Es hat mich angesprochen, als ich - bei Mörike auf ein paar etwas dunkle Verse treffend - las, dass sie sich auf eine Kindheitsphantasiewelt bezogen. Nicht eine wie bei uns aus literarischen Versatzstücken zusammengesetzte Spielwelt, sondern eine recht eigene frei entwickelte, so wie sie mir - freilich auch wieder anders - später bei den Bronté-Geschwistern begegnen sollte.
Dass sie in Maler Nolten vorkomme, wusste ich schon länger. Doch jetzt erst finde ich Zeit, sie etwas genauer kennen zu lernen.
Wie im Sommernachtstraum oder anders bei Hamlet tritt eine Schauspielergesellschaft auf, die die Haupthandlung durch ein Stück unterbricht.
Zunächst werden wir ganz prosaisch in diese Welt eingeführt, dann beginnt das Stück.
»Diese Fabel«, bemerkte der Schauspieler, »und der Ort, wo sie vorgeht, ist freilich närrisch genug, und es bedarf einer kleinen Vorerinnerung, wenn man den Poeten nicht über alle Häuser wegwerfen soll.
Ich hatte in der Zeit, da ich noch auf der Schule studierte einen Freund, dessen Denkart und ästhetisches Bestreben mit dem meinigen Hand in Hand ging; wir trieben in den Freistunden unser Wesen miteinander, wir bildeten uns bald eine eigene Sphäre von Poesie, und noch jetzt kann ich nur mit Rührung daran zurückdenken. Was man auch zu dem Nachfolgenden sagen mag, ich bekenne gern, damals die schönste Zeit meines Lebens genossen zu haben. Lebendig, ernst und wahrhaft stehen sie noch alle vor meinem Geiste, die Gestalten unserer Einbildung, und wem ich nur einen Strahl der dichterischen Sonne, die uns damals erwärmte, so recht gülden, wie sie war, in die Seele spielen könnte, der würde mir wenigstens ein heiteres Wohlgefallen nicht versagen, er würde selbst dem reiferen Manne es verzeihen, wenn er noch einen müßigen Spaziergang in die duftige Landschaft jener Poesie machte und sogar ein Stückchen alten Gesteins von der geliebten Ruine mitbrachte Doch zur Sache. Wir erfanden für unsere Dichtung
[89] einen außerhalb der bekannten Welt gelegenen Boden, eine abgeschlossene Insel, worauf ein kräftiges Heldenvolk, doch in verschiedene Stämme, Grenzen und Charakterabstufungen geteilt, aber mit so ziemlich gleichförmiger Religion, gewohnt haben soll. Die Insel hieß
Orplid, und ihre Lage dachte man sich in dem Stillen Ozean zwischen Neuseeland und Südamerika. Orplid hieß vorzugsweise die Stadt des bedeutendsten Königreichs: sie soll von göttlicher Gründung gewesen sein und die Göttin Weyla, von welcher auch der Hauptfluß des Eilands den Namen hatte, war ihre besondere Beschützerin. Stückweise und nach den wichtigsten Zeiträumen erzählten wir uns die Geschichte dieser Völker. An merkwürdigen Kriegen und Abenteuern fehlte es nicht. Unsere Götterlehre streifte hie und da an die griechische, behielt aber im ganzen ihr Eigentümliches; auch die untergeordnete Welt von Elfen, Feen und Kobolden war nicht ausgeschlossen.
Orplid, einst der Augapfel der Himmlischen, mußte endlich ihrem Zorne erliegen, als die alte Einfalt nach und nach einer verderblichen Verfeinerung der Denkweise und der Sitten zu weichen begann. Ein schreckliches Verhängnis raffte die lebende Menschheit dahin, selbst ihre Wohnungen sanken, nur das Lieblingskind Weylas, nämlich Burg und Stadt Orplid, durfte, obgleich ausgestorben und öde, als ein traurig schönes Denkmal vergangener Hoheit stehen bleiben. Die Götter wandten sich auf ewig ab von diesem Schauplatz, kaum daß jene erhabene Herrscherin zuweilen ihm noch einen Blick vergönnte, und auch diesen nur um eines einzigen Sterblichen willen, der, einem höheren Willen zufolge, die allgemeine Zerstörung weit überleben sollte.
