheus« von Lipiner hin, die er mir nachher dedizierte und die mich lange beschäftigt hat. Er aber war es, und das ist mehr, von dem ich die Namen der großen Drei: Turgenjew, Dostojewski und Tolstoi, zuerst gehört habe. [...]

Professor James Marshall war seines Lehramtes an der Kunstschule enthoben worden: ein Fall, wie er einem genialen Menschen und Maler gegenüber sich heut wohl kaum ereignen würde. Er hatte Schulden, er trank eine Menge Bier und Wein, aber ich möchte doch glauben, daß er nicht nur im Kreise der Schule eine hochbedeutende künstlerische Erscheinung war. Ein Teil seiner Bilder war aus E. T. A. Hoffmannschem Geiste hervorgegangen. Ein Deckengemälde im Dresdner Opernhaus und einige Wandmalereien der Meißener Albrechtsburg stammten von ihm. Er war ein Meister in Miniaturen. Einige seiner Fächer mit figurenreichen Historienbildern befanden sich im Besitz der russischen Kaiserin. [...]
Er wies uns auf E. T. A. Hoffmann hin. Er knüpfte daran Vasarigeschichten, mit denen er die kunstgeschichtlichen Vorlesungen des Professors Schultz gleichsam privatim weiterführte. Die weimarische Liszt-Epoche spukte in ihm. Vom Meister selbst und seinem Fürstentum wußte er allerlei hübsche Geschichten, die vom Himmel durch die Welt zur Hölle führten und wieder zurück. Er ließ uns erkennen, inwieweit der Gespenster-Hoffmann auch in Liszt steckte.  [...]
Eine Vorliebe für die Stunden vor Tagesanbruch war mir aus den Lederoser Zeiten treu geblieben. Was dort aus Zwang zur Neigung sich entwickelt hatte, trat nunmehr als Neigung auf. Ich erhob mich öfters, auch im Winter, des Morgens um vier, um die verlassenen Straßen bei schlechtem, bei gutem Wetter zu durchwandern. In dieser Zeit, wenn der Schlaf die Großen und Kleinen der Welt umfing, war die Seele eine ganz andere geworden. Ganz anders als unter den Spannungen und harten sinnlichen Eindrücken des Tages konnte sie sich ausweiten: die Abertausende von fixen und trivialen Gegenständen waren nicht mehr. Über die Verstorbenheiten dieser weiten, köstlichen, nächtlichen Öde dehnte sich und gebot nun Phantasie. Tiefen Genüssen war ich da hingegeben. Und mehr noch fremdem und großem Fühlen, wunderlich tiefen Gedanken und Erlebnissen, die man wohl Erleuchtungen nennen mag. Überdies frönte ich neben dem Hange, durch Einsamkeit mich selbst zu besitzen, dem zur Beobachtung. Ich gebrauchte meine Augen, meine Ohren bewußt und mit Leidenschaft. Von der ersten Regung des städtischen Lebens an verfolgte ich es, bis seine tägliche Lärmsinfonie voll im Gange war. Die Einzelvorgänge boten mir, einander ablösend, großen Reiz, von dem ich mich jedesmal nur ungern trennte. Immer wieder faßte ich mir an den Kopf in dem Gedanken, wie köstlich es sein würde, wenn man sie festhalten und künstlerisch gestalten könnte, aber zugleich auch in dem andern, daß der Versuch, es zu tun, mir nur meine Ohnmacht beweisen mußte. Der ewige Dialog hinter meiner Stirn verdichtete sich nicht selten bis zum geflüsterten Selbstgespräch, darin nach so oder so gearteten staunenden Ausrufen schwierigste Fragen der nachgestaltenden Kunst erörtert wurden. Das Verhandeln mit mir selbst hatte ich mir ebenfalls in Lederose angewöhnt. Diese Vigilien trieben mich in allen Teilen der Stadt herum, deren altertümliche Schönheiten ich so erst lieben lernte. Die wunderbare Gotik des Rathauses fesselte mich halbe Stunden lang: gleichviel, ob es als Ganzes unterm kalten Licht des Mondes stand oder nur dies oder das aus der Fülle seiner Einzelheiten durch die Gaslaternen des Ringes herausgehoben wurde. Hier wurde mein Sinn für Baukunst geboren, hier trieb ich, wenn ich von den Bauklötzen meiner Kindheit absehe, autodidaktisch mein frühestes Architekturstudium. Von der Begegnung mit den letzten Nachtschwärmern, die trunken und schläfrig heimtaumelten, bis zu dem Augenblick, wo sich die städtischen Nachtwächter gut gelaunt voneinander verabschiedeten, weil sie nun einen heißen Kaffee und ein warmes Bett witterten, von dem ersten fröhlich pfeifenden Bäckerjungen, der mit einem Korb warmer Semmeln vorüberduftete, bis zum ersten Bäckerladen, dessen Läden geöffnet wurden, vom ersten Dienstmädchen, das in diesen Laden trat und mit der sauberen Meisterin plauderte, bis zum ersten Schlachterwagen, der durch die Straßen rumpelte, von der ersten Gepäckdroschke, die mit einem frühen Reisenden zum Bahnhof schlich, bis zur hübschen Kalesche, die den reichen Geschäftsmann in sein Kontor brachte – was war da nicht alles zu bemerken! Und wie spannend und erregend war da die Fülle der Gesichte, die wie ein Strom bei Hochwasser stieg und schließlich jeder Bewältigung spottete. [...]
Auf Professor Haertels Empfehlung und auf Grund der künstlerischen Begabung, die er mir attestiert hatte, wurde mir das Examen für den Einjährig-Freiwilligen-Dienst gleichsam erlassen. Damit hatte sich die schwarze Wolkenwand eines dreijährigen Militärdienstes denn verteilt.  [...]

