13 November 2017

Gerhart Hauptmann: Das Abenteuer meiner Jugend (2. Buch Kapitel 1-4) Kunstschule, Hunger, Leihhaus, Hermannslied,

Zweites Buch
Das zweite Buch des Abenteuers meiner Jugend umfasst 41 Kapitel und ein Nachwort. Es führt ans Ende der 80er Jahre, als er mit seinem Stück "Vor Sonnenaufgang" seinen Durchbruch als Dramatiker erlebte.

Erstes Kapitel 
Der äußerste Tiefstand meines Jugendringens war damit überwunden. Von Stund an bewegte mich innerlich ein ganz neues Sein. Der Auftrieb nahm beinahe bedenkliche Formen an. Wachend und schlafend träumte ich nur noch in marmornen Bildsäulen. Wenn ich aus Träumen ins wirkliche Leben erwachte, erschrak ich fast vor mir selbst, weil die Fülle und überwältigende Größe der inneren Gestaltungen nicht aus Eigenem zu stammen schien, sondern von einer fremden Macht, die mich unterjocht hatte. [...]
Abermals war ich eines Erlebnisses gewürdigt, in gewissem Sinne dem verwandt, das mich angesichts der kleinen Beatrice Schütz überkommen hatte. [...]
Diesmal war das Göttliche von einer solchen Gewalt in mir, daß ich es nicht verkennen konnte. Ich selber, mein schweres irdisches Wesen war davon fast aufgezehrt und hinweggeglüht. Was übrigblieb, war bereit, sich in Verwechslung irdisch bedingten Seins mit der Gottheit selbst zu vergöttern. Es geschah, und so gebar sich der Größenwahn. Damals schrieb ich nach Jena an meinen Bruder Carl Worte, denen mein tatsächlicher äußerer Zustand so wenig entsprach, daß man sie für Zeichen schwerer Verrücktheit halten konnte. Und doch lag ihnen ein Gefühl zugrunde. In dem Briefe, der sie enthielt, war mein Entschluß, Bildhauer zu werden, mitgeteilt, und nachdem ich gesagt, was ich alles vorhätte, hieß es zum Schluß: »Aus dem ganzen Gebirge von Carrara will ich ein Monument meiner Größe meißeln.« [...]
Freilich, jene erhabene Idee großer Kunst, die wie der Morgenstern in mir aufgegangen war, konnte nach außen hin sich nicht manifestieren. Sie verschloß sich, ja sie widersetzte sich der äußeren Verwirklichung. Man glaubt eine Fata Morgana mit Händen zu greifen und verschmachtet vielleicht auf dem endlos weiten Wege zu ihr im Wüstensand.
 Leider muß man die reine Idee vergessen, bevor man die ersten Schritte zu ihrer Verwirklichung unternehmen kann. Mit ihnen beginnt ein endloser Kampf. Die Kongruenz zwischen Idee und irdischem Abbild wird nie erreicht. [...]
Hier nicht verzweifeln heißt sich bescheiden einerseits, andererseits das Unmögliche weiter wollen und weiter begehren. Tasten, versuchen und wieder versuchen, Stürze nicht fürchten, sich durch sie nicht entmutigen lassen, Wunden und Beulen als unumgänglich hinnehmen, ja als Ehrenmale betrachten. Ein Dichter und Denker nennt unter den Werkzeugen, die man bei diesem Brückenbauversuch gebrauchen muß: Vernunft, Verstand, Einbildungskraft, Glauben – Wahn und Albernheit nicht zu vergessen.   
Ich begann, nach Breslau zurückgekehrt, mit der Albernheit. Ich überwand mich eines Tages so weit, wirklich in den Laden eines Gipsfigurenhändlers in der Taschenstraße, eines gewissen Tagliazoni, einzutreten, um Modellierton zu kaufen. Der unangenehme, schwarze, mit einem stechenden Blick behaftete bleiche Mensch brachte mir einen kindskopfgroßen Ballen feuchten Lehms so mit Gipsstückchen untermengt, daß es unmöglich war, ihn zu reinigen. Ich gab die geforderte unverschämte Summe dafür. Mit diesem Raub begab ich mich in das längliche Zimmer meiner neuen Pension, das ich mit einem andern jungen Menschen teilte, um mir in vollendeter Ratlosigkeit mit diesem unsinnigen Material zu schaffen zu machen: einem verunreinigten Erdenkloß, dem ich einen lebendigen Odem einblasen wollte und der aller meiner Bemühungen spottete. 
