25 November 2017

Gerhart Hauptmann: Das Abenteuer meiner Jugend (2. Buch 10-14. Kapitel)

Zehntes Kapitel
Man kann sich denken, welcher innere Schrecken mich lähmte, als Carl mir erzählte, daß Mimi [Marie] heimlich verlobt wäre. Es handelte sich um einen Kandidaten der Theologie, der binnen wenigen Monaten in die Pfarre eingesetzt werden sollte, die durch den Tod seines Vaters vakant geworden war. [...]
Mit dem unverwandten, geschärften Blick eines Detektivs nahm ich die schöne Marie unter Beobachtung. Ich vernachlässigte auch den Rahmen nicht, aber sie blieb die Hauptsache. Daß ich sie als die weitaus reizvollste unter den Schwestern erachtete, ist nicht verwunderlich. Ich sah in ihr aber auch die bedeutendste. Die Stellung, die sie unter den Geschwistern einnahm, bestätigte das.
Es hing ein Schicksal über ihr. Ihrem ruhigen, festen Willen gegenüber war selbst der des verstorbenen Vaters zunichte geworden. [...]
Das Areligiöse war in Marie infolge der Neudietendorfer Jugendeinflüsse geradezu zum Dogma geworden. Freude am Disputieren hatte sie nicht, dieses Kapitel war bei ihr ein für allemal abgeschlossen. Diese Folge einer durchkämpften und durchlittenen tiefen Innerlichkeit trug dazu bei, das Bedeutsame der Erscheinung zu steigern.
Schon bevor sie durch den Tod des Vaters ihre Unabhängigkeit erlangte, hatte sich Marie, wie ich überzeugt bin, »von den Narren, von den Weisen« für frei erklärt.
Es war mit mir etwas Ähnliches vorgegangen. Beide waren wir seit dem ersten Schultag mißhandelt worden. Wir hatten verwandte Kämpfe durchgemacht, uns zu ähnlicher Freiheit durchgerungen. Zwei, die sich für mißverstanden und unterdrückt gehalten hatten, trafen sich. Und beide wollten sie den zerrissenen goldenen Faden des Lebens wieder anknüpfen, wozu nun alles Äußerliche mit beinahe mehr als ahndevoller Deutlichkeit hinstrebte. [...]
Mein Bruder Carl war der geborene Ethiker. Mit tiefer Verachtung lehnte er christliche Tugenden ab, weil sie im Jenseits belohnt werden wollten: ihm galt es, das Gute um seiner selbst willen zu tun. Ebenso verhielt er sich zur Idee der Gerechtigkeit: ihr mußte man dienen auf Tod und Leben. Ihn empörte Menschen- und Tierquälerei. Und wieder und wieder, oftmals zu eigenem Schaden, tat er, infolge dieser Anlage, Dinge wie der Manchaner von der traurigen Gestalt; er kämpfte wie dieser oft gegen Windmühlen. [...]
Mimi war unter den Schwestern als verschlossen bekannt. Nicht gerade gesprächig, war sie doch mir gegenüber aufgeschlossen. Ich glaube, der Austausch unserer Erlebnisse und Erfahrungen war so befreiend und beglückend, wie es im bloßen kameradschaftlichen Verkehr unter Freundinnen oder Freunden nicht möglich ist. Es war, als ob wir beide mit unseren Beichten unser ganzes Leben lang einer auf den anderen gewartet hätten. Marie fühlte sich von Kindheit an durch den Vater zurückgesetzt und empfand es bitter, keine Mutter gekannt zu haben. Ich war freilich von den Eltern nicht so benachteiligt, aber ich hatte doch auch, wie gesagt, Zurücksetzung aller Art erfahren, so daß ich zu gewissen Zeiten unter dem Druck der Geringschätzung fast zerbrach. [...]