Neuntes Kapitel 
In nächster Nähe unseres Quartiers lagen nicht nur die Kirchhöfe, sondern auch das Wunder von Fürstenstein, so daß ich den gewaltig rauschenden Fürstensteiner Felsengrund mit der Götterburg in den Wolken täglich besuchen konnte. Natürlich war der Aufenthalt bei den Eltern, wo ich regelmäßig zu essen bekam, mich zeitig erhob und zur rechten Zeit schlafen ging, mir jedesmal eine Erholung und eine Erneuerung. Ich streifte endlos in der Gegend herum. [...]

Noch heute liegt mir im Wandern der höchste Reiz, den kein Beförderungsmittel, welches auch immer, erreichen kann. Es ist eigene, nicht erborgte Aktivität, mit der man die Überwindung des Raumes bestreitet. Viel inniger wird man so ein Teil der Natur, man taucht immer tiefer in sie ein und erfüllt sich mit ihrer Produktivität. Es gibt keine zweite Art, zu sein, wie ich schon damals begriff, in der sich Naturgenuß und geistiger Selbstgenuß so verbinden lassen. [...]


Carl, in Jena, hatte übrigens eine der Töchter Thienemann, Marie, die in einer gynäkologischen Klinik Jenas behandelt wurde, noch zu Lebzeiten des Papas, also im jüngsten Frühjahr, kennengelernt. Das achtzehnjährige Mädchen litt an Bleichsucht, sagte man. Die Verbindung mit Carl war von ihr gesucht worden. Adele hatte der Schwester geschrieben, ein Bruder ihres heimlich Verlobten studiere an der Jenenser Universität. Es war nicht schwer, ihn auszumitteln, und so wurde er von Marie, unter den Geschwistern Mimi genannt, eines Tags in die Klinik bestellt.
Er gefiel ihr sehr, wie man sagte, was mich durchaus nicht verwunderte. Er hatte im Umgang mit Damen eine natürlich-freie Art. Ich blieb darin weit hinter ihm. Dabei war er überaus ritterlich. Ein hübsches Mädchen fühlte ihm an, daß er, ohne persönlich zu werden, der Schönheit im allgemeinen huldigte. [...]
Mimis eigenartige Schönheit fiel unter den Schwestern am meisten auf. Wenn sie mit dem Blauschwarz ihres Haares, den dunklen Augen im weißen Oval des Gesichts, mit ihren jugendlich vollen Formen im Weiß und Blau dieses Raumes stand, steigerte sich bei mir das Gefühl ihres wundervollen Reizes bis zur Schmerzhaftigkeit. Eines Tages stellte sie sich in dem Boudoir, dessen beide Türen sie vorher verschloß, im Kostüm ihrer Rolle vor, das sie sich bei dem Chef der Schneiderwerkstätten des Opernhauses zu Dresden hatte machen lassen. Das Haus war um diese Stunde ziemlich leer, da die Schwestern ihre Logierbesuche bei einem Ausflug nach dem nahen Dresden hatten begleiten müssen.
Als Mimi unter der Hydra ein langes, befranstes, phantastisch besticktes Umschlagetuch, Erbstück der Mutter, von sich geworfen hatte, stand sie, ein griechischer Götterjüngling, da.
Sie liebte Schmuck: talergroße, gehöhlte Ringe von Gold hingen ihr jetzt wie immer in den Ohrläppchen, einen goldenen Reif hatte sie über die schmale Stirn, Spangen von Gold um den nackten Arm gelegt, einen breiten Reif vom gleichen Metall um das linke Handgelenk. Schöngefaßte Juwelen blitzten an ihren weiblichen Fingern. Der weiße Chiton, der ihren Körper durchscheinen ließ, wurde von einem goldenen Gürtel zusammengehalten und hatte oben wie unten einen goldenen Saum: er gab die vollen und runden Knie, den schönen Hals und die schönen Schultern preis: Herrlichkeiten, von denen Mimi zu wissen und auch nicht zu wissen schien, da sie mit der einfachsten Anmut und Natur zu wissen wünschte, ob sich das Ganze meiner Idee einigermaßen annähere.
Irgendwie bebte etwas in mir wie ein unbewußtes Wissen dem andern unbewußten Wissen entgegen: Dies alles wird dein! Bald gehört es dir!

(Gerhart Hauptmann: Das Abenteuer meiner Jugend, 1937)

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