19 März 2012

Jean Paul: Titan - zur Beurteilung

Nach der über Hunderte von Seiten sich erstreckenden Schilderung einer nur von phantastischen und karikaturhaften Figuren bevölkerten Welt - nur Albano ritzt sich, um aus seiner Überdrehtheit zu normaleren Empfindungen zu finden, der Erzähler des Titan aber nicht - beginnt Jean Paul im dritten Band in der 16. Jobelperiode im zweiten Teil der 74. Zykel mit einer vergleichsweise realistischen Schilderung davon, wie zwei Eltern, die sich hassen, sich darin vereinigen, ihre Tochter unglücklich zu machen.
Im Friedensschlusse des gewöhnlichen Zimmerkriegs wurden zwischen den Eheleuten diese geheimen Artikel ausgemacht: der Graf muß des Vaters und des Direktors wegen mit höflichster Achtung behandelt und beiseite geschoben werden – und Liane sanft und langsam von Wehrfritzens Hause abgelöset – die ganze Scheidung des Verlöbnisses muß ohne elterliche Einmischung bloß durch die abspringende Tochter selber zu geschehen scheinen – und alles ein Geheimnis bleiben. (74. Zykel, S.406)
Von hier aus verläuft die Liebeshandlung zwischen Albano und Liane so, wie wir sie aus diversen Liebestragödien kennen: Um die Pläne des Mannes - an den man sich nicht traut - zu durchkreuzen, zwingt man die Tochter dazu, ihre Liebe zu opfern.
Hinsichtlich der Handlung treibt Jean Paul es freilich nicht ganz so weit wie Schiller in Kabale und Liebe: Liane geht freiwillig in den Tod und wird nicht vom Geliebten ermordet.

Wolfgang Harich über den Titan
Der "Titan" ist im zweiten bis vierten Teil der Höhepunkt dessen, was von Rousseau in der "Nouvelle Heloise" begonnen, vom jungen Goethe im "Werther" fortgeführt worden war. Und er kann dies deswegen in der streng objektiven, an Homer geschulten Form eines gewaltigen Epos, das obendrein dramatische Zuspitzungen à la Sophokles, Shakespeare und Schiller in sich aufgenommen hat, sein - und nicht bloß als der bloß extensivere lyrisch-subjektive Gefühlserguß einer anderen hohen Dichterseele -, weil er, im Gegensatz zum "Werther", unter resolutem Verzicht auf Amtmann, Amtmännin usw., fast nur in höchsten Adelskreisen spielt.
Wolfgang Harich: Jean Pauls Revolutionsdichtung. Versuch einer neuen Deutung seiner heroischen Romane. Berlin: Akademie-Verlag, 1974, zitiert nach FAZ, 17.5.1974, S.25

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