18 November 2019

Gottfried Keller: Der grüne Heinrich (erste Fassung): Heinrich Lee

"[...] Unter einer offenen Halle dieses Waldes ging am frühsten Ostermorgen ein junger Mensch; er trug ein grünes Röcklein mit übergeschlagenem schneeweißen Hemde, braunes dichtwallendes Haar und darauf eine schwarze Samtmütze, in deren Falten ein feines weiß und blaues Federchen von einem Nußhäher steckte. Diese Dinge, nebst Ort und Tageszeit, kündigten den zwanzigjährigen Gefühlsmenschen an. Es war Heinrich Lee, der heute von der bisher nie verlassenen Heimat scheiden und in die Fremde nach Deutschland ziehen wollte; hier heraufgekommen, um den letzten Blick über sein schönes Heimatland zu werfen, beging er zugleich den Akt eines Naturkultus, wie es häufig bei hoffnungsreichen und enthusiastischen Jünglingen geschieht.
Sowenig, außer dem tiefen ruhigen Strömen des Flusses, ein Ton in dieser Frühe hörbar wurde, ebensowenig war an der weiten tiefen himmlischen Kristallglocke der leiseste Hauch eines Wölkleins zu sehen. Der weite See verschmolz mit den Füßen des Hochgebirges in eine blaugraue Dämmerung; die Schneekuppen und Hörner standen milchblaß in der Frühe. Als Heinrich an den Rand des Waldes trat, überflog der erste Rosenschimmer[13] der nahenden Sonne die geisterhaften Gebilde; über dem letzten einsamen Eisaltar glimmte noch der Morgenstern. [...]"

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