Dieser Fehlschlag entmutigte mich für lange Zeit, wozu die Verhältnisse in der neuen Pension, mein Stubenkamerad, mein überflüssiger Lehrer Dallwitz, mein trauriger Geldmangel, mein schlechter Körperzustand das Ihrige beitrugen. 
Ich hatte mich jetzt nicht etwa von meiner Idee abgekehrt, um das Handwerk blind zu beginnen, sondern ich war des heiligen Aufleuchtens meiner letzten Sorgauer Zeit hier nicht mehr gewürdigt worden. Wenn ich, wie oft, im Bierdunst lungernd hinter meinem Tische saß, beschäftigten mich ganz andere Gedanken, die mit göttlichen Dingen nichts zu tun hatten. Der Kunstschule konnte ich noch nicht sicher sein, da es fraglich geworden war, ob mein Vater das Schulgeld bezahlen konnte. Selbst dann, wenn ich aufgenommen würde, was ebenfalls fraglich blieb. Schließlich aber hatte dieses Hocken und Stocken, dieses Wollen und Nichtwollen, Nichtleben- und Nichtsterbenkönnen eines Tages doch sein Ende erreicht, und ich stand in dem hallenden Hausflur der Kunstschule, von wo wir zur Prüfung in die verschiedenen Klassenräume verteilt werden sollten.
 So war ich denn in die Propyläen der Kunst eingetreten. Der Augenblick berührte mich ernst und feierlich. Der Widerhall, den die Tritte und Stimmen der halblaut redenden Gruppen junger Leute in dem steinernen Treppenhaus weckten, war anders als anderswo. Ich trat an diesen, trat an jenen Kreis nicht ohne Scheu heran, weil ich meinte, daß alle Anwesenden mit größerem Recht als ich hier waren. Namen wie Velazquez, Makart, Michelangelo, die in den Gesprächen fielen und mir neu waren, schienen das vollauf zu bestätigen. [...]
Ich wurde in die Kunstschule aufgenommen, obgleich die Probeblätter, die wir zu zeichnen hatten, mich als blutigen Anfänger zeigten und diesen Beschluß gewiß nicht rechtfertigten. [...]
Die Leuchten der Kunstschule waren damals Professor Haertel, der Bildhauer, Professor James Marshall und Professor Bräuer, die Maler. Ich wurde keinem von ihnen zugeteilt, sondern kam in die Hände eines gewiß recht braven Handwerkers, der wohl ein mäßiger Stukkateur und sonst Gipsformer war. An Schulpulten sitzend, beschmierten wir Schüler schräggestellte Bretter mit feuchtem Ton und kopierten Flachreliefs von Mäanderbändern. Bei Baurat Stieler trieb man Bauzeichnen. [...]
Trotzdem, wenn auch vielleicht nicht im wesentlichen Teil meines Studiums, blieb ich vom lebendigen Fortschritt nicht ausgeschlossen. Hauptsächlich fördernd war ein Kolleg, das Professor Schultz über Kunstgeschichte zweimal zweistündig jede Woche las und das von Hugo Schmidt und mir jedesmal wie ein Fest genossen wurde. Und wie hätte das anders sein sollen! Tat sich doch das Italien des Cinquecento und des Secento vor unseren schönheitsgierigen jungen Augen auf und füllte unsere Seelen mit Feuer. [...]
Diese Vorträge von Professor Alwin Schultz verbreiteten eine Art warmen Goldlichtes durch die steinernen Räume der Schule. Aber noch mehr: sie hüllten die Schule selbst von außen in diese golden leuchtende, südliche Wärme ein, so daß sie gleichsam ihr Klima für sich hatte. [...]
Es wurde natürlich beinahe Tag und Nacht über Kunst philosophiert. Die Studierenden untereinander traktierten sich mit Rechthaberei und Überheblichkeit, wovon allein der Kreis um Hugo Schmidt, zu dem ich gehörte, eine Ausnahme machte. Mehrere Maler, Puschmann und Max Fleischer, hatten sich ebenfalls dieser Gruppe angeschlossen. Puschmann, ehemals herumziehender Photograph, trug schwarzes Gelock und stets eine Samtjacke. Es war jener etwa siebenundzwanzigjährige Mensch mit dem stechenden Blick und der hektischen Röte auf den Wangen, der Miniaturkopien nach weiblichen Akten von Makart am Tage der Prüfung vorzeigen konnte, die ihm denn auch die Pforten der Schule geöffnet hatten. 
