27 November 2017

Gerhart Hauptmann: Das Abenteuer meiner Jugend (2. Buch 15-18. Kapitel)

Fünfzehntes Kapitel
Nach einer Ausschweifung so gewaltiger Art kehrte ich nach Nieder-Salzbrunn zurück – somit ins Besinnliche, eng Begrenzte.
Bahnhof Sorgau, den man eine Weile nebenher bewirtschaftet hatte, war längst einem anderen Pächter überantwortet. Der Bierverlag warf inzwischen schon etwas ab, das Kulmbacher Pertsch-Bier hatte sich eingeführt. Aber die Beratungen mit Hamburg gingen brieflich hin und her: Georg wünschte das Kaffeegeschäft zu vergrößern und dachte daran, Vater als kaufmännisch zuverlässige Kraft nach Hamburg zu ziehen. Ob diese Erwägung oder Georgs Familiensinn und Vaters Wunsch den Ausschlag gab, vermag ich nicht zu entscheiden.
Immer noch waren Vater und Mutter in der alten, ihnen überdrüssig gewordenen Umgebung festgehalten. Das lebendige Adersystem des Bahnhofs Sorgau hatte sie nicht fortgeschwemmt. Den Papagei und die Möbel von Tante Jaschke zu bewachen, während Schwester Johanna und sie frei in der Welt herumflatterten, war kein Lebensberuf. Aber man mußte, wenn man beweglich werden wollte, den Bierverlag abstoßen, das hineingesteckte Kapital herausholen.
Unter den Interessenten zur Übernahme des Bierverlags war auch der Vater von Alfred Ploetz. Er hatte sich etwas erspart und wollte seinen Posten in der Seifenfabrik aufgeben. Sein Sohn Alfred, der ungezwungen ein und aus ging bei uns, brachte ihn eines Tages mit.

Man spürte damals überall Unternehmungslust. [...]

