30 April 2012

Karl Mays Autobiographie

Als Karl Mays Vorgeschichte als Kleinkrimineller aufgedeckt wurde, versuchte man damit den Schriftsteller zu diskreditieren, indem man ihm nachzuweisen versuchte, er habe seine Reiseerzählungen nur geschrieben, um sich eine interessantere Existenz anzudichten. Er sei also der Hochstapler geblieben, der er in seiner Kleinkriminellenphase einmal gewesen war.
Er wehrte sich in über hundert Prozessen und in seiner Autobiographie "Mein Leben und Streben".

29 April 2012

Blütenlese aus Jean Pauls Titan V


Da er erwachte, stand die Mitternacht des italienischen Tags um ihn, die Siesta –
Still ging ich lange über die Erde – ich sah die Höfe, die Nationen und Länder und fand, daß die meisten Menschen nur Leute sind. Was ging es mich an?
Ich sah die Männer und fand immer bloß den Unterschied unter ihnen, daß die einen fein, verständig und zart waren ohne Enthusiasmus und Gemüt, die andern sehr herzlich und enthusiastisch mit bornierter Roheit, alle aber selbstsüchtig; wiewohl sie, wenn ihr Herz voll und nicht im Abnehmen ist, eben wie der volle Mond die wenigsten Flecken zeigen.
Reisen ist Beschäftigung, was uns Weibern immer fehlet. Die Männer haben immer zu tun und schicken die Seele auswärts, die Weiber müssen den ganzen Tag daheim bei ihrem Herzen bleiben

21 April 2012

Neues zu Angriffskrieg, freier Meinungsäußerung und Grass


Paul Oestreicher in Publik-Forum 2012 Nr. 8, S.30-31
"Israel droht nun Iran anzugreifen [...]  Die Konsequenzen eines solchen Angriffes wären unermesslich. All das - so sagt "Political Correctness" - darf vor allem angesichts der deutschen Schuld von keinem Deutschen und angesichts der christlichen Schuld von keinem Christen ausgesprochen werden. Wer es doch ausspricht, wird gleich zum Antisemiten gebrandmarkt. [...] Ich sage es nun im Einklang mit Günter Grass, der spät, aber nicht zu spät [...] den Mut fand, das zu sagen, was gesagt werden muss."
 ( stark gekürzt, aber wenn ich alles Zitierenswerte zitierte, erhielte ich zu recht eine Abmahnung. )

Alfred Grosser sagte in einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung vom 10.4.2012:

Alfred Grosser: Ich bin auf Seiten von Grass und das Pro ist in dieser Diskussion doch sehr schweigsam gewesen. Außer in der Zeitung Haaretz, die sich auch fragt: Ist unsere Regierung verrückt geworden?
SZ: Warum stehen Sie auf Seiten von Grass?
Grosser: Weil er etwas Vernünftiges gesagt hat in seinem sogenannten Gedicht. Es ist natürlich kein Gedicht, aber was darin steht ist doch viel wichtiger als die Form: Die israelische Regierung provoziert. Doch was passiert, wenn sie Iran wirklich angreift und was ist, wenn Iran dann Raketen hat, mit denen es Tel Aviv angreifen kann? Dann ist der Krieg los.
SZ: Sachliche Kritik an israelischer Politik ist doch aber kein Tabu, auch nicht in Deutschland.
Grosser: Es heißt aber immer sofort, das sei Antisemitismus. Ich kann die Aufregung ja verstehen, aber nicht jede Kritik. [...] 

Peter Zehfuß in BA, 21.4.12
"[...] kann man Grass nicht das Recht absprechen, sich im politischen Diskurs [...] zu äußern, zumal er völlig Recht hat, als nach Paragraph [gemeint: Artikel] 26 unseres Grundgesetzes selbst die Mitwirkung bei der Vorbereitung [...] eines Angriffskrieges verfassungswidrig und strafbar ist."

Helmut Schmidt kritisiert Waffenexporte in Krisengebiete.