Elftes Kapitel
Damals erschloß ich Marien, soweit es mir selbst erschlossen war, das Gebiet der bildenden Kunst. Wir besuchten gemeinsam die Galerie, wo ich zum erstenmal den Originalen größter Werke der Malerei gegenüberstand und ein fast schmerzlicher Rausch mit neuen, übermächtigen Eindrücken sich verband. Wie sie bekannte, hatte keiner der Lehrer, bei denen sie literarische und künstlerische Erkenntnisse gesucht hatte, ihr solche zu vermitteln vermocht. Ich machte sie frei, lehrte sie ohne Bedenken zugreifen. Die trennende Wand war im Handumdrehen weggeräumt, und die ganze Welt der dichtenden und bildenden Kunst stand ihr offen. [...]
Es ist etwas über die Maßen Glückseliges geschehen, sagte ich mir. Aber nun bist du gerade dadurch einem Gefühl des qualvollsten Darbens, des peinlichsten Entbehrens, ja fast der Verzweiflung ausgeliefert. Hattest du dich bisher nicht durch die Widerwärtigkeiten des Daseins wie durch übelriechende, unterirdische Gänge durchschlagen müssen? Wie willst du jetzt noch leben ohne Lebensluft? Ohne Mary war mir die Sonne fortan kein Licht. Mit ihr hatte die Nacht eine Sonne. Von meiner Bedürftigkeit hatte Mary natürlich keine Vorstellung. Mein Geldmangel war für mich kein Gesprächsthema. Ich hatte behauptet, ich brauchte weder eine Reisedecke noch einen Paletot. Die Nacht aber wurde bitter kalt, Heizung, wie heut, in einem Coupé dritter Klasse gab es nicht, und so fror ich trotz meiner Glücksbeladenheit, zusammengekrümmt auf dem Sitzbrett liegend, die ganze Nacht durch gottsjämmerlich. [...]
Mary und ich hatten eine über mehrere Jahre gehende Wartezeit, bevor wir einander heiraten wollten, verabredet. Was konnte nicht alles geschehen in dieser Frist! Würde und konnte Mary mir treu bleiben? [...]
Die Wohnung der Eltern in einem Gutshaus kam mir recht ärmlich vor: ein Zimmerchen im Parterre ging nach vorn, eines nach rückwärts, auf einen durch einen großen Düngerhaufen gezierten, von Ställen und Scheunen umgebenen Hof. Meine Mutter kochte selbst, sie hatte zur Hilfe ein billiges Hausmädchen. [...]  Ich verweilte diesmal nur wenige Tage in dieser Winkelexistenz, um dann nach der peinlichen Auseinandersetzung, die Geldsachen meist herbeiführen, mit vierzig Mark Monatswechsel plus Reisegeld in meinen Breslauer Wirrwarr zurückzukehren.
Das war wie der Sturz in ein Vakuum.
Ich war nicht gesund. Noch jüngst, in Marys Gegenwart, hatte sich bei verschiedenen Besuchen der Dresdener Galerie jener migräneartige Anfall wieder eingestellt, der mich zuerst in Lederose befallen hat. Ich hatte meinen Blick auf ein Bild konzentriert, da erschien in dessen Mitte jene Mouche, jener graue Punkt, mit dem auf den Äckern meines Onkels Schubert sich ein Zustand nervösen Erblindens einleitete.
Ein so geschwächtes Nervensystem konnte nicht ohne Gefahr das Chaos innerer Tendenzen wieder aufnehmen und zugleich mit den Sorgen der neuen Gebundenheit fortleben. Da aber kam Gott sei Dank endlich der lange, ersehnte, erlösende Brief, der Bild und Locke Marys enthielt und jeden Zweifel an der völligen Hingebung ihres Herzens zunichte machte.
Waren somit meine Ängste erstickt und Mary mir zum zweiten Male geschenkt worden, so hatte ich in Locke und Bild zwei rasend verehrte Fetische, die mir über die Zeiten von Brief zu Brief hinweghalfen.
Außer ihrer Liebe war aber aus der Welt Marys nichts herübergedrungen, was mir den vulgären Kampf ums Dasein erleichtern konnte. Ich hatte mich weiter durchzuschlagen, so schlecht es ging, wenn auch nun mit besseren Aussichten.
Wie ich meine Schulden von einigen hundert Mark bezahlen sollte, wußte ich nicht.

Um diese Zeit schlug mein Freund Max Fleischer mir vor, ich solle zu ihm und seiner verwitweten Mutter übersiedeln, die für ein geringes das Mittagessen für mich besorgen werde. Ich könne bei ihnen leben, bis meine Schulden bezahlt seien, wenn ich mich nur verpflichten möchte, dann meinen Wechsel der Mutter auszuliefern. Ich sagte meinem Schuster sogleich Lebewohl. Nie machte ein Umzug weniger Mühe: ich brauchte ja nur so, wie ich war, von einem Haus in das andere zu gehen. Mit diesem Gange jedoch – meinem Freunde und seiner Mutter sei Dank! – war eine Wendung zum Besseren eingeleitet.
Die Küche der alten Frau Fleischer in all ihrer ausgesuchten Einfachheit schlug bei mir an wie eine Kur. Das Essen: Linsen, Bohnen, Erbsen mit Speck, stand pünktlich auf dem Mittagstisch, so daß ich nun nicht mehr voll Neid und mit knurrendem Magen sehen mußte, wie etwa der Sohn des Pastors Primarius Späth von St. Magdalenen, die Freude auf die reichliche Mittagsmahlzeit im Gesicht, vor der Kunstschule einen Augenblick stille stand, das Hütchen lüftete und in Richtung der fetten Pfarrei davoneilte. Mein Tisch war so gut wie der seine gedeckt, ob mit weniger trefflichen Dingen, war mir gleichgültig.