Neuerer Zeiten, immerhin nach einem Zwischenraum von beinahe tausend Jahren, geschah es, daß eine Anzahl europäischer Leute, meist aus der niedern Volksklasse, durch Zufall die Insel entdeckte und sich darauf ansiedelte. Wir Freunde durchstöberten mit ihnen die herrlichen Reste des Altertums, ein gelehrter Archäologe, ein Engländer, mit Namen Harry, war zum Glück auf dem Schiffe mitgekommen, seine kleine Bibliothek und sonst Materialien verschiedenen Gebrauchs waren gerettet worden; Nahrung aller Art zollte die Natur im Überfluß, die neue Kolonie gestaltete sich mit jedem Tage besser und bereits blüht eine zweite Generation in dem Zeitpunkte, wo unser heutiges Schauspiel sich eröffnet.
Was nun diese dramatische, oder vielmehr sehr undramatische Kleinigkeit betrifft, so sind meine Wünsche erfüllt, wenn die verehrten Zuschauer sich mit einiger Teilnahme in die geistige Temperatur meiner Insel sollten finden können, wenn sie für die willkürliche Ökonomie meines Stückes einen freundschaftlichen Maßstab mitbringen und sich mehr nur an den Charakter, an das Pathologische der Sache halten. Das ganze Ding machte sich, ich weiß nicht wie, vor kurzem erst, nachdem mir seit langer Zeit wieder einmal eines Abends die alten Erinnerungen in den Ohren summten. Eine längst gehegte tragische Lieblingsvorstellung drang sich vorzüglich in dem Charakter des letzten Königs von Orplid auf; dagegen gab es Veranlassung, zwei moderne, aus dem Leben gegriffene Nebenfiguren lustig einzuflechten, wovon die eine in der Laufbahn meines Freundes Nolten dergestalt Epoche gemacht, daß diese Person – und sie soll ja neuerdings wieder in unserer Stadt spuken – sogar einigen der Anwesenden als eine nicht ganz unbekannte Fratze wiederbegegnen wird.«
Hier steckten sich einige begierige Köpfe zusammen, und als es hieß, daß jener diebische Bediente Noltens im Schattenspiel seine Aufwartung machen werde, verlautete allgemein ein herzliches Vergnügen; man machte sich überhaupt auf eine ergötzliche Unterhaltung gefaßt, nur Tillsen fühlte sich im stillen durch jene komische Berührung verletzt, wiewohl niemand an etwas Beleidigendes dachte.
»In einem andern Subjekt«, fuhr der Schauspieler fort, »in dem Kameraden des vorigen zeig ich Ihnen meinen eigenen ehmaligen Sancho; es machte mir Freude, diese beiden Tröpfe einmal treulich zu kopieren, Nolten verfehlte keinen Zug, und die Gesellschaft muß uns schon vergeben, wenn wir sie auf einen Augenblick in das Dachstübchen dieser Schmutzbärte zu schauen zwingen.«
Indessen hatte Larkens den erforderlichen Apparat aus seinem Hause holen lassen; der Diener brachte ein braunes Kästchen, worin das Zaubergeräte verschlossen war; zugleich zog der Schauspieler ein Manuskript hervor, blätterte und sagte: »In Absicht auf die Art und Weise, wie die Tableaux den Text begleiten, versteht sich von selbst, daß der Schauplatz zuweilen, wiewohl nur selten, leer bleiben wird, daß für den Maler nicht jede Szene gleich brauchbar sein konnte, daß er von einer Szene meist nur einen Moment, einehervorstechende Gruppe darstellen konnte, daß jedoch so viel Varietät als nur immer möglich in die Bilder gebracht wurde. Nun hab ich nur noch eine Bitte, den Vortrag des Dialogs betreffend. Ich werde zwar sämtliche männliche Personen aus meinem Munde mit abwechselnder Stimme unter sich sprechen lassen, für die weiblichen aber und für die Kinderkehlen sollte mir doch eins und das andre der Fräulein zur Seite stehen und mit mir aus der Rolle lesen. Welche von den Damen würde wohl die Gefälligkeit haben? Sie, Fräulein von R. und von G. erfreuten uns schon auf dem Liebhabertheater, an Sie richt ich meine Bitte im Namen aller.«
Die Schönen mußten sich's gefallen lassen, sie traten mit dem dargereichten Hefte beiseit, es vorläufig zu durchsehen, während Larkens sich von der Gräfin einen geheizten Saal mit weißen Wänden ausbat und seine Einrichtung traf.
Nach kurzer Zeit ertönte sein Glöckchen, das die Gesellschaft hinüber lud in den verdunkelten Saal. Hinter einer spanischen Wand, die nach einer Seite offen war, befanden sich Larkens und seine Gehülfinnen neben der magischen Laterne, welche inzwischen nur einen runden hellen Schein an die Zimmerdecke warf. Man nahm im Halbkreise Platz, und Nolten hatte sich so gesetzt, daß er Constanzen ins Auge fassen konnte.
Nachdem alles stille geworden, begann hinter der Gardine eine einleitende Symphonie auf dem Klavier von einem Mitgliede der Gesellschaft gespielt und von Larkens mit dem Violoncello begleitet. Unter den letzten Akkorden erschien an der breitesten, völlig freien Wandseite des Saales in bedeutender Größe die Ansicht einer fremdartigen Stadt und Burg, im Mondschein, vom See bespült, links im Vorgrund drei sitzende Personen und der Dialog nahm seinen Anfang.
Wir bedenken uns nicht, den Leser an dem Spiele teilnehmen zu lassen, da es nachher in den Gang unserer Geschichte einschlägt und die wichtigsten Folgen hat. Zugleich mag es einen lebhaften Begriff von dem inneren Leben jenes Schauspielers geben, welcher bereits unsere Aufmerksamkeit erregte und noch mehr künftig unsere Teilnahme gewinnen wird.
Der letzte König von Orplid
Ein phantasmagorisches Zwischenspiel
Erste Szene
Anblick der Stadt Orplid mit dem Schlosse; vorn noch ein Teil vom See. Es wird eben Nacht. Drei Einwohner sitzen vor einem Haus der unteren Stadt auf einer Bank im Gespräch. Suntrard, der Fischer, mit seinem Knaben, und Löwener, der Schmied.
SUNTRARD. Lasset uns hieher sitzen, so werden wir nach einer kleinen Weile den Mond dort zwischen den zwei Dächern heraufkommen sehen.
KNABE. Vater, haben denn vor alters in all den vielen Häusern dort hinauf auch Menschen gewohnt?
SUNTRARD. Jawohl. Als unsere Väter, vom Meersturm verschlagen, vor sechzig Jahren zufälligerweise an dem Ufer dieser Insel, was das Einhorn heißt, anlangten, und tiefer landeinwärts dringend sich rings umschauten, da trafen sie nur eine leere steinerne Stadt an; das Volk und das Menschengeschlecht, welches diese Wohnungen und Keller für sich gebauet, ist wohl schon bald tausend Jahr ausgestorben, durch ein besonderes Gerichte der Götter, meint man, denn weder Hungersnot noch allzu schwere Krankheit entsteht auf dieser Insel.
LÖWENER. Tausend Jahr, sagst du, Suntrard? Gedenk ich so an diese alten Einwohner, so wird mir's, mein Seel, nicht anders, als wie wenn man das Klingen kriegt im linken Ohr.
SUNTRARD. Mein Vater erzählt, wie er, ein Knabe damals noch, mit wenigen Leuten, fünfundsiebzig an der Zahl, auf einem zerbrochenen Schiffe angelangt, und wie er sich mit den Genossen verwunderte über eine solche Schönheit von Gebirgen, Tälern, Flüssen und Wachstum, wie sie darauf fünf, sechs Tage herumgezogen, bis von ferne sich auf einem blanken, spiegelklaren See etwas Dunkeles gezeigt, welches etwan ausgesehen, wie ein steinernes Wundergewächs, oder auch wie die Krone der grauen Zackenblume. Als sie aber mit zweien Kähnen darauf zugefahren, war es eine felsige Stadt von fremder und großer Bauart.
KNABE. Eine Stadt, Vater?
