"Johanna mied es noch immer, mit Poncet allein zusammen zu sein.
Aber das Kindstum von früher war in ihr jetzt doch heimlich ganz eingeschlafen. Wenn sie mit dem Hirten unter den Schafen plaudernd stand, sah sie viele Male neugierig nach der Richtung aus, woher Poncet kommen konnte. Poncets überlegene, verachtende Männlichkeit lockte sie sehr. Poncet, der auch Ruhm hatte. Mehr wie Einhart. Der jetzt einer der Ersten zu gelten begonnen. Wo Einhart noch immer den Massen nichts bedeutete, die über seine Bilder nach wie vor Glossen machten. Auch die meisten Kritiker noch, die an das Durchschnittliche gewöhnt, nie die leidenschaftliche Inbrunst der Seele nach dem eigensten, erlesenen Glücke erfahren haben. So geschah es, daß bald in dem Zusammensein der beiden mit Poncet allerlei Verstecken aufkam.
Poncet stand schließlich mit Johanna schon manchmal am Morgen im Lichte auf der Kleestoppel unter den Schafen, aber nur neckisch und kindlich scherzend noch immer.
[86] Dann war doch einmal ein Abend gekommen, der ganz anders war.
Schon der Tag war schwül gewesen. Gegen Abend war in dräuendem Zuge vom Lande her ein Gewitter, Sturmvögel kreischend voran, mit grellen Blitzen und wildem Erdröhnen ins Meer hinausgezogen. Dann lag der Himmel, als die Nacht begann, wieder wundersam reingefegt und glänzte aus Mitternacht her blutrot nach.
Es war gegen acht.
Einhart hatte gleich versucht, von den auserlesenen Farbenspielen der sich enthüllenden Nachtwelt und ihren langsam erglühenden, perlmutternen, finsteren Tinten einiges auf Studienblätter einzufangen. Er war deshalb auf der Höhe, nahe dem bekannten Felsen, sitzen geblieben.
Johanna, die mit Einhart allein am Meeresstrande gewandert war, lockte es heimlich zum Meere zurück. Deshalb war sie von dem Felsen lautlos die Schlucht im Sande, ein wenig tastend, hinabgeglitten und stapfte staunend und geblendet in der unerhörten, aus sich leuchtenden Düsterpracht von Himmel und Meer und Dünenstrand.
Der Dünenhügel, über den sie schritt, ragte körperlich [87] groß und schaurig vereinsamt im fahlen Nachtdämmer.
Das Meer in der Ferne wogte blutrot in grellem Himmelswiederschein.
Der Himmel darüber dunkel gewölbt, ganz doch ätherklar.
Johanna hatte lange ohne Hut und mit nackten Füßen, weil sie bei Einhart Hut und Schuhe und Strümpfe hatte liegen lassen, einsam auf dem Hügel gestanden und trat nur zögernd Schritt um Schritt, in einem unbestimmten, hungernden Verlangen, den Schaumspielen am Strande näher und näher.
Aber wie sie so einsam erstarrt aufragte dicht am Wasser aus dem Meersand, das brennende Auge weit hinausgebannt, schienen die stürzenden, spielenden, schäumenden Purpurfluten immer düsterer und düsterer heranzudrängen.
Das lebendige, treibende Meer däuchte sich immer gewaltiger aufzutürmen.
Unermessene Körpermacht gewinnend, wuchs es düster empor, wie ein grausig sich nahendes Ungetüm.
Zwischen den glühen Purpurflecken gebaren sich,[88] ewig neu dem Blicke, höllische, blaue Dunkelheiten, wie schaurige Gründe, die sie bedrohten.
Draußen in der fernen Dämmerwelt wälzten sich tausend Gewalten in wildem Begehren. Und tausend Gewalten schienen aus Düsternis herzudrängen vom fernsten Meersaum in rasender Eile.
Aufrauschend sich hebend und in Schäumen zerberstend, spielten die Wogen wie bleiche Geister um einen Felsblock, der näher aus den Fluten sich hob.
Und in Johanna brachen ganz langsam die Halte zusammen. Als wenn sich in ihrem Herzen Stützen zerlösten und in dem finsteren Reichtum der drohend lebendigen Meernacht versänken.
Die Wogen zu ihren Füßen schlürften und schlüpften schon um sie, wie wenn tastende Wesen nach ihr griffen.
Die Wogen jagten und schäumten heran. Aber sie rannen unversehens noch einmal zurück, die Angst entlastend und wieder noch eine Minute Zeit gewährend.
In Johanna zuckte die Bedrohung in jeder Fiber. Das Spiel war um sie höllischer und höllischer geworden. Es hatte sie ein Frostschauer plötzlich durchrieselt. In dieser menschenfernen, erstorbenen, [89] purpurglühenden Einsamkeit stand sie allein. In dieser menschenfernen, erstorbenen, purpurblendenden Einsamkeit däuchten jetzt unzählige Blutzungen plötzlich sinnbetörend nach ihrem Kleidsaume zu lecken.
Mit grausiger Gewalt fing es an züngelnd und lechzend nahe zu wachsen. Die Blutzungen rings um sie leckten und schlürften und schlüpften schon nach ihren nackten Füßen, furchtbar begehrlich. Als wenn ein gewaltiger, unerbittlicher Riese nach ihr sich mit unentrinnbarer Sehnsucht zu sehnen begonnen.
Da hatte Johanna sich endlich nach Hilfe umgesehen. Da hatte sie sich noch einmal mit aller Gewalt gehalten, weil der Himmel darüber mit seiner sanften Rosenröte noch einmal flüchtig Trost gegeben. Da ging auch schon ein heiserer Schrei aus ihr aus in die nächtliche Meerwelt, wie Möven schrill und flüchtig rufen. Da hatte sie auch schon jemand von rückwärts schützend angerührt. Da hielt sie längst jemand sicher in seinen Armen. Da preßte jemand sie an sich, und preßte seinen heißen Mund auf ihre bebenden, zuckenden Lippen.
Johanna log sich vor, daß es Einhart wäre. Sie gab sich ganz hin. Leidenschaftlich. Sie wußte [90] es längst, daß sie es nun voll genoß. Sie wehrte sich nicht. Der Schrecken hatte ihre Seele ohnmächtig gemacht und innig brünstig nach einer Kraft, die sie hielte. Und die Kraft war gekommen. Die Kraft hielt sie jetzt ehern gebannt, daß Minute um Minute lautlos zerrann.
Einhart saß noch immer auf dem Felsen, um die farbige Düsterwelt einzusaugen. Er kam erst spät zum Strande, als alle Farben verblichen waren. Das Meer lag jetzt graudunkel unter einem bleichblauen Nachtschein.
Da kamen ihm Poncet und Johanna laut sprechend entgegen.
»Oh, das hättest du sehen sollen,« rief sie neckend, schon von ferne. »Einen furchtbaren Schrecken habe ich ausgestanden,« sagte sie richtig im Übermut. »Und wenn Poncet nicht kam,« erzählte sie dann in allem Ernste, »hätte ich eine Ohnmacht bekommen, wie in dieser Nacht das Meer furchtbar aussah!«
Poncet erzählte sehr gewichtig, daß das Gefühl Johannas, in solchem nächtigen Glutdunkel dem Wogenspiel und dem Himmel mutterseelenallein gegenüber zu stehen, die Seele völlig erschüttern kann, und daß es sich dabei wohl um das gehandelt [91] haben möchte, was die Alten einen »panischen Schrecken« nannten.
»Pan lechzte und züngelte mit tausend Blutzungen nach mir, als wenn die ganze Nachtwelt ein gräuliches Gespenst wäre,« sagte Johanna ganz eingesponnen neu in den Schreck.
»Ich habe genau den Eindruck auch aufgefaßt,« sagte Einhart zufrieden lächelnd, »und werde das einmal malen.«
»Denkt ihr denn, ich wäre umsonst so lange dort oben sitzen geblieben und hätte wie ein Felsen so starr in die seltsamen Verwandlungen hineingeblickt, wenn es mir nicht darum zu tun gewesen?« sagte er noch arglos."
C. Hauptmann: Einhart, der Lächler, Viertes Buch,11, S.85-91
Mir erscheint die Szene dem Jugendstil zuzuordnen, obwohl man im Zusammenhang mit Literatur kaum von Jugendstil spricht. Das Stilisierte überwiegt m.E. die psychologisch genaue Gestaltung. (Die Literaturgeschichte rechnet übrigens Einhart, der Lächler der Neuromantik zu.)
Die Szene könnte mit dem Zerwürfnis Carls mit seiner Frau Martha, geb. Thienemann, zusammenzuhängen, die Carl 1884 geheiratet hatte, ein Jahr bevor sein Bruder Gerhart deren Schwester Marie heiratete. Gerhart wurde nach mehreren Jahren der Trennung 1904 von Marie geschieden, zur Scheidung von Carl und Martha kam es 1908.
Bemerkenswert ist in dem Kontext freilich, dass Hauptmann seiner Figur des Poncet einige Züge von sich selbst verliehen hat und insofern sein Ebenbild in schlechtes Licht rückt.
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