Alfred Grosser äußerte schon früher:
"Die Methode hat sich bewährt. Einerseits breitet man den Schleier des Antisemitismus über das Gesagte aus, um die dargestellten Fakten nicht widerlegen zu müssen. Wenn man dann noch Beschimpfungen hinzufügt und so verdreht, dass es skandalös erscheint  [...]" (verkürzt zitiert nach U.Wickert: "Buch der Tugenden", 2010)

19 April 2012

Gespräch über Französische Revolution, Schwarmintelligenz und Genie

An dem Abende dieses Briefes ging er mit seinem Vater in eine Conversazione im Palazzo Colonna – hier fanden sie die schwarzmarmorne Galerie voll Antiken und Gemälde aus einem Kunst- und Gesellschaftszimmer in einen Fechtboden verkehrt, alle Arme und Zungen der Römer waren in Bewegung und Kampf über die neuesten Entwicklungen der gallischen Revolution, und die meisten für sie. Es war damals, wo fast ganz Europa einige Tage lang vergaß, was es aus der politischen und poetischen Geschichte Frankreichs jahrhundertelang gelernt hatte, daß dasselbe leichter eine vergrößerte als eine große Nation werden könnte. Der Ritter allein gab sich lieber den Kunstwerken als [587] dem leeren Gefechte seiner Nachbarschaft hin; endlich aber hört' er von weitem, wie Albano, gleich allen damaligen Jünglingen, der Himmels-Königin, derFreiheit, jauchzend nachzog, unter den ewigen Freien und ewigen Sklaven mitgehend nach der damaligen Gleichheit; da trat er näher und merkte nach seiner Weise an: »die Revolution sei etwas sehr Großes; er finde indes an großen Werken, z.B. an einem Coliseo, Obeliskus, an dem Flor einer Wissenschaft, an dem Kriege, an der Höhe der Astronomie, der Physik weniger als andere zu bewundern, denn bloß die Menge in der Zeit oder im Raume schaff' es, eine beträchtliche Vielheit kleiner Kräfte. Aber nur große achte man178. In der Revolution seh' er mehr jene als diese – Freiheit werde an einem Tage so wenig gewonnen als verloren; wie schwache Individuen im Rausche gerade ihr Gegenteil wären, so geb' es auch wohl einen Rausch der Menge durch die Menge.«
Bouverot versetzte darauf: »Das ist ganz meine Meinung auch.« Albano antwortete recht sichtbar nur seinem Vater – weil er den deutschen Herrn tief verachtete und ihn ganz unwürdig des Genusses hoher Kunstwerke hielt, wofür er vornehmen Geschmack mitgebracht, obwohl keinen Sinn – und sagte: »Lieber Vater, die 12000 Juden entwarfen nicht das Coliseo, das sie baueten, aber die Idee war doch irgendeinmal ganz in einem Menschen, im Vespasian; und so muß überall den konzentrischen Richtungen kleiner Kräfte irgendeine große vorstehen, und wär' es Gottsel ber.« – »Dahin« (sagte Gaspard) »wo alles Göttliche verlegt wird, magst du es denn auch versetzen.« – Bouverot lächelte. – »Der gallische Rausch« (versetzte Albano heftig) »ist doch wahrlich kein zufälliger, sondern ein Enthusiasmus, in der Menschheit und Zeit zugleich gegründet; woher denn sonst der allgemeine Anteil?
[588] – Sie können vielleicht sinken, aber um höher zu fliegen. Durch ein rotes Meer des Bluts und Kriegs watet die Menschheit dem gelobten Lande entgegen, und ihre Wüste ist lang; mit zerschnittenen, nur blutig-klebenden Händen klimmt sie wie die Gemsenjäger empor.« 
(Jean Paul: Titan, 105. Zykel)

17 April 2012

Rom und das Forum Romanum

Aber Gaspard berührte den sonnentrunknen Sohn und sagte zeigend: »Ecco Roma!« – Albano blickte hin und sah in tiefer Ferne die Kuppel der Peterskirche im Sonnenglanz. Die Sonne ging unter, die Erde bebte noch einmal, aber in seinem Geiste war nichts als Rom. [...]

Welch' eine öde, weite Ebene, hoch von Ruinen, Gärten, Tempeln umgeben, mit gestürzten Säulen-Häuptern und mit aufrechten einsamen Säulen und mit Bäumen und einer stummen Wüste bedeckt! Der aufgewühlte Schutt aus dem ausgegossenen Aschenkrug der Zeit – und die Scherben einer großen Welt umhergeworfen! Er ging vor drei Tempel-Säulen[Fußnote: des Jupiter tonans.], die die Erde bis an die Brust hinuntergezogen hatte, vorbei und durch den breiten Triumph-Bogen des Septimius Severus hindurch; rechts standen verbundne Säulen ohne ihren Tempel, links an einer Christen-Kirche die tief in den Bodensatz der Zeit getauchte Säulenreihe eines alten Heidentempels, am Ende der Siegesbogen des Titus und vor ihm in der öden waldigen Mitte ein Springwasser, in ein Granitbecken sich gießend. Er ging dieser Quelle zu, um die Ebene zu überschauen, aus welcher sonst die Donnermonate der Erde aufzogen; aber wie über eine ausgebrannte Sonne ging er darüber, welche finstere tote Erden umhängen. O der Mensch, der Mensch-Traum! riefs unaufhörlich um ihn. Er stand an der Granitschale, gegen das Coliseo gekehrt, dessen Gebürgsrücken hoch in Mondlicht stand, mit den tiefen Klüften, die ihm die Sense der Zeit eingehauen – scharf standen die zerrissenen Bogen von Neros goldnem Hause wie mörderische Hauer darneben. – Der palatinische Berg grünte voll Gärten, und auf zerbrochnen Tempel-Dächern nagte der blühende Totenkranz aus Efeu, und noch glühten lebendige Ranunkeln um eingesenkte Kapitäler. – Die Quelle murmelte geschwätzig und ewig, und die Sterne schaueten fest herunter mit unvergänglichen Strahlen auf die stille Walstatt, worüber der Winter der Zeit gegangen, ohne einen Frühling nachzuführen – die feurige Weltseele war aufgeflogen, und der kalte zerstückte Riese lag umher, auseinandergerissen waren die Riesen-Speichen des Schwungrads, das einmal der Strom der Zeiten selber trieb. – Und noch dazu goß der Mond sein Licht wie ätzendes Silberwasser auf die nackten Säulen und wollte das Coliseo und die Tempel und alles auflösen in ihre eignen Schatten!
(Jean Paul: Titan, 4. Band, 26. Jobelperiode, 102. Zykel)

15 April 2012

Albanos Vater nimmt ihn mit nach Italien

100. Zykel
Du kannst doch eine Nacht wachen und fahren?« – mit dieser Frage führte ihn der Vater eilig an den reisefertigen Wagen, um ihn noch mitten im warmen Traume mit den eingewiegten Erinnerungen zu entführen und um besonders der bleichen Braut vorzufahren, die in dieser Nacht auf demselben Weg in die letzte Erbschaft des Menschen ziehen sollte. »Im Wagen sollst du alles hören«, versetzte Gaspard [...]
Neu und ernst breitete sich vor dem Genesenen die dämmernde Schöpfung aus. Der Saturn ging eben auf, und der Gott der Zeit reihte sich als ein sanfter blitzender Juwel in den schimmernden Zaubergürtel des Himmels. Mit zugebundnen Augen wurde der unwissende Jüngling von der Senne seiner Jugend herabgeführt und aus dem Hirtentale seiner ersten Liebe hinweg und den großen, ewigen Sternbildern der Kunst entgegen und in das göttliche Land, wo der dunkle Äther des Himmels golden und die hohen Ruinen der Erde anmutig und die Nächte Tage sind. Kein Auge schauete auf die Blumenbühler Höhe hinüber, von der eben jetzt ein schwarzes Wagengefolge langsam mit aufrecht-brennenden Trauerfackeln wie ein ziehendes Schattenreich herunterging, um das stille gute Herz, worin Albano und Gott gelebt, mit seinen toten Wunden an den sanften Ort der Ruhe zu führen. Flammend rollte der Fackel-Wagen die Bergstraße nach Italien hinan. (Jean Paul: Titan, 100. Zykel)

Albano wird eine Erscheinung Lianes vorgetäuscht

Drinnen kniete mit gen Himmel gehobnen Armen und Augen ein schöner, in der magischen Dunkelheit blühender Göttersohn im eisernen Zauberkreise des finstern Wahnsinns und rief nur noch: »O Frieden, Frieden!« – Da trat die Jungfrau begeistert wie von Gott gesandt hinein; weißgekleidet wie die Verstorbne im Traumtempel und auf der Bahre, mit dem langen Schleier an der Seite, aber höher gestaltet, weniger rosenfarb und mit einem schärfern, hellern Sternenlicht im blauen Äther des Auges und ähnlicher der Liane unter den Seligen und erhaben, als komme sie als ein verengter Frühling von den Sternen wieder, so trat sie vor ihn – sein greifender Flammenblick erschreckte sie – leise und wankend stammelte sie: »Albano, habe Frieden!« – »Liane?« stöhnte seine ganze Brust, und seine weinenden Augen bedeckte er darniedersinkend. »Frieden!« rief sie stärker und mutiger, weil sie nicht mehr sein Auge traf und irrte; und sie entwich, wie ein überirdischer Geist die Menschen wieder verlässet.
(Jean Paul: Titan,  98. Zykel)
Prinzessin Idoine  war nach anfänglichem Widerstreben dazu überredet worden, für Albano Liane zu spielen, um seine Gesundheit zu retten.

09 April 2012

Eugen Ruge: In Zeiten des abnehmenden Lichts

Wir erfahren mehr über das Rezept von Irinas Burgundergans und darüber, wie man sich  in Zeiten der DDR mühen musste, die dafür notwendigen Zutaten zu besorgen, als über die Lebensleistung der männlichen Helden Wilhelm, Kurt (für ihn lieferte Eugen Ruges Vater Wolfgang Ruge das Vorbild) und Alexander Umnitzer.
Und das, obwohl wir die Geburtstagsfeier des 90-jährigen Wilhelm, bei der über seine Leistungen berichtet wird, sogar fünfmal erleben. Zu dröge und verlogen ist der Bericht, zu unterschiedlich die Interessen der Zuhörer, als dass die fünf verschiedenen Personen, aus deren Sicht über die Feier berichtet wird, so recht etwas mit dem Bericht anfangen könnten, das der Leser für seine Information nutzen könnte.

Damit ist auch das Bauprinzip des Romans angedeutet. Fünf Berichte aus dem Jahr 2001, je einer von 1952, 1959, 1961, 1966, 1973, 1976, 1979, 1991 und 1995 aus der Sicht von acht verschiedenen Personen werfen Licht auf vier Generationen einer Familie und verschiedene Phasen der DDR-Geschichte. Doch was mich am meisten interessiert hat, ist der Blick auf das Verhältnis der Ehepartner und der verschiedenen Generationen im Umgang miteinander und ihre Auseinandersetzung mit dem Älterwerden.
Eugen Ruge selbst wollte - laut Interview - seine Familiengeschichte erzählen und bei der Gelegenheit - sekundär - auch etwas DDR-Leben möglichst neutral dokumentieren.
Eugen Ruge: In Zeiten des abnehmenden Lichts
Wolfgang Ruge: Gelobtes Land. Meine Jahre in Stalins Sowjetunion

Eugen Ruge spricht über seinen Roman und liest drei kurze Passagen daraus vor.
Recht kritische Rezension. Die DDR werde darin zu negativ gesehen.

Marthe & Mathilde

Was wie eine Freundschaft zwischen zwei geradezu grotesk parallel lebenden Frauen daherkommt, entpuppt sich als die Geschichte des Leidens von Elsässern unter dem wiederholten Besitzerwechsel des Landes, insbesondere als Leiden des Karl Georg Goerke aus Memel, dem es gelingt, Colmar nicht verlassen zu müssen, und seiner halb-deutschen Tochter Mathilde, deren Empfindlichkeiten aus ihrem Schicksal erklärt werden.Doch da ist noch die Berliner Volksschullehrerin Georgette, halb Spartakistin, halb Reformpädagogin und Loki-Schmidt-Vorläuferin, früh verstorben und bewundert, die mit Warmherzigkeit und Entschiedenheit das Interesse des Lesers an sich reißt.
Pascale Hugues: Marthe & Mathilde

Leseprobe Buchanfang

Leseprobe: die Bütig, L'Alsace.fr 30.6.2010

Einzelstellen:
PTBS der Soldaten nach dem 1. Weltkrieg, S. 202f.
Gründung der Weltlichen Schule in Radickestraße 43 Berlin-Adlershof am 17.5.1920, S.153
vgl. auch Gründerzentrum Adlershof
Edwin Hoernles Einfluss auf Georgette, S.156

04 April 2012

Was muss wer sagen?

Günter Grass will nicht mehr schweigen. Einverstanden, er hat immer wieder Interessantes zu sagen, entweder formal oder inhaltlich Interessantes. Diesmal macht er sich mit "Was gesagt werden muss" zum Sprecher einer unbekannten Notwendigkeit. (Der Formulierung nach geht es also nicht darum, was er sagen will.)

Kommentare gibt es zu Hauf, z.B. bei Twitter und die hier vorgestellten. Oft zum Inhalt, nicht selten zur Person (Beispiel), selten zur Sprachform.

Ein Zitat aus Grass:
Warum sage ich jetzt erst,
gealtert und mit letzter Tinte:
Die Atommacht Israel gefährdet
den ohnehin brüchigen Weltfrieden?
Weil gesagt werden muß,
was schon morgen zu spät sein könnte;
auch weil wir - als Deutsche belastet genug -
Zulieferer eines Verbrechens werden könnten,
das voraussehbar ist, weshalb unsere Mitschuld
durch keine der üblichen Ausreden
zu tilgen wäre.