Zwölftes Kapitel
Meine Bude wurde nun auf lange Zeit für Hugo Schmidt, Puschmann und den Sohn meiner Wirtin, Max, der Versammlungsort. Hier wurde ganze Nachmittage lang bis in die Nacht hinein disputiert, wobei uns die Witwe Fleischer mit heißem Grog labte, zu dem wir den Rum für wenige Pfennige aus der nächsten Destille geholt hatten. [...]
Die Kunstschule empfand ich bald sowohl als physisches wie als geistiges Hindernis; ich fühlte bereits, daß hier meines Bleibens nicht lange mehr sein würde. Ohne daß es mir immer bewußt wurde, lastete dieses ganze Breslauer Erlebnis wie eine tote Haut über mir, die ich, nach geschehener Häutung, noch mit mir schleppte. [...]
Carl schwankte nie, er zweifelte nie daran, ich würde in nicht allzulanger Zeit die sicher erwartete Frucht hervorbringen. Er schrieb mir das. Er hielt seinen Kommilitonen Vorträge über mich. Er stärkte den Glauben meiner Geliebten, nachdem er sich mit der Tatsache unserer Verlobung ausgesöhnt hatte.
Ich habe der Wahrheit gemäß festzustellen, daß Carl damals mehr als je mein Freund, mein Mentor war. Hatte er mir Gustav Jägers »Deutsches Tierleben« nach Lederose gesandt, so versorgte er mich auch jetzt mit lehrreichen Büchern. Wenn ich das seltsame Motto des Buches »Werden und Vergehen« von Carus Sterne wie ein befreiendes und beglückendes Wort ergriff, mußte ein ihm verwandter Zustand in meiner Seele trotz allen irdischen Wollens, Ringens, Mißlingens und Gelingens darauf als auf seine Bestätigung gewartet haben:
Ist einer Welt Besitz für dich gewonnen,
sei nicht erfreut darüber: es ist nichts.
Ist einer Welt Besitz für dich zerronnen,
sei nicht im Leid darüber: es ist nichts.
Vorüber gehn die Schmerzen und die Wonnen!
Geh an der Welt vorüber: sie ist nichts! [...]
Übrigens hatte ich Ploetz enttäuscht. In unseren pangermanischen Satzungen, denen wir durch die Blutsbrüderschaft auf der nächtlichen Ohlewiese Treue gelobt hatten, war die Verpflichtung aufgenommen, dereinst nur ein blondes, blaugeäugtes Mädchen zu heiraten. Mary, dieser dunkle, exotische Typ, machte mich zum Verräter. Immerhin zeigte der Freund sich nachsichtig: Mary könne recht wohl germanischen Blutes sein, da es auf blond und blau nicht ankäme. Hauptsache sei die Schädelform. Er werde sie messen, sobald sich dazu Gelegenheit fände. [...]

Dreizehntes Kapitel
Die Begrüßung bei Marys Ankunft auf dem Freiburger Bahnhof war in der Tat nicht ohne Verlegenheit. Genauer gesagt: von ihrer Seite recht beiläufig. Mit ihr stieg ein junger Leutnant aus dem Coupé, irgendein Herr von Ichweißnichtwie, der sich mit zusammengeklappten Hacken umständlich von ihr verabschiedete.
Sie habe sich recht gut mit ihm unterhalten, sagte sie.
Dann sprach sie lachend von Reiseerlebnissen, aber mit Tante Mathilde Jaschke und Johanna, nicht mit mir.
Ich kann nicht sagen, daß ich mich groß fühlte.
Für mein Gefühl etwas degradiert, stapfte ich hinter den Damen her. Ich war gekränkt, ich fühlte mich überflüssig. Bei meiner Reizbarkeit fehlte wenig, und ich hätte den drei Schicksalsschwestern durch jähe Flucht einen Streich gespielt. [...]
Mary führte Andersens »Bilderbuch ohne Bilder«, ein winziges grünes Leinwandbändchen, manchmal sogar in der Muffe mit. Vor der Abreise gab sie es mir, nachdem sie auf das erste Blatt die Worte geschrieben: »Zur Erinnerung an acht glückliche Tage.«
Das kleine Büchelchen lebt noch heut.
Immer wenn ich es in der Hand halte, weiß ich zwar, daß diese Tage wirklich unter die glücklichsten meines Lebens zu zählen, aber nicht, wie sie gewesen sind: und gerade hierdurch beweist sich ihr Glück. Diese Leere meines Gedächtnisses war durch eine wunschlose Gegenwart aufgefüllt. Sie war ein Sein, das weder ein Gestern noch Morgen hatte. Mary und ich und sonst nichts waren in der Welt, ja, auch die Welt war uns untergegangen. [...]

Vierzehntes Kapitel
Die wilden studentischen Trinkexzesse dieser Zeit fanden in dem sogenannten Zobtenkommers ihren Höhepunkt. Ich glaube, im Juli begann die ganze Studentenschaft von Breslau geeinigt dieses große Trink- und Sommerfest mit einem Umzug durch die Stadt. [...]
Ich glaube, es ist Richard Wagner, der sagt: durch die Offenbarungen der Musik werde Kultur aufgehoben wie Lampenschein durch Tageslicht. [...]

(Gerhart Hauptmann: Das Abenteuer meiner Jugend, 1937)

Keine Kommentare: