26 November 2019

Keller: Der grüne Heinrich: Versuche, sich Anna anzunähern und ein eigenes Urteil zu entwickeln

"Ich hatte, nach Büchern herumspürend, einen Roman des Jean Paul in die Hände bekommen. In demselben schien mir plötzlich alles tröstend und erfüllend entgegenzutreten, was ich bisher gewollt und gesucht oder unruhig und dunkel empfunden. Diese Herrlichkeit machte mich stutzen, dies schien mit das Wahre und Rechte! Und inmitten der Abendröten und Regenbogen, der Lilienwälder und Sternensaaten, der rauschenden und blitzenden Gewitter, inmitten all des Feuerwerkes der Höhe und Tiefe, in diesen saumlosen schillernden Weltmantel gehüllt der Unendliche, groß, aber voll Liebe, heilig, aber ein Gott des Lächelns und des Scherzes, furchtbar von Gewalt, doch sich schmiegend und bergend in eine Kinderbrust, hervorguckend aus einem Kindesauge, wie das Osterhäschen aus Blumen! Das war ein andrer Herr und Gönner, als der silbenstecherische Patron im Katechismus! [...]
Wenn ich nach malerischen Gegenständen umherstreifte, so suchte ich vorzüglich die Stellen auf, wo ich mit Anna geweilt hatte; so war die geheimnisvolle Felswand am Wasser, wo ich mit ihr geruht und jene Erscheinung gesehen, schon von mir gezeichnet worden, und ich konnte mich nun nicht enthalten, auf der schneeweißen Wand des Kämmerchens ein sauberes Viereck zu ziehen und das Bild mit der Heidenstube, so gut ich konnte, hineinzumalen. Dies sollte ein stiller Gruß für sie sein und ihr später bezeugen, wie beständig ich an sie gedacht. Diese fortwährende Erinnerung an sie und ihre Abwesenheit machten mich insgeheim immer kecker und vertraulicher mit ihrem Bilde; ich begann lange Liebesbriefe an sie zu schreiben, die ich zuerst verbrannte, dann aufbewahrte, und zuletzt wurde ich so verwegen, alles, was ich für Anna fühlte, auf ein offenes Blatt zu schreiben, in den heftigsten Ausdrücken, mit Vorsetzung ihres vollen Namens und Unterschrift des meinigen, und dies Blatt auf das Flüßchen zu legen, daß es vor aller Welt hinabtrieb, dem Rheine und dem Meere zu, wie ich kindischerweise dachte. Ich kämpfte lange mit diesem Vorsatze, allein ich unterlag zuletzt; denn es war eine befreiende Tat für mich und ein Bekenntnis meines Geheimnisses, wobei ich freilich voraussetzte, daß es in nächster Nähe niemand finden würde. Ich sah, wie es gemächlich von Welle zu Welle schlüpfte, hier von einer überhängenden Staude aufgehalten wurde, dann lange an einer Blume hing, bis es sich nach langem Besinnen losriß; zuletzt kam es in Schuß und schwamm flott dahin, daß ich es aus den Augen verlor. Allein der Brief mußte unterwegs doch wieder irgendwo gesäumt haben, denn erst tief in der Nacht gelangte er zu der Felswand der Heidenstube, an die Brust einer badenden Frau, welche niemand anders als Judith war, die ihn auffing, las und aufbewahrte. [...]
Daß mir nur die Possen wiedervergolten worden, die ich meinem Lehrer Habersaat mit jenen schwindelhaften Naturstudien gespielt hatte, daran dachte ich nicht im Traume.
[...]
Während der Pfarrer predigte und ich Anna in Gedanken aufmerksam und still dasitzen sah, nahm ich Papier und Feder und schrieb meine Gefühle für sie in feurigen Worten nieder. Ich erinnerte sie an die zärtliche Begebenheit auf dem Grabe der Großmutter, nannte sie mit ihrem Namen und brachte so häufig als möglich das Du an, welches ehedem zwischen uns gebräuchlich gewesen. Ich ward ganz beglückt über diesem Schreiben, hielt manchmal inne und fuhr dann in um so schöneren Worten wieder fort. Das Beste, was in meiner zufälligen und zerstreuten Bildung angesammelt lag, befreite sich hier und vermischte sich mit der Empfindung meiner augenblicklichen Lage. Überdies wob sich eine schwermütige Stimmung durch das Ganze, und als das Blatt vollgeschrieben war, durchlas ich es mehrere Male, als ob ich damit jedes Wort der Anna ins Herz rufen könnte. Dann reizte es mich, das Blatt offen auf dem Tische liegen zu lassen und in den Garten zu gehen, damit es der Himmel oder sonst wer durch das offene Fenster lesen könne; aber