11 März 2012

Johanna

"Die lebendige Blutwelle der Schlafenden raste in Johannas Herzen so arg, daß sie sich umwälzte und neu zu stöhnen angefangen. Daß Einhart [106] wieder mit seiner ganzen Teilnahme an Menschen und Dingen zu ihr herantrat und sie ansah.
Aber Johanna erwachte nicht. Der Bann hielt sie wie mit Krallen. Sie war verödet. Es waren die Blumen und Träume von ihr genommen. So lebte sie es jetzt. Die schönen Kleider, in denen sie Einhart vor sich hingestellt, die Götterzeichen seiner Liebe und seiner Visionen, die waren längst abgefallen, weil sie verurteilt war. Es war noch immer niemand um sie. Es war noch auf demselben öden Dünenhügel. Sie war weit fort verschlagen. Sie war es gar nicht. Es war kein Leben. Nur lebloses Erstarrtsein. Nur bleiches Land. Nur vertrackte Gebilde von weißen Kieseln im bleichen, glühen Sonnenbrande. Brütende Launenspiele von einem ewigen Gestorbensein. Wie nur Knochen und bleiches Totengebein lag sie unter aller hand grinsenden Schädeln mitten auf dem Hügel. Das sengende Licht erstarrt. Die jagende Woge erstarrt. Der Schrei hing erstarrt in den Lüften, bleichend und ganz ohne Hoffnung.
»Ach! – – ach! – – ach!«
Johanna hatte die Augen jetzt wirklich aufgetan und sah in Einharts Blick und hing sich auch gleich[107] mit ihren nackten Armen an ihn. Denn Einhart hatte nicht mehr von der Stelle gekonnt, in seinem Verlangen, die Schlafende zu ergründen.
»Ach, mein Geliebter!« flüsterte Johannas erschrockene Stimme, traumbenommen und sanft flehend, und sie hing sich an ihn, verworrenen Haares, aus der Bleiche ihres geängstigten Lebens so inbrünstig aufweinend, als wenn Einhart jetzt gekommen wäre, ihr die Zauber, die er um ihr kleines, lustiges Leben gewoben, wirklich herunterzureißen.
In Einhart war ein Kampf. Eine widerwillige Blutwelle ging in ihm, die seinen Blick zu ihr starr und weh machte.
»Sinne nicht!« schluchzte Johanna hastig. Und sie hatte sogleich seinen Kopf an sich und an ihre weiche Brust gepreßt, indem sie Einhart mit aller Gewalt festhielt.
»Sinne nicht!« flüsterte sie leidenschaftlich. »Es kann besser werden! Laß uns bald fortgehen!« redete sie in Überstürzung von allerhand Bekenntnissen. »Auch du hast es mit verschuldet, selber,« sagte sie weinend. »Du hast mir zuerst den Satan gezeigt, und meine Neugier geweckt. Und hast mich nie [108] zurückgehalten!« »Mir graust vor den harten Lüsten!« weinte sie kläglich. »Geliebter, ruf mich noch einmal zurück! hilf mir, hilf mir!« bat sie und rang sie. »Ich will wieder werden, was ich durch dich geworden war. [...]
Dann kam es auch, daß Johanna am Ende dieser Zeit zu kränkeln begann. Sie war ohnehin immer sehr zart. Und die allzu kräftige Luft am Nordmeere hatte ihr zuerst schon den Schlaf geraubt. Einhart war sehr böse immer, daß sie nicht gleich alles tat, um zu Schlaf zu kommen. Aber sie war darin unverständig wie alle Frauen. Und sie hatte also die kleinen Mittel, die er manchmal anwandte, um zu große Regsamkeit einzuschläfern, immer noch bittend ausgeschlagen. Bis auch große Appetitlosigkeit und eine nicht ganz natürliche Sanftheit kam. [...]
Einhart sagte oft zu Poncet heimlich: »Ist Johann nicht schon wie eine Vergessende? Rein und grenzenlos? Ihr Lachen klingt mir manchmal, als wenn es von jenseits des Meeres noch zu mir dränge. Ich könnte weinen und lachen zugleich, wenn ich es höre. Ich könnte beständig sitzen und harren auf diesen überwindenden Laut.«
So war es. Johanna zog schon hinaus. Sie zog schon mit hohen Masten auf dem weiten Meere und konnte ferne sehen und tief hinein ins eherne [122] Klare. Sie war nicht zurückzuhalten. [...]
»Ach, Johanna!« sagte Einhart.
»Weißt du. Betrügen ist ein dummes Wort,« sagte Johanna heiter. »Nein, nein, das kann ich dir mit aller Bestimmtheit sagen, daß ich Poncet [126] beständig ersehnt und begehrt hatte. Meine Seele hatte ihn an dem Abend ohne Namen tausendmal gerufen. Er hatte gar keine Schuld. Nicht die geringste. Ich hatte ihn gerufen. Wie ich diese wundersamen Düsternisse anstaunte, die mich blendeten und gräßlich schreckten, hatte ich nach Einem gerufen, der wie ein Räuber furchtlos sein, mich stark anfassen und mich sicher forttragen würde durch die tausend züngelnden Höllenfeuer. Mich! Mich! Mich!«
Johanna schwieg lange, ehe sie leise lachte.
»Ha, ha, ha, ha, damals war ich noch gesund,« sagte sie vor sich hin.
»Poncet mußte mich gehört haben. Mußte es gehört haben, daß ich beständig so gerufen hatte. Er stand zu rechter Zeit hinter mir und preßte seine heiße Glut auf meinen verbleichenden Mund und hüllte seine Seele wie einen Mantel um meine Seele.«
»Ja, Einhart!« sagte Johanna leise. [...]
Da, wie Einhart so in die bleiche, ersterbende, aufstarrende Johanna hineinsah, erhob sie sich immer höher und mit dem weit aufgetanen Auge, wie wenn eine Nachtwandlerin aufstünde, allein dem [129] Monde noch zugewandt und ganz dahin gerichtet, woher ihre Seele jetzt noch Licht gesehen. – Und jetzt tastete sie mit zitternder Inbrunst nach Poncet, seinen Namen mit letzter Seele flüsternd, suchte und suchte sich an ihn zu drängen, seine Lippen heiß und verzehrt zu erreichen und mit dem letzten Atem der Sterbenden sanft anzurühren. –"
C. Hauptmann: Einhart der Lächler, Viertes Buch, 13-16, S.105-08, 114, 121/2, 125/6, 128/9

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