Deshalb sagt er es "jetzt erst" und nicht schon früher?


Günter Grass Interview zu seinem Israel Gedicht "Was gesagt werden muss" (ZDF, 05.04.2012) (24min 12sec), veröffentlicht 4.2.13

Günter Grass: Was gesagt werden muss (Im Gespräch mit Jürgen Elsässer) (38min 48sec),

"Jetzt aber, weil aus meinem Land, das von ureigenen Verbrechen, die ohne Vergleich sind, Mal um Mal eingeholt und zur Rede gestellt wird, wiederum und rein geschäftsmäßig, wenn auch mit flinker Lippe als Wiedergutmachung deklariert, ein weiteres U-Boot nach Israel geliefert werden soll, dessen Spezialität darin besteht, allesvernichtende Sprengköpfe dorthin lenken zu können, wo die Existenz einer einzigen Atombombe unbewiesen ist, doch als Befürchtung von Beweiskraft sein will, sage ich, was gesagt werden muß."


Als Widerpart zu Grass verlinke ich hier einen echten Broder aus der Welt, der sich an eine Interpretation des Gedichtes macht... Auch hier sind Sprachform und Inhalt bemerkenswert. Und es gibt einige Kommentare.

Ein Zitat aus Broder:
Ganztätig [vermutlich: ganztägig; F.] mit dem Verfassen brüchiger Verse beschäftigt, hat er keine der vielen Reden des iranischen Staatspräsidenten mitbekommen, in denen er von der Notwendigkeit spricht, das "Krebsgeschwür", das Palästina besetzt hält, aus der Region zu entfernen. Denn das ist nur "Maulheldentum", das man nicht ernst nehmen muss, so wie die Existenz einer einzigen Bombe "unbewiesen" ist, bis sie zum Einsatz kommt.

Grass bezeichnet also etwas als "Maulheldentum", was er nicht mitbekommen hat? Ist das von Henryk M. Broder ernst gemeint?

Ein Zitat aus Schirrmachers Reaktion:
Die Debatte aber müsste darum geführt werden, ob es gerechtfertigt ist, die ganze Welt zum Opfer Israels zu machen [...]
Will Schirrmacher das wirklich?


Martin Lindner nutzt die Gelegenheit, den "sekundären Antisemitismus" vorzustellen, der vorliege, wenn der Sprecher kein Antisemit sei:
Das Grass-Gedicht ist ein schönes Beispiel für das Sprachspiel des "Sekundären Antisemitismus", eines eigenartigen "Antisemitismus ohne Antisemiten und ohne Juden", der sich als Teil des deutschsprachigen Mediendiskurses seit ca. 1970 entwickelt hat. 

Beate Klarsfeld:
Spiegel online berichtet am 6.4.:"Jetzt hat Beate Klarsfeld verbal gegen Günter Grass ausgeholt - und zwar mit der schärfsten Waffe, die in der öffentlichen Debatte möglich ist: einem Hitler-Verweis. In einer Mitteilung zitierte Klarsfeld aus einer Drohrede, die Hitler 1939 gegen "das internationale Finanzjudentum" gehalten habe. Sie fuhr fort, wenn man den Ausdruck "das internationale Finanzjudentum" durch "Israel" ersetze, "dann werden wir von dem Blechtrommelspieler die gleiche antisemitische Musik hören"." (vgl. ZEIT fast gleichlautend)

Jan Fleischhauer:
Man darf gespannt sein, was als Nächstes kommt. Naheliegend wäre jetzt eine Ballade über das Leiden des palästinensischen Volkes. Oder eine Ode an Ahmadinedschad, den missverstandenen "Maulhelden" aus Teheran. Der Autor könnte sich auch der Frage widmen, wie Henryk Broder vorzeitig von der Sache Wind bekommen hat, das wäre dann ein Beitrag zum Kapitel jüdische Weltverschwörung. Das nächste Mal reimt sich das abgelieferte Gedicht vielleicht auch, dann kann man es besser als Lyrik erkennen.

Maritta Thalek, Kommentatorin der FR:
Es riecht übel, was da aus dem biografischen Faulschlamm am Grunde der Seele des einstigen Waffen-SS-Freiwilligen aufsteigt. Untypisch ist es nicht. In Deutschland mühen sich bis heute viele um Schuldentlastung bauen Stelenfelder, hegen Gedenkstätten zum Ablegen von Kränzen für tote Juden.

Aber eine nicht kleine Zahl von Deutschen verbindet die Schuldentlastung mit dem Versuch der Schuldübertragung auf die einstigen Opfer. Günter Grass bietet mit seinem Gedicht ein gutes Beispiel dafür.

Er öffnete kurz die moralische Güllegrube, die es unter der gepflegten deutschen Gedenkoberfläche noch immer gibt und vermutlich noch lange geben wird. In dieser Grube hat der alte Mann nun mit seinem Gerede seine Ehre nun tatsächlich versenkt.

Pedram Shahyar:
Israelkritik in Deutschland? Nein, leicht ist es nicht, und Günter Grass ist niemand, dem dies entgangen ist. Wir erinnern uns zu gut an Möllemann und seine Israelkritik im Wahlkampf. Er bediente die Figur der eigenen Schuld der Juden am Antisemitismus, um am rechten Rand zu sammeln und die FDP auf 18 % zu hieven.

Jakob Augstein:
Ein großes Gedicht ist das nicht. Und eine brillante politische Analyse ist es auch nicht. Aber die knappen Zeilen, die Günter Grass unter der Überschrift "Was gesagt werden muss" veröffentlicht hat, werden einmal zu seinen wirkmächtigsten Worten zählen. Sie bezeichnen eine Zäsur. Es ist dieser eine Satz, hinter den wir künftig nicht mehr zurückkommen: "Die Atommacht Israel gefährdet den ohnehin brüchigen Weltfrieden." Dieser Satz hat einen Aufschrei ausgelöst. Weil er richtig ist. Und weil ein Deutscher ihn sagt, ein Schriftsteller, ein Nobelpreisträger, weil Günter Grass ihn sagt. Darin liegt ein Einschnitt. Dafür muss man Grass danken. Er hat es auf sich genommen, diesen Satz für uns alle auszusprechen. Ein überfälliges Gespräch hat begonnen. [...] Hier geht es nämlich nicht um die Geschichte Deutschlands. Sondern um die Gegenwart der Welt.

Herta Müller, Literaturnobelpreisträgerin 2009 (laut Frankfurter Rundschau vom 7.4.12):
Er ist ja nicht ganz neutral. Wenn man mal in SS-Uniform gekämpft hat, ist man nicht mehr in der Lage, neutral zu urteilen.
 Rolf Hochhuth schrieb in einem offenen Brief an Grass (laut Spiegel online vom 6.5.12)

"Du bist geblieben, was Du freiwillig geworden bist: der SS-Mann, der das 60 Jahre verschwiegen hat, aber den Bundeskanzler Kohl anpöbelte, weil der Hand in Hand mit einem amerikanischen Präsidenten einen Soldatenfriedhof besuchte, auf dem auch 40 SS-Gefallene liegen"

Günter Grass differenziert jetzt ausdrücklich zwischen Israel und seiner derzeitigen Regierung.

Jüdische Stimme (5.4.12) Glaserei (10.4.12)


Marcel Reich-Ranicki (in der FAZ vom 8.4.12)
"Ein ekelhaftes Gedicht [...] grauenvoll [...]"


Der israelische Innenminister Eli Jischai:
"Jischai erklärte am Sonntag im israelischen Rundfunk, dass er es als Ehre ansehe, Grass die Einreise nach Israel zu verbieten. Der Schriftsteller sei zudem ein "antisemitischer Mensch" und "ein Mann, der eine SS-Uniform getragen" habe. Jischai erklärte überdies, dass man Grass nun eigentlich den Literaturnobelpreis aberkennen müsse." (MMNews, 8.4.2012)
(dazu Tom Segev)

Dick Pruiksma, vom Internationalen Rat der Christen und Juden (ICCJ):
 Warum beurteilen wir in der westlichen Welt Israel, wenn es um nukleares Potenzial geht, ganz anders als andere Länder? Die politischen Fragen, auch wenn es um Israel geht, müssen in Deutschland ganz offen diskutiert werden. Israel ist ein Staat wie alle anderen, den wir wie alle anderen beurteilen müssen. [...] Wir glauben, dass es bei dem Gedicht nicht um Antisemitismus geht. Es geht um eine politische Frage. Der ICCJ plädiert dafür, dass das gegenseitige Tabu aufgehoben wird, und dass nicht gleich der Vorwurf von Antisemitismus im Raum steht, wenn Israel von Deutschen kritisiert wird. (Bergsträßer Anzeiger 12.4.12)
Paul Oestreicher in Publik-Forum 2012 Nr. 8, S.30-31
"Israel droht nun Iran anzugreifen [...]  Die Konsequenzen eines solchen Angriffes wären unermesslich. All das - so sagt "Political Correctness" - darf vor allem angesichts der deutschen Schuld von keinem Deutschen und angesichts der christlichen Schuld von keinem Christen ausgesprochen werden. Wer es doch ausspricht, wird gleich zum Antisemiten gebrandmarkt. [...] Ich sage es nun im Einklang mit Günter Grass, der spät, aber nicht zu spät [...] den Mut fand, das zu sagen, was gesagt werden muss."
 ( stark gekürzt, aber wenn ich alles Zitierenswerte zitierte, erhielte ich zu recht eine Abmahnung. )