Nach Platon haben gewisse Orte dämonische Natur. Die ersten Wochen meines Aufenthaltes in Jena lehrten mich das. Ich war in eine dämonische Welt geraten.
Zuerst empfand ich etwas wie die Wirkung eines Jungbrunnens. In ungeahnter Weise erneut und verjüngt, merkte ich, wie alt und beschwert, ja gleichsam verholzt ich in Schlesien gewesen war. Hier umgab mich ein Licht, eine Luft, die das Atmen leicht, das Dasein froh machte. Ich war erstaunt, daß es einen Ort wie Jena gab, und bedauerte, so lange in ein finster-rauhes Klima des Geistes und Gemütes verstoßen gewesen zu sein. Ich war verwundert, wie sich äußere Enge, warmes Wohlbehagen und geistige Weite hier zu schöner Harmonie verbunden hatten, und fühlte sogleich ihre lind umfangenden Wirkungen.
Dieses Thüringer Städtchen war damals noch wie ein erweiterter Garten des Epikur, in den seine Häuser und Häuschen gebettet standen, in den man mit jedem Morgen trat, von einem zuinnerst lachenden Jugendglück überwältigt. Hier erst konnte ich auf höherer Ebene an die Unschuldstage meiner Knabenseele wieder anknüpfen: wie ein zweiter langer, ununterbrochener Lebensmorgen kam es über mich.
Auch mein Verhältnis zu Carl stand unter dem Zeichen des Jungbrunnens. Hier wurde er mehr als je mein Mentor. Einbezogen in die herrschende Harmonie, teilte er, im gelinde-innigen Sinne der Genien dieses Ortes, Geist, Herz und Seele mit mir.
Mit der Hand abzureichen nah stand die ehrwürdige Behausung von Geist und Geistern, Universität genannt, in der edle Lehrer dozierten. Von meinem Mentor wurde ich nach und nach mit ihnen bekannt gemacht. Es war Ernst Haeckel, der große Umstrittene, dessen Name unter allen den verbreitetsten Klang hatte, und der mit seinem hellen »Impavidi progrediamur!« – »Unerschrocken vorwärts!« oder »Unerschrockene, schreiten wir vorwärts!« – unseren Herzen am nächsten stand. Dieser weltbewegende Ruf, diese weltbewegende Herausforderung, die mit weltbewegenden Gedanken verbunden war, ging von der scheinbar friedsamsten aller Gelehrtenkolonien aus, die, auf ihre Art klösterlich, das friedsamste aller Tälchen bewohnte. Eine Feuersäule des Geistes, die eine Art Weltbrand zur Folge hatte, schoß aus einem blumenübersäten, von Gras und Büschen überwucherten, stillen Krater und Kranz von Friedfertigkeit. [...]
Warum erscheint mir eigentlich dieses liebe Jena, wenn ich daran denke, wie ein mehr unter griechischer als unter deutscher Sonne liegender Ort? Alles um Jena hatte für mich einen fremd-heimlichen Zug, den ich für südlich hielt. Der kahle Jenzig mit seinem bläulichen Muschelkalk breitete eine seltsame Helle aus, die sich leicht ins Geistige übertrug. Das Tälchen, wo Saale und Leutra einander begegnen, wirkte dünnluftig. Im Versteck dieser Siedlung von Gelehrten, zurückgezogenen Forschern und Lehrern bestand keine Atmungsschwierigkeit. Erscheinungen wie der philosophische Schuster wären ohne das kaum möglich gewesen und noch weniger ohne das geistig durchdringende Leuchtphänomen der Forscher- und Philosophenschule im Mittelpunkt. Jena war für mich von der Seele des Griechenlandes belebt, die ich seit meiner Kindheit mit der eigenen Seele gesucht hatte. [...]
Es ist mir ein Rätsel, wie trotzdem, in völliger Geschiedenheit, eine Richtung meines Wesens auf das Altgermanische sich fortsetzen konnte. Die Blutsbrüderschaft unter dem Rasenstreifen und alle damit verbundenen Ideen und Ideale führten ihr Eigenleben weiter in mir. In Jena bin ich dazu geschritten, eine Gestalt aus meinem dramatischen Jugendgebilde »Germanen und Römer«, den blinden Sänger Sigwin, als Idealkopf in Ton zu formen, für welche Arbeit mir ein Steinmetz kostenlos einen Raum seiner Werkstätten einräumte. [...]
Die jenensische Dominante blieb der heilige Berg, die Akropolis, blieben Propyläen und Parthenon, blieben Perikles, Aspasia und Pheidias, dessen Bildnerhand für mich zur Hand eines Gottes ward, dessen goldelfenbeinerner olympischer Zeus meine Nächte beunruhigte. [...]
Sechzehntes Kapitel
»Ihre Söhne haben keinen praktischen Sinn!« hatte der Meister der Mnemotechnik, Weber-Rumpe, auf Bahnhof Sorgau zu meinem Vater gesagt. Praktischen Sinn hatten wir in Jena sicher nicht, wenn man nicht mein inneres Ringen nach allgemeinen Wirkungen durch Kunstwerke dafür gelten lassen will. Ich dachte wohl etwas realer als Carl, dessen hoher Sinn von irgendeinem Brotstudium nichts wissen wollte. Um der Wissenschaft willen und aus keinem anderen Grund betrieb man die Wissenschaft. So tat man das Gute um seiner selbst willen. Wir, und besonders Carl, wurden nicht müde, die Schalen unseres Zorns, unserer Verachtung über eine Gesinnung auszuschütten, die auf Erden das Gute tat, um im Jenseits belohnt zu sein. Wir gerieten in Wut, wenn man uns die geringste Handlung eines äußeren Vorteils wegen zutraute. [...]
Rechthaberei ist in jungen Jahren allgemein, ebenso Unduldsamkeit gegen andere Meinungen. Ich vermute, wir müssen nach unserer Anlage das Menschenmögliche darin geleistet haben. [...]
Das philosophische Wesen zog mich nicht in dem Maße wie Carl und Simon an. Statt Sprünge zu machen, blieb ich dabei, meine eigene Maulwurfsarbeit im Denken fortzusetzen. [...]
Auch hatte die glückliche Liebe, die ich in mir trug, verbunden mit dem leichten Wandel der Jenenser Zeit, die nächtlichen Tiefen meines Innern gleichsam in Licht eingesargt. [...]