In corpore wohnten wir eines Tages dem Begräbnis Karl von Holteis bei. Ich hatte die schöne, auffällige Greisenerscheinung mit dem weißen, bis auf die Schultern hängenden, wohlgepflegten Haar einmal auf der Straße gesehen. Ein unauslöschlicher Eindruck ist mir davon zurückgeblieben.
 [...]
»Im Munde der Unmündigen hast du dir dein Lob zugerichtet!« Ich war gerührt, als ich einen Jungen, der auf einem Lattenzaune saß, immer wieder sagen hörte: »Das ist der größte deutsche Dichter gewesen! Das ist der größte deutsche Dichter gewesen!« wiederholte er, unter eigener Rührung lehrhaft umherblickend.

Zweites Kapitel 
Ich wohnte bei einem Ehepaar – der Mann war Schuster – im dritten Stock eines alten Mietshauses der Seminargasse. Die Wohnung bestand aus einem zum Schlafzimmer umgewandelten hübschen Salon, den ich innehatte, aus einem Schlitz, der Werkstatt und Wohnraum der schusterlichen Vermieter war, außerdem aus Küche und Schlafzimmer. Meinen Monatswechsel von dreißig Mark gab ich für Miete und Frühstück aus, bezeichnend für die mir damals eigene, dem Leichtsinn recht nahe Sorglosigkeit. Schließlich jedoch, ohne Borg und Bettel wäre ich auch sonst mit diesem Wechsel nicht ausgekommen. Jedenfalls, es bleibt ein Rätsel, wie sich mein Vater, der früher, wenn es um unsere Erziehung ging, so freigebig war, meinen Unterhalt vorstellen mochte. Noch holte ich allerdings zweimal die Woche die mit Proviant gefüllte Reisetasche vom Freiburger Bahnhof ab, aber weder das Brot noch das kalte Fleisch war immer das frischeste. Die Soleier wurden erst dann an mich gesandt, wenn sie die Salzlake nicht mehr vertrugen und hart wie Stein waren. Einen Vorwurf mache ich meiner guten Mutter nicht, die mir gewiß auch manchen guten Bissen beipackte. Im übrigen ging es hier wie in der Feldstraße: aßen dort Primaner meistens gleich nach der Ankunft die ganze Bescherung auf, so tat es hier die kleine, geschlossene Kunstgruppe, von der die Rede gewesen ist.   
Hier sei eine kleine, schicksalhafte, schmerzliche Episode eingeschaltet. Ich brauchte seit einiger Zeit den Weg vom Freiburger Bahnhof bis zur Seminargasse mit der nahrungsmittelhaltigen Reisetasche nicht mehr per pedes apostolorum zu machen. Eines Tages hatte man Schienen gelegt und die erste Breslauer Pferdebahn eingerichtet. Sie beförderte gegen ein Zehnpfennigstück nunmehr meine Tasche sowie mich. Als ich dieses Zehnpfennigstück eines Tages wieder einmal an den Schaffner ablieferte, sagte jemand: »Nun, Framper, wie geht's?« 
Der Stotterer Gustav Hauptmann, Halbbruder meines Vaters, der in der Krone gelebt, dort seine pomphafte Hochzeit gehalten und endlich Wirt und Besitzer des Gasthofs Zum schwarzen Roß in Waldenburg war, hatte mich immer so genannt.
Ich begriff nicht sogleich, daß der Schaffner die Worte gesprochen hatte, noch schwerer, daß dieser kein anderer als eben Onkel Gustav selber war.
»Ich bin's, mein Junge!« bestätigte er. »Du siehst, so k...kann m...man allmählich emp...p...pork...kommen!«
Der Arme hatte alles verloren, bewohnte mit seiner Frau ein Bodengelaß; sie verdang sich als Wäscherin.
Onkel Gustav, der gute, der Kinderfreund, ist nicht lange danach von seinem verfehlten Leben und einer widersinnigen glücklosen Ehe durch den Tod erlöst worden. [...]

Die Vita nuova, in der ich stand, der endliche Durchbruch in mein wahres und eigentliches Lebenselement, machte mich nahezu unempfindlich für die Gefahren, denen ich im übrigen ausgeliefert war. [...] Mir war das stundenlange Hocken, Bierhinunterschütten, heftige Debattieren und Kneipliedergrölen unbekannt, und ich fand einen großen Reiz darin, mich mit meinen Genossen auszutoben. 
Wie kam es, daß bei dem hohen Ideal, das mich damals beherrschte, das, jung, rein und hell, mein sicherer Leitstern war, mich gleichzeitig ein so schlechter Instinkt unterjochen konnte? Oder unterlag man nur einer plötzlich freigewordenen, gesunden Gier, die, losgelassen, lechzend, soviel nur immer möglich Leben an sich raffen wollte und die man, unerfahren, noch nicht beherrschen gelernt hatte? Nein, daran, daß man sie beherrschen solle und könne, dachte ich damals nicht. Es war das Glück der Kameradschaft, das neue Erlebnis, unter gleichen ein gleicher zu sein, es war der Stolz, in eine Gilde aufgenommen zu sein, was irgendwie die gemeine Umgebung heiligte. Wie viele Nächte wurden hier um die Ohren geschlagen! Man mag erwägen, wie das meine zarte Konstitution ertragen sollte und wie es mit meiner Mittellosigkeit zu vereinen war. 
In diesen Nächten war ich der am meisten verbummelte Anfänger. Um ihre Kosten zu bestreiten, mußten Bettelbriefe an meinen ältesten Bruder Georg, der krank in Sorgau lag, nach Jena an Carl und vor allem an Tante Mathilde Jaschke herhalten. Ich habe mich nicht entblödet, auch den frommen Onkel Schubert mit einer Bitte um Geld brieflich anzugehen. Was nur immer einlief, wurde auf den Schenktisch der Frau Müller geschüttet, der Kellnerin in den Busen gesteckt oder sonst mit Freunden vertan. So kam denn sehr schnell der Augenblick, wo ich in meinen Zahlungen an Frau Müller mit einer für meine Verhältnisse übermäßig großen Summe in Rückstand war. [...]
Der erste Winter auf der Kunstschule war, in Betrachtung meiner äußeren Lebensumstände, wohl das übelste halbe Jahr, das ich je durchgemacht habe. Mitunter stand ich frierend, ohne Paletot, von oben bis unten durchnäßt, mit durchgelaufenen Sohlen im Straßenschlamm vor dem Schaufenster eines Wurstladens, die halberfrorenen Hände in die Taschen meines fadenscheinigen Röckchens vergraben, und überlegte, ob mir die Schlachterfrau wohl für zehn Pfennig Knoblauchwurst mit Semmel auf Borg geben würde. Gab ich dann meiner Seele einen Ruck und wagte mich unter die Menge der Käufer, so bin ich seltsamerweise nie enttäuscht worden. Aber das ergatterte Stückchen Wurst war durch den schweren Akt der Opferung meines Stolzes und die Gefahr einer schweren Demütigung ziemlich hoch bezahlt.   
Unsere Gesellschaft in der Stammkneipe war allmählich in eine ziemlich wüste Kumpanei ausgeartet, in deren Mittelpunkt schließlich der durch Trunk damals ziemlich heruntergekommene Professor James Marshall saß. [...]
Durch einen nächtlichen Vorgang wird erwiesen, zu welchem Tiefstand, welchem Grade von Roheit wir damals gesunken waren und welche niedrigen Elemente sich bei uns aufhielten.
Wir hatten bis nach ein Uhr diskutierend, lärmend, saufend, rauchend um James Marshall herumgesessen und beschlossen einen Lokalwechsel. Ein Kunstschüler namens W., der Seminarbildung hinter sich hatte und mit dem ich kaum je ins Gespräch gekommen war, ging in der Prozession durch die nächtlich verödeten Gassen hinter mir her. Da sah ich Feuer, fühlte mich taub und hörte im rechten Ohr ein feines Klingen. Aber ich hatte blitzschnell begriffen, daß dieser mir nahezu fremde Mensch von rückwärts mit aller möglichen Wucht mir einen Schlag gegen den Kopf versetzt hatte. 
Den Augenblick später hatte ich ihn zu Boden geworfen und wälzte mich mit ihm im Rinnstein herum. Schließlich wurde er still, aber ich war nicht brutal genug, um ihm in gleicher Münze heimzuzahlen. [...]