SUNTRARD. Wie fragst du, Kind? Ebendiese, in der du wohnest. – Des erschraken sie nicht wenig, vermeinend, man käme übel an; lagen auch die ganze Nacht, wo es in einem fort regnete, vor den Mauern ruhig, denn sie getrauten sich nicht. Nun es aber gegen Morgen dämmerte, kam sie beinahe noch ein ärger Grauen an; es kräheten keine Hähne, kein Wagen ließ sich hören, kein Bäcker schlug den Laden auf, es stieg kein Rauch aus dem Schornstein. Es brauchte dazumal jemand das Gleichnis, der Himmel habe über der Stadt gelegen, wie eine graue Augbraun über einem erstarrten und toten Auge. Endlich traten sie alle durch die Wölbung der offenen Tore; man vernahm keinen Sterbenslaut als den des eigenen Fußtritts und den Regen, der von den Dächern niederstrollte, obgleich nunmehr die Sonne schon hell und goldig in den Straßen lag. Nichts regte sich auch im Innern der Häuser.
KNABE. Nicht einmal Mäuse?
SUNTRARD. Nun, Mäuse wohl vielleicht, mein Kind. Er küßt den Knaben.
LÖWENER. Ja, aber Nachbar, ich bin zwar, wie du, geboren hier und groß geworden, allein es wird einem doch alleweil noch sonderlich zumut, wenn man so des Nachts noch durch eine von den leeren Gassen geht und es tut, als klopfte man an hohle Fässer an.
KNABE. Aber warum doch wohnen wir neuen Leute fast alle wie ein Häuflein so am Ende der Stadt und nicht oben in den weitläuftigen schönen Gebäuden?
SUNTRARD. Weiß selber nicht so recht; ist so herkommen von unsern Eltern. Auch wäre dort nicht so vertraut zusammennisten.
LÖWENER. Wo wir wohnen, das heißt die untere Stadt, hier waren vor alters wahrscheinlich die Buden der Krämer und Handwerker. Die ganze Stadt aber beträgt wohl sechs Stunden im Ring.
SUNTRARD. Wenn der Mond vollends oben ist, laßt uns noch eine Strecke aufwärts gehen, bis wo die Sonnenkeile
1 ist. Nachbar, als ein kleiner Junge, wenn wir Buben noch abends spät durch die unheimlichen Plätze streiften bis zur Sonnenkeile, so trieb und plagte mich's immer, den Stein mit dem Finger zu berühren, weil ein Glauben in mir war, daß er den warmen Strahl der Sonne angeschluckt, wie ein Schwamm, und Funken fahren lasse, welches im Mondschein so wunderlich aussehen müsse.
LÖWENER. Hört, was weiß man denn auch neuerdings von dem Königsgespenst, das an der Nordküste umgeht?
SUNTRARD. Kein Gespenst! wie ich dir schon oft versicherte. Es ist der tausendjährige König, welcher dieser Insel einst Gesetze gab. Der Tod ging ihn vorbei; man sagt, die Götter wollten ihn in dieser langen Probezeit und Einsamkeit geschickt machen, daß er nachher ihrer einer würde, wegen seiner sonstigen großen Tugend und Tapferkeit. Ich weiß das nicht; doch er ist Fleisch und Bein, wie wir.
LÖWENER. Glaub das nicht, Fischer.
SUNTRARD. Ich hab es sicher und gewiß, daß ihn der Kollmer, der Richter ist in Elnedorf, jeweilig insgeheim besucht; sonst sieht ihn kein sterblicher Mensch.
KNABE. Gelt, Vater, er trägt einen Mantel und trägt ein eisern spitzig Krönlein in den Haaren?
SUNTRARD. Ganz recht, und seine Locken sind noch braun, sie welken nicht.
LÖWENER. Laßt's gut sein! ist schon spät. Das Licht dort in der äußersten Ecke vom Schloß ist auch schon aus. Dort wohnt Herr Harry, der bleibt am längsten auf. Will noch eine Weile in die Schenke. Gut Nacht!
SUNTRARD. Schlaf wohl, Freund Löwener. Komm Knabe, gehen zur Mutter.
Hier findet man die Fortsetzung. Freilich nicht sofort, man muss ein bisschen suchen und wird dabei auch etwas von der Romanhandlung mitbekommen. Vielleicht regt es an, nicht nur das Stück, sondern auch den Roman ein wenig genauer anzusehen.