Siebzehntes Kapitel
Am 13. Februar 1883 starb Richard Wagner in Venedig. Wir fühlten die starke Erschütterung. Den Abend des fünfzehnten hatten wir in der Gastwirtschaft am Fuchsturm zugebracht. Es war eine pechrabenschwarze Nacht, als wir nach Hause aufbrachen. Den Gästen wurden in solchen Fällen Kienspanfackeln ausgehändigt. Wir hatten sie eben in Brand gesteckt, um den steilen Abstieg nach Jena anzutreten, als Müller von einer Totenfeier für Wagner sprach, die am folgenden Abend in Weimar stattfinden sollte. Da wurde ich wieder einmal von einem abenteuerlichen Gedanken heimgesucht: wir sollten sofort den Weg nach Weimar antreten, tagsüber alle historischen Stätten besuchen und abends im Theater der Feier beiwohnen. Einige Konkneipanten zweigten ab, die übrigen waren einverstanden.  
Mit meinen Kommilitonen zog ich bei Morgengrauen zum ersten Male in Weimar ein, zu Fuß nach einem mühsamen, einundzwanzig Kilometer langen Weg durch eine stockfinstere, kalte, von Regenschauern durchsetzte Finsternis: im Februar, wie nicht zu vergessen. Es war die Stunde, die ich liebte und um derentwillen es mich in Breslau oft frühzeitig aus den Federn getrieben hatte. [...]
Da war sie nun wieder, die Linie, die von der meiningisch-kleistischen »Hermannsschlacht«, durch die Zeremonie der Blutsbrüderschaft unterm Rasenstreifen, zu Wilhelm Jordan und Felix Dahn, von dort zu meinem »Hermannslied« und meinem Drama »Germanen und Römer« sich fortgesetzt hatte, und zwar auf ihrem wirklichen, letzten Höhepunkt, über den hinaus sie nicht weitergeführt werden konnte, was mir ohne Bedauern an jenem Abend klar wurde. [...]

Achtzehntes Kapitel
In Hamburg-Hohenfelde fanden wir Georg und Adele einquartiert. Sie bewohnten ein hübsches Parterre in der Uhlandstraße. [...]
Nichts in der Welt gleicht einem solchen Hafen, wie es der Hamburger ist, an Schicksalhaftigkeit. [...]
Und diese wilde, unverschämte, todesverachtende Klasse von Seefahrern, diese Blaujacken, Stoiker von Natur mit der Pose von Bequemlichkeit, als ob das Leben ein schlechter Witz wäre! Sie machten wahrhaftig nicht viel aus sich. Wer hätte sie Besseres zu lehren vermocht? Solcherlei Heroismus befähigte sie, in die unwegsamen Gebiete hinauszustoßen, die seit dem ersten Schöpfungstage unverändert sind und wo auf die Gegenwart des Menschen noch nicht Rücksicht genommen ist: Leere, Nacht, Wüstenei mit den furchtbaren Nebeln des Gott-Geistes über den Wassern. [...]

Fast unter unwiderstehlichem Zwang drängte sich der Entschluß mir auf, mit einem Frachtdampfer um Europa herum das Ziel meiner Sehnsucht zu erreichen. Dies war, wie wir damals dachten, Mary und ich, zwischen unseren Seelen beinahe ein Riß. Wollte ich nicht unser stillgefestigtes Glück freiwillig aufs Spiel setzen? Mary machte schmerzliche Einwände. Aber ich konnte sie überzeugen, daß gerade diese Seereise für meine Selbsterziehung nötig sei. [...]

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