Peter Zehfuß in BA, 21.4.12
"[...] kann man Grass nicht das Recht absprechen, sich im politischen Diskurs [...] zu äußern, zumal er völlig Recht hat, als nach Paragraph [gemeint: Artikel] 26 unseres Grundgesetzes selbst die Mitwirkung bei der Vorbereitung [...] eines Angriffskrieges verfassungswidrig und strafbar ist."

 Ich weiß nicht, ob all das gesagt werden musste; aber offenbar haben viele das Bedürfnis, in diesem Kontext etwas zu sagen (oder an bereits Gesagtes zu erinnern). Wie man sieht, ich ebenso.
Und zwar, weil ich die Analyse Jakob Augsteins und die Position von Dick Pruiksma weitgehend teile.

Zur Frage, weshalb Grass ein Gedicht veröffentlicht hat und keinen Essay, könnte eine Rolle spielen, dass seine politischen Texte eher unbemerkt bleiben (Beispiel: Text zu Roma im Kosovo)

03 April 2012

Albano und der Kahle - eine Sterbende wird zitiert

Nachdem Schoppe, durch die gewitterhafte Luft von Punsch und Liebe feuriger, ziemlich lange den Blitz-Funken seines Humors hatte im Zickzack und verkalkend durch das Weltgebäude schießen lassen: so trat plötzlich ein Unbekannter, wie ein Totenkopf gänzlich kahl und sogar ohne Augenbraunen, aber welk- und rosenwangig, an ihren Tisch und sagte mit eiserner Miene zu Schoppe: »Binnen heute und 15 Monaten seid Ihr wahnsinnig geworden, Spaßvogel!« »Oho!« fuhr Schoppe äußerlich auf, aber innerlich zusammen. Albano wurde blaß. Jener faßte sich wieder, starrete die widerwärtige Gestalt, die die welke, aber rosenrote Haut auf scharfen hohen Gesichtsknochen hin- und herrollte, scharf und mutig an und sagte: »Wenn Ihr mich versteht, prophetischer Galgen- und Spaßvogel, und nicht selber wahnsinnig seid: so bin ich imstande, darzutun, daß man sich sehr wenig daraus zu machen habe aus der Tollheit.« […] »Ich bin kein Philosoph«, sagte gleichgültig der Kahlkopf, dessen vollendete glänzende Kahlheit mehr fürchterlich als häßlich war. Schoppe fragte erbittert, »wer er denn sei, quis und quid und ubi und quibus auxiliis und cur und quomodo und quando[Fußnote: Wenn.]« – »Quando? – Nach 15 Monaten komm' ich wieder – Quis? – Nichts; Gott braucht mich bloß, wenn er jemand unglücklich machen muß«, sagte der Kahle und bat sich ein Glas und die Erlaubnis mitzutrinken aus. Albano sagte, es gern erlaubend, im Frageton: er sei wohl erst angekommen? »Eben vom großen Bernhard«, sagte der Kahle, aber widriger mit jedem Wort, weil sein altes Rosen-Gesicht ein Zickzack konvulsivischer Verziehungen war, so daß immer ein Mensch nach dem andern dazustehen schien. […]
Jetzt trat eine arme, magere Tischlersfrau, Likör zu holen, herein, welche die Augen vor Scham und Schwäche nieder- und halb zugezogen trug; sie getrauete sich nicht aufzusehen, weil die ganze Stadt wußte, daß sie nachts gewaltsam aus dem Bette in die Gasse getrieben werde, um einem Leichenzuge, der dann durch dieselbe nach einigen Tagen wirklich ziehe, in seinem Vorspiele und Vorbilde vor ihr zuzuschauen. Kaum hatte sie der Kahle erblickt, als er sich das Gesicht bedeckte: »Es ist ein einziger Unschuldiger unter uns« (sagt' er ganz bleich und unruhig) – »der Jüngling hier«, indem er auf Albano zeigte. [...]