nur die völlige Sicherheit, daß jetzt noch keine menschliche Seele in der Nähe sei, gab mir diese Verwegenheit, mit welcher ich zwischen den Beeten auf und nieder spazierte, nach dem Fenster hinauf schauend, hinter welchem meine schöne Liebeserklärung lag. Ich glaubte etwas Rechtes getan zu haben und fühlte mich zufrieden und befreit, verfügte mich aber bald wieder in die Stube, da ich dem Frieden doch nicht recht traute, und kam gerade dort an, als das Blatt, durch den Luftzug getragen, zum Fenster hinaussäuselte. Es setzte sich auf einem Apfelbaume nieder; ich lief wieder in den Garten; dort sah ich es sich erheben und mit einem gewaltigen Schusse auf das Bienenhaus zufliegen, wo es hinter einem vollen summenden Bienenkorbe sich festklemmte und verschwand. Ich näherte mich dem Korbe; allein die Bienen waren, in Betracht der kurzen Sommerzeit, polizeilich von der Sonntagsfeier dispensiert, ihre Arbeit als Notwerk erklärt; es summte und kreuzte sich vor dem Hause, daß an kein Durchkommen zu denken war. [...]
Gleich einem Stare wußte er alle Systeme von Thales bis auf heute herzusagen; allein er verstand sie immer im wörtlichsten und sinnlichsten Sinn, wobei besonders seine Auffassung der Gleichnisse und Bilder einen komischen Unfug hervorbrachte. Wenn er von Spinoza sprach, so war ihm nicht etwa die Idee aller möglichen Stühle der Welt, als ein Stück zweckmäßig gebrauchter Materie, der Modus, sondern der einzelne Stuhl, der gerade vor ihm stand, war ihm der fertige und vollständige Modus, in welchem die göttliche Substanz in wirklichster Gegenwart steckte, und der Stuhl wurde dadurch geheiligt. Bei Leibniz fiel ihm nicht etwa die Welt in einem greulichen Monadenstaub auseinander, sondern die Kaffeekanne auf dem Tisch, mit welcher er gerade exemplierte, drohte auseinander zu gehen und der Kaffee, welcher im Gleichnis nicht mitbegriffen, auf den Tisch zu fließen, so daß der Philosoph sich beeilen mußte durch die prästabilierte Harmonie die Kanne zusammenzuhalten, wenn wir den erquickenden Trank genießen wollten. Bei Kant hörte man das göttliche Postulat so leibhaftig und zierlich erklingen, wie ein Posthörnchen, aus der tiefen Ferne der innersten Brust; bei Fichte verschwand wieder alle Wirklichkeit gleich den Trauben in Auerbachs Keller, nur daß wir nicht einmal an unsere Nasen glauben durften, welche wir in den Händen hielten; wenn Feuerbach sagte: »Gott ist nichts anderes, als was der Mensch aus seinem eigenen Wesen und nach seinen Bedürfnissen abgezogen und zu Gott gemacht hat, folglich ist niemand als der Mensch dieser Gott selbst«, so versetzte sich der Philosoph sogleich in einen mystischen Nimbus und betrachtete sich selbst mit anbetender Verehrung, so daß bei ihm, indem er die religiöse Bedeutung des Wortes immer beibehielt, zu einer komischen Blasphemie wurde, was im Buche die strengste Entsagung und Selbstbeschränkung war. [...]
Der Freiheitssinn meines Vaters in religiöser Hinsicht war vorzüglich gegen die Übergriffe des Ultramontanismus und gegen die Unduldsamkeit und Verknöcherung reformierter Orthodoxen gerichtet, gegen absichtliche Verdummung und Heuchelei jeder Art, und das Wort Pfaff war bei ihm daher öfter zu hören. Würdige Geistliche ehrte er aber und freute sich, ihnen Ergebenheit zu zeigen, und wenn es womöglich ein erzkatholischer, aber ehrenwerter Priester war, welchem er Ehrerbietung beweisen konnte, so machte ihm dies um so größeres Vergnügen, gerade weil er sich im Schoße der Zwinglischen Kirche sehr geborgen fühlte. Das Bild des humanen und freien Reformators, der auf dem Schlachtfelde gefallen, war meinem Vater ein geliebter sicherer Führer und Bürge. Ich aber stand nun auf einem anderen Boden und fühlte wohl, daß ich bei aller Verehrung für den Reformator und Helden doch nicht eines Glaubens mit meinem Vater sein würde, während ich seiner vollkommenen Duldsamkeit und Achtung für die Unabhängigkeit meiner Überzeugung gewiß war. [...]
(Keller: Der grüne Heinrich ab Kapitel 5)

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