Dieser sinnlos tückische Mensch war viel stärker als ich. Aber auf meiner Seite war Intelligenz, schnelles Denken und augenblickliche, rückhaltlose Entschlossenheit. Ewig konnte ich nicht auf der Brust dieses hinterhältigen Feiglings knien, und als sich die Kameraden einmischten und erklärten, er habe nun seine Lektion, schwor er auf ihre Veranlassung sozusagen Urfehde und gab, daß alle es hörten, sein Ehrenwort, von nun ab friedlich zu sein. Er bat um Verzeihung – was man von ihm verlangte –, und als es geschehen war, gab ich seine Gelenke frei. 
Sofort hatte ich einen mit aller Kraft geführten Faustschlag im Gesicht und glaubte, mein Auge sei verloren. Wer war von uns beiden nun der Besiegte? Ganz genau entscheiden könnte ich die Frage noch heute nicht. Er hatte den Sieg der Brutalität, den Sieg des Wortbruchs, den Sieg des Unrechts in jedem Betracht, kurz, er hatte den Sieg der Niederträchtigkeit. Ich dagegen war schuldlos überfallen worden, hatte den Sieg der Kraft, den Sieg der Ritterlichkeit, den Sieg der Milde, den Sieg der Versöhnlichkeit. Aber ich war für drei Wochen einäugig, da ich das andere Auge unter der Binde tragen mußte, und vor der Kunstschule doch der Gezeichnete. 
Was war der Grund dafür, daß sich in diesem Menschen ein solcher Haß bilden konnte und losbrechen mußte? Man bleibt auf Vermutungen angewiesen. 
Es ist gesagt worden, in wie hohem Maße Kritik im Elternhaus geübt wurde. Nannte mein Vater jemand einen Menschen, der denkt, so erteilte er ihm sein höchstes Lob. Irgendwie neigten wir alle zu Wortkämpfen und waren nicht willens, uns eine Ansicht aufzwingen zu lassen. Vielleicht hatte die Erkenntnis, wonach der Richterstuhl der eigenen, gottgegebenen Vernunft der höchste ist, es mit sich gebracht, daß ich frisch, frei, fromm und froh in den Tag hinein redete, was ganz allgemein meine Gegner gereizt haben mag. [...]
Die Schüchternheit meiner Lederoser Tage war also abgestreift. In Gesprächen beherrschte mich eher eine oft gefährlichen Freimut in sich schließende Furchtlosigkeit. Sollte ich aber etwas wie ein Krakeeler gewesen sein, so sah ich keineswegs danach aus. Denn als ich einst im Café unter meinen Kameraden saß, kam ein älterer Herr bescheiden an mich heran und wollte wissen, ob ich es übelnehmen würde, wenn er mir eine Frage vorlegte. Ich sagte nein. Er wies auf einen Tisch von bürgerlichen Damen und Herren hin, die verstohlen herüberblickten, und erklärte, es sei eine Wette gemacht worden, weil einige seiner Freunde behaupteten, daß ich ein junger Mann, andere, daß ich ein verkleidetes junges Mädchen sei.

Drittes Kapitel 
Vielfach war es jedoch berechtigte Notwehr, wodurch ich unbeliebt wurde. Ein häßlicher Gemeingeist des rettungslos Mittelmäßigen in der Schule wirkte sich in dem Bestreben aus, nach Möglichkeit alles zu entmutigen, herabzustimmen, zu hindern, zu lähmen, was einen höherstrebenden Zug mit Hoffnung zu verbinden schien. Man konnte sich seiner nur schwer erwehren. Da hieß es: »Sie wollen ein Rauch, Sie wollen ein Hähnel werden! Bilden Sie sich nur das nicht ein! Sagen Sie nur gleich Michelangelo!« Immer wieder vernahm man die Worte: »Sie werden sich schön in die Nesseln setzen!« oder: »Bilden Sie sich nur das nicht ein! Machen Sie sich nur keine Hoffnungen!« – Die Nesseln aber, sie waren das Eingeständnis der eigenen Unfähigkeit. Das, was man sich nicht einbilden sollte, war: ein großer Künstler zu werden, will heißen, überhaupt ein Künstler zu werden, da doch, genaugenommen, man entweder ein großer Künstler oder gar keiner ist. »Sagen Sie nur gleich Michelangelo!« sollte eine allgemeine Höhe bezeichnen, in die hinaufzustreben erwiesener- und anerkanntermaßen für einen Menschen unserer Tage Irrsinn sei. »Machen Sie sich nur keine Hoffnungen«: »Lasciate ogni speranza!« Dante hat diese Worte über dem Eingang zur Hölle gefunden.