Albano fragte, ob er vorhin mit dem großen Bernhard den Schweizerberg gemeint. »Wohl!« (versetzt' er) »Ich reise jährlich hin, um eine Nacht mit meiner Schwester zuzubringen.« – »Meines Wissens sind nur Mönche da«, sagte Albano. – »Sie steht unter den Erfrornen in der Klosterkapelle[Fußnote: Bekanntlich lehnen sie da unverweset aneinander.], (versetzt' er) »ich bleibe die ganze Nacht vor ihr und sehe sie an und singe Horen.« [...]
»Ich hatt' auch eine« (sagte Albano) – »kann man Tote zitieren?« – »Nein, aber Sterbende«, sagte der Kahle. – »Huh!« sagte Albano bebend. – »Wen wollt Ihr sehen?« fragte der Kahle. – »Eine lebende Schwester, die ich noch nicht gesehen«, sagte glühend Albano. »Es kommt« (sagte der Kahle) »auf ein wenig Schlaf an, und daß Ihr noch wisset, wo die Schwester an ihrem letzten Geburtstag war.« – Zum Glück war Julienne, die er für seine Schwester nahm, an dem ihrigen im Schlosse zu Lilar gewesen. Er sagt' es ihm. »So kommt mit mir!« sagte der Kahle. [...]
Da folgte Albano dem Kahlkopf verwegner nach, die Geisterfurcht tötet die Menschenfurcht. Beide gingen stumm nebeneinander. In der fernen Tiefe schien es, als schwebe ein Mensch, ohne zu schreiten und rege zu sein, fest und langsam in den Lüften weiter. [...]
Beide traten ans Laubgehölze vor Lilar; da half sich ein Knabe mit einem unförmlich-großen Kopfe auf zwei Krücken heraus und hatte eine Rose, die er dem Jüngling nickend anbot. Albano nahm sie, aber der Kleine nickte unaufhörlich, als woll' er sagen, er möge doch daran riechen. Albano tats – und plötzlich zog ihn die Theaterversenkung des Lebens, ein bodenloser Schlummer, in die dunkle Tiefe. Als er belastet erwachte, war er allein und ohne seine Waffe in einem alten bestäubten gotischen Zimmer – ein mattes Lichtlein streuete nur Schatten umher – er sah durch das Fenster – Lilar schien es zu sein, aber auf die ganze Landschaft war Schnee gefallen und der Himmel weiß bewölkt, und doch stachen sonderbar die Sterne durch. Was ist das, steh' ich im Larventanz der Träume? fragt' er sich. Da ging eine Tapete auf – eine verhangne weibliche Gestalt mit unzähligen Schleiern auf dem Angesicht trat herein – stand ein wenig – und flog ihm an sein Herz. »Wer ists?« fragte er. Sie drückte ihn heftiger an sich und weinte durch die Schleier hindurch. »Kennst du mich?« fragt' er. Sie nickte. »Bist du meine unbekannte Schwester?« fragt' er. Sie nickte und hielt ihn mit festen Schwesterarmen, mit heißen Liebestränen, mit ungestümen Küssen an sich fest. »Rede, wo lebst du?« – Sie schüttelte. – »Bist du gestorben oder ein Traum?« – Sie schüttelte. – »Heißest du Julienne?« – Sie schüttelte. »Gib mir ein Zeichen deiner Wahrhaftigkeit!« – Sie zeigte ihm einen halben goldnen Ring auf einem nahen Tisch. »Zeige dein Gesicht, damit ich dir glaube!« – Sie zog ihn vom Fenster weg. »Schwester, bei Gott, wenn du nicht lügst, so hebe die Schleier!« – Sie wies mit dem ausgestreckten langen umwickelten Arme nach etwas hinter ihm. Er bat immer fort, sie deutete heftig nach einem Orte hin und drückte ihn von sich; endlich folgte er und kehrte sich seitwärts – Da sah er in einem Spiegel, wie sie schnell die Schleier aufriß und wie darunter die veraltete Gestalt erschien, deren Bild ihm sein Vater auf Isola bella mit der Unterschrift gegeben. Aber als er sich umkehrte, fühlt' er auf seinem Gesicht eine warme Hand und eine kalte Blume; und sein Ich zog wieder ein Schlaf hinunter. Als er erwachte, war er allein, aber mit seiner Waffe und an der Waldstelle, wo er zum ersten Male eingeschlