13 November 2017

Gerhart Hauptmann: Das Abenteuer meiner Jugend (Kap.52-53)

Zweiundfünfzigstes Kapitel
Seltsam, ich hatte die Lehre verlassen, um in Proskau Ökonomie zu studieren. Die Schuberts, die Eltern, ich selber, wir hatten keinen anderen Gedanken. Kaum war ich in Sorgau, als von Landwirtschaft, die ich noch tags zuvor für meinen fest bestimmten Lebensberuf gehalten hatte, mit keinem Wort mehr die Rede war. Mein Vater, ich fühlte es, hatte mich freigegeben. Stillschweigend war die Berufswahl wieder in meine Hand gelegt. 

Ich durchlebte zunächst eine Muluszeit, konnte mich nach Belieben bewegen, Ausflüge machen oder auch ruhen, ohne daß sich jemand um mich kümmerte. Es wurde kaum laut davon gesprochen, aber es fand gerade damals ein bedeutungsvolles Ereignis statt. Die alte Krone war unter den Hammer gekommen. Man spürte, daß mein Vater dadurch nicht überrascht worden war. Die vernichtende Wirkung auf die Familie war durch die Bahnhofspachtung, die auf den Namen der Mutter lief, einigermaßen paralysiert. Was Vater dachte, war schwer zu sagen. Die Mutter, wenn man ihr glauben wollte, war, getreu ihrer früheren Haltung, froh, daß es endlich so weit gekommen war. [...]

Es war für mich ein Tag von hoher Bedeutsamkeit, nicht nur durch den neuen Rhythmus, den er mir gab, sondern durch eine Erkenntnis, die plötzlich im Laufe des heiteren Disputierens in mir aufleuchtete. Sie hat mich zu einem neuen, einem selbstbewußten Menschen gemacht und ist mir bis heut nicht verlorengegangen. Es wurde mit ihr gewissermaßen das gesunde und gerade Wachstum meiner Knabenjahre wieder aufgenommen und nach jahrelangem Siechtum auf höherer Stufe fortgesetzt: eine Möglichkeit, an der ich noch jüngst in Salzbrunn verzweifeln wollte. [...]

Nun war ich frei, denn ich wurde von der neugeborenen Göttin für frei erklärt. Es ist der Mensch, der den Staat, die Kirche, die Schule für seine Zwecke geschaffen hat. Ich bin solch ein Mensch, ich bin der Mensch. Und weil ich der Mensch bin, bin ich der Schöpfer. Feste Bildungen, im Sinne von ein für allemal gegebener, unveränderlicher Art, sind menschliche Institutionen nicht. Es sind veränderliche Gebilde. Nur dadurch sind sie wachstumsfähig, nur darin besteht die Möglichkeit, sie zu vervollkommnen, und ich bin berufen, ich möchte sagen mit jedem meiner Gedanken, daran mitzuarbeiten. Es gibt in dieser Beziehung nur Menschen gleichen Berufes neben mir, nicht über mir. Und so habe ich mich an jenem Tage, indem ich mir dies alles sagte, bewußt und klar zum Ritter geschlagen. Die Stunde dieser Erkenntnis war der Zeitpunkt meiner Geburt als Persönlichkeit. [...]

Was auf der Ohlewiese vor sich gehen sollte, war nach altgermanischem Muster die Zeremonie der Blutsbrüderschaft. Schweigend wurde ein Rasenstreifen ausgehoben und mit vieler Mühe durch abgebrochene Zweiggabeln gestützt und in die Höhe gehalten. Unter ihn tretend, leisteten wir einander den Blutsbruderschwur. So waren wir denn verbunden, mit Gut und Blut und auf Lebenszeit, sowohl der Idee wie untereinander. 
Der mystische Pate dieses mystischen Vorgangs war Felix Dahn, der besonders auf den tüchtigen, sonst so nüchternen Alfred Ploetz durch seine Romane »Odhins Trost«, »Kampf um Rom« und anderes den entscheidenden Einfluß ausübte. Bald danach und den ganzen Winter hindurch trat die Beschäftigung mit dem pangermanischen Ideal in den Hintergrund. 
Die Blutsbrüder, in der Mehrzahl Primaner außer mir, büffelten für das Abiturium, das zu Ostern steigen sollte. Mich besuchte alle drei Tage ein Lehrer, der Dallwitz hieß, kaum das Ende der Stunde erwarten konnte und ebensowenig wußte wie ich, was zu meinem Examen notwendig war oder was er mit mir anfangen sollte. In diesem Betrachte war nun wieder der Winter, war der kommende Sommer zusammengenommen ein verlorenes Jahr.

Dreiundfünfzigstes Kapitel 
Auch sonst war es eine tote Epoche, wie ich sie nach dem vielversprechenden Anfang nicht erwartet hätte. Vor meinen Fenstern hinter dem Stadtgraben lag das burgartig bekuppelte Gebäude der Liebichshöhe, und da ich die meiste Zeit mit pflichtgemäßem Nichtstun im Zimmer verbrachte, konnte ich mich an der immerhin schönen Aussicht erlaben bis zum Überdruß. [...]
Mein Vater lud die Malerfamilie gelegentlich zu Tische ein, und da es in seiner Jugend üblich war, sich von reisenden Malern malen zu lassen, empfahl er Herrn Glitschmann hie und da einem der Honoratioren des Kreises Waldenburg, von denen er diesen und jenen kannte. Glitschmann blickte mich, als ich im Sommer in Sorgau zu Besuch erschien, mit besonderen Augen an, und ich fühlte mich zu ihm hingezogen. Wie er schnell und sicher mit der Feder sprechende Züge auf einen Briefbogen warf, konnte ich gar nicht genug bestaunen. Diese Kunstübung sah ich zum erstenmal und gestand mir ein, daß meine Versuche in dieser Beziehung Stümperei seien. [...]
Noch war ich damals so rein, so unverdorben oder so unwissend, daß mir die Kunst als etwas Unerreichbares, schlechthin Göttliches vorschwebte. Kaiser, Könige, Fürsten sagten mir nichts, wogegen ich mir die Schöpfer der von mir genannten Kunstwerke ohne weiteres nur als Götter oder mindestens als im Besitz übernatürlicher Kräfte vorstellen konnte. Daran, daß die hohen Gebiete ihres Wirkens für einen niederen und gemeinen Sterblichen, der ich war, je in Betracht kommen könnten, bis zu diesem Gedanken hatte sich meine Seele nie und nimmer zu erheben gewagt. [...]
Es war gewiß der Dichter in mir, dem ich einen so hohen Begriff von bildender Kunst verdanke. Er hatte mir aber seltsamerweise einstweilen noch nicht den gleichen Begriff von der eigenen Kunst zu geben vermocht. [...]
Obgleich ich sommersüber nur die Stunden mit Dallwitz fortführte, machte ich im Juli große Ferien. In Salzbrunn, das ich von Sorgau aus wie immer besuchte, tauchte die Familie Weigelt auf, die Konsistorialrätin, die freundliche Tochter und Konrad, der Sohn. War ich diesen Menschen in meiner Knabenzeit unauslöschlichen Dank schuldig geworden, als sie mich armen, unbeachteten, gleichsam vergessenen Jungen in ihren hochbürgerlichen Kreis zogen, so bewahrten sie mir jetzt eine unveränderte Anhänglichkeit und folgten meiner Entwicklung mit Teilnahme. [...]
Nun ritt ich bereits mein Steckenpferd; Hoffnung, Freude und Eitelkeit bewirkten es, daß ich mich den Konsistorialratsdamen gegenüber bereits als werdender Künstler aufspielte. Sie sowohl wie Konrad Weigelt, mein Freund, schienen davon sehr angetan. Heute weiß ich nicht mehr, was ich ihnen, sicher in überstiegener Weise, damals vorfabelte. [...]
Noch wußte ich nicht, wie der Vater meine Absicht, Künstler, und zwar Bildhauer, zu werden, aufnehmen würde. Seit meiner Rückkehr von Lederose hatte er sich in Schweigen gehüllt. [...]
Mir schienen die Aussichten, die mein Plan in den Augen des Vaters hatte, nicht sehr ermutigend. Aber ich konnte nicht ewig damit hinterm Berge halten. Die Gelegenheit, mich zu eröffnen, ergab sich bei einem unserer Gänge nach Fürstenstein, den ich mit ihm allein machte. Ich faßte Mut und rückte mit meiner Absicht heraus. Da er immer nur schwieg, stellte ich mich, als würde ich wärmer und wärmer, bis ich schließlich wirklich in Hitze geriet. [...]
Ich schwieg, als mein Latein zu Ende war, und war auf die kalte Dusche gefaßt, die mich abkühlen und mein Strohfeuer löschen sollte. Diesmal aber täuschte ich mich. 
»Das ist ein guter Gedanke von dir«, sagte mein Vater, »dem ich vollkommen zustimme.« Ich fragte: »Wie?« Und er wiederholte das schon Gesagte Wort für Wort. Dann fuhr er fort: »Es kommt darauf an, daß du das wirklich willst, wovon du gesprochen hast. Wenn du es wirklich willst, wenn ein Mensch wirklich etwas will, so erreicht er es, er mag sich sein Ziel noch so hoch stecken. Ich finde übrigens, daß man sich ein Ziel nicht zu hoch stecken kann. Nur, wie gesagt, man muß es erreichen wollen, muß einen festen Glauben daran behalten, darf nicht rechts und links abschweifen, sich durch keine Querschläge und Fehlschläge entmutigen lassen. Es ist immer ein Segen, wenn ein junger Mensch auf diese Art etwas will. Ich freue mich, daß dieser Wille so klar und bestimmt in dir aufgestiegen ist, und man kann dir dazu nur gratulieren.«
Damit klopfte er mir auf die Schulter. Ich aber schwieg. Ich war so bewegt, ich hätte kein Wort des Dankes, kein Wort der Freude hervorbringen können.

(Gerhart Hauptmann: Das Abenteuer meiner Jugend, 1937)

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