[...]
Ich ahnte damals nicht, und wer ahnte es, der mich sah, daß ich einen heroischen Kampf um die höchsten moralischen Güter des Lebens, und noch dazu in Elend, Armut und Verlumpung, zu kämpfen hatte! Von allen Seiten sprangen die dämonischen Mächte der Zerstörung meine ringende Seele und meinen ringenden Körper an, und ich dachte nicht einmal darüber nach, ob ich Aussicht hatte, mit ihnen fertig zu werden. 
Damals kam ich mir verbummelt vor. Aber ich rechnete mir nicht an, was ich tat, was mein Ehrgeiz an Plänen schmiedete, wohin sich mein Wille, meine Hoffnung verstieg, ebensowenig, daß ich bei aller Unordentlichkeit meines Lebens außer Dickens und Thackeray Wilhelm Jordans »Nibelungen« in mich aufgenommen und zwei Gesänge eines »Hermannsliedes« in Stabreimen nach seinem Vorbild gedichtet hatte.
[...]
Als die Schustersfrau, meine Wirtin, die einigen Anteil an mir nahm, mit der Frage »Was soll denn um Gottes willen aus Ihnen werden?!« die Hände rang und mir andere Mieter als Beispiel nannte, Referendare, die bei ihr den Assessor erbüffelt hatten, erwiderte ich, sie möge das mir und Gott überlassen. Dabei hatte ich, ich weiß nicht wieso, eine geradezu frevelhafte Sicherheit. [...]
Ich lag nachts auf einer Roßhaarmatratze, einem Urväterhausrat, der mich vor Jahren nach Breslau in die Wanzen-, Schwaben- und Flohpension begleitet hatte. Als mich wieder einmal der Hunger nicht schlafen ließ, brachte mir der Stich eines Roßhaars das alte Familienstück in Erinnerung und ließ zugleich den Doppelgedanken aufblitzen, daß es eigentlich überflüssig und daß es verkäuflich sei. Mein Entschluß war sogleich gefaßt. Aber als bereits am nächsten Morgen mein Vertrauensmann, ein Packträger, die Matratze auf dem Kopf, durch die Straße schritt, von mir in gemessener Entfernung begleitet, glaubte ich, im Verkehr des Bürgersteiges verborgen, daß alle Welt sich gegen einen öffentlichen Skandal entrüsten müßte. 
Übte ich nicht an meiner Mutter Verrat? War es nicht Mutterliebe, die ich, ein zweiter Judas, für dreißig Silberlinge zu verkaufen mich erniedrigte? 
Meine Wirtin war außer sich, als sie von der Sache erfuhr und von dem Trinkgeld, das man mir für das große Wertobjekt hingeworfen hatte. Ihr Mann, der Schuster, sah sich seit Jahren nach einer solchen Unterlage um, da sein Arzt ihm auf Roßhaar zu liegen als Mittel gegen die Gicht empfohlen hatte. Vielleicht hatte mir die Matratze allein bei den Schustersleuten Kredit verschafft, weil sie ihnen als ein dereinst verfallenes Pfand vorschwebte. Die Schustersfrau war also außer sich. Alle meine Schulden bei ihr, sagte sie, wären durch die Matratze beglichen gewesen, und ich hätte noch Geld herausgekriegt.
[...]
Nach dem von fruchtbaren und gefährlichen Gärungen trächtigen Winter kündigte sich der ereignisreichste Sommer mit einer dramatischen Katastrophe an, als ich auf meinem Tisch bei den Schustersleuten einen großen Brief mit staatlichem Stempel entdecken mußte, in dem man mir meine Verweisung aus der Kunstschule mitteilte. Man nannte als Ursache dieser harten Maßnahme schlechtes Betragen, unzureichenden Fleiß und Schulbesuch. Mein Ausbleiben nach Ferienschluß hatte dem Faß den Boden ausgestoßen. 
Ich war erschrocken und ziemlich erregt. Aber da ich die Sache wesentlich mit mir selbst auszumachen hatte und meinen Vater, der mich aus seiner Vormundschaft entlassen hatte, nicht hineinzuziehen brauchte, machte es keinen niederschmetternden Eindruck auf mich.
Es zeigte sich, daß mein Ausschluß von der alten Partei im Lehrerkollegium durchgesetzt, von der neuen nicht gebilligt war und bei klugem Vorgehen möglicherweise rückgängig gemacht werden konnte. Brave Freunde, Hugo Schmidt, Max Fleischer und Puschmann, hinterbrachten mir das. 
Professor Haertel sei empört. Er habe geäußert, ich möge ihn aufsuchen. Möglicherweise laufe diese ganze sinnlose Angelegenheit auf einen Glücksfall für mich hinaus. Wahrscheinlich nehme mich Haertel als Privatschüler. Und in der Tat würde damit mein leidenschaftlich gehegter Wunsch erfüllt worden sein. Schon am Tage darauf war diese Vermutung Wirklichkeit.
[...]
Es war damit für mich eine neue Ära auf der Kunstschule angebrochen. Die Werkstatt des ausgezeichneten Bildhauers wurde das Fundament, auf das mein Wachstum sich stützen konnte. Eine große Dürerstatue, daran der Meister jetzt arbeitete, wurde von mir naßgehalten, aus ihren Lappen gewickelt, wenn der Professor erschien, und sorgfältig wieder damit bedeckt, wenn er die Werkstatt verlassen hatte. Auf diese Art war ich, was ich mit Stolz empfand, ein Gehilfe und eines Meisters Lehrling geworden.

Viertes Kapitel
 Ich wurde der ganzen Schule merkwürdig. Es war ein Kampf um mich entbrannt und eine Spaltung sichtbar geworden. Viele, die mich früher verhöhnt und gemieden hatten, drängten sich nunmehr an mich heran. Auf alle Fälle hatte ich ja, wie sie sahen, mich durchgesetzt, wenn es auch fraglich war, ob man mich in den Schulkonzern wieder aufnehmen würde. Ausgeschlossen, durfte ich auch den Vorlesungen von Professor Schultz nicht mehr beiwohnen. Die Pause zwischen der ersten und zweiten Stunde pflegte der Kunsthistoriker bei Haertel im Atelier zuzubringen. Um diese Zeit fanden sich gewöhnlich James Marshall und Architekt Rhenius, Junggeselle und eleganter Lebemann, bei uns ein, auch wohl dieser und jener mit Haertel befreundete Breslauer Künstler. Es wurde geraucht und debattiert. 
Eines Tages, als sich diese Gesellschaft besonders zahlreich versammelt hatte, sagte Haertel plötzlich zu mir: »Man hat mir gesagt, daß Sie eine recht nette kleine Dichtung verfaßt hätten. Lesen Sie uns doch mal was vor!« 
Mein Erstaunen war groß, denn ich hatte wirklich nicht angenommen, daß sich etwas dergleichen ereignen könne. Noch heute wüßte ich nicht zu sagen, wer Haertel diesen Gedanken gesteckt haben mochte. Möglicherweise mein Mitschüler Max Fleischer, der sich in letzter Zeit dem Kreise um Hugo Schmidt angeschlossen und einer Vorlesung der zwei oder drei Gesänge meines »Hermannsliedes« beigewohnt hatte. Er war wohl der einzige, dem man es zutrauen kann. 
Auf der Drehscheibe meines dreibeinigen Modellierstuhles stand ein Muskelmann. Ich hatte die Hände sinken lassen, das Modellierholz weggelegt, fühlte wie immer den harten Einband meines Oktavbüchelchens in der Brusttasche und war entschlossen, mich nicht zu zieren, falls Haertel seinen Wunsch, meinen poetischen Versuch zu hören, wiederholen sollte. Ungefähr drückte ich ihm das aus. 
Die Herren waren sehr aufgeräumt. Ein heiter-ironisches Zwischenspiel wurde von Schultz mit erhabenen Vergleichungen, in denen der Name Tasso fiel, von James Marshall durch Witzeleien bestritten. Rhenius fügte besänftigende Äußerungen des Mitleids ein und nahm Anlaß, mir ermutigend auf die Schulter zu klopfen. »Ut desint vires, tamen est laudanda voluntas!« sagte er. 
Nun trotzdem, es kam plötzlich etwas Musisches in den Raum. Die Vögel sangen im kleinen Vorgarten. Die Statue Dürers war enthüllt und blickte geruhig auf mich herunter. Das war, ich begriff es sofort, ein vielleicht gottgesandter Augenblick, ganz ausdrücklich für mich beschlossen. Die hochmögenden Herren und Richter aber waren wohl auch für die glücklichen Gegebenheiten an Raum, Stunde und schöner Identität mit großen musischen Ereignissen der Vergangenheit nicht unempfindlich. Sie fügten sich gern dem schönen Schein, ob er auch bald durch das Fiasko eines blutigen Anfängertums, einer Versündigung am Geiste der Poesie, zerstört werden mochte.
Nimm alle Kraft zusammen, die Lust und auch den Schmerz!
Es gilt uns heut, zu rühren des Königs steinern Herz!
Dies ungefähr drückt mein Empfinden aus, als ich mein Oktavbüchelchen aufgeschlagen in der Linken hielt, mit der Rechten die Platte des Modellierstuhls gefaßt hatte, mich räusperte und zu lesen begann.
Da wurde es still, stiller und blieb auch still, nachdem der letzte Hall meines letzten Wortes, von den Wänden des hohen Ateliers zurückgeworfen, verklungen war.
War ich selber der Urheber dessen, was jetzt vor sich ging? War meine Dichtung der Begeisterung würdig, die sie auslöste? Möglich, daß sie nur der Art meines Vortrags galt. Möglich auch, daß schon ein Mittelmäßiges unerwartet und also überraschend kam, weil man ein Nichts oder eine Lächerlichkeit voraussetzte. Dann hätte ich den Beifall, der mich umgab, einer Urteilsüberrumpelung zu verdanken. Eine andere Erklärung schwebt mir vor. Meine menschliche Gegenwart, mein Vortrag, mein Gedicht, die außergewöhnliche Art, die mich in einen Wirbel von Konflikten gezogen hatte: dies alles hat zusammengewirkt, um meinen Hörern im Nu einen Begriff meines Wesens zu geben. Mein ganzes Sein wurde aufgeschlossen, die Zukunft wie die Vergangenheit. Und so war ich allerdings von dem Verhalten der Herren der wahre Urheber. Aber eben in meiner Ganzheit war ich es und nicht durch Dichtung und Vortrag allein. [...]
Haertel und Marshall rannten umher. Der Kunsthistoriker Schultz war der ruhigste. Er nickte nur mit dem Kopf. Rhenius tobte vor meinen Ohren: »Und solch einen Menschen wollen die Esel hinausschmeißen!« – »Ein Dichter von Gottes Gnaden! Ein Dichter von Gottes Gnaden! Ein Dichter von Gottes Gnaden!« wiederholte Marshall immerzu. Haertel aber, dessen unbegreifliches Vertrauen zu meinen dichterischen Gaben keinerlei Unterlagen gehabt hatte, schritt wie ein Triumphator, brummelnd und Zigaretten qualmend, in seinem Studio hin und her oder stand wohl auch still und schüttelte die Faust gegen die Decke, als ob er über irgendwen, vielleicht den Direktor, das Jüngste Gericht herabrufen wolle. 
Am folgenden Tage war ich zum ersten Male ein berühmter Mann. Die Kunstschülerinnen – es gab auch solche – umschwärmten mich. Ich mußte in ihre Stammbücher einschreiben. Einige unter ihnen waren schön. Man fragte mich,wann und um welche Tageszeit ich am besten dichte, ob ich rauche, Tee oder Kaffee trinke, kurz, die Kunstschule hatte in diesen Tagen keinen Schüler, berühmt wie ich.

So hatten wir uns denn viel zu erzählen, Carl und ich, als wir um Pfingsten in Sorgau zusammentrafen. [...] Natürlich schlug auch die Nähe Weimars in Carls Berichte hinein, da von dort aus noch die fortlebende Seelenwärme Goethes in die berühmte Universitätsstadt herüberdrang. Hatte sich doch überdies ein sehr wesentlicher Teil seines Lebens und Wirkens in Jena vollzogen. [...]
Sokrates würde in uns zwei echte Schüler erkannt haben. Wir spürten seine Aura um uns.
 [...]
Irgendwie nahmen auch meine Eltern teil an unserer fortreißenden Euphorie und Eudämonie. Sie hatten uns lieb, spürten den Aufschwung in uns und wurden von unserer festlich frohen Erregung mitgenommen. Die lächelnd erwärmte Teilnahme meiner Mutter verlor dennoch nicht ganz einen nachdenklich sorgenvollen Zug.
 [...]

Man hatte mich am letzten Tage vor den Ferien wiederum feierlich in die Kunstschule aufgenommen. [...]

(Gerhart Hauptmann: Das Abenteuer meiner Jugend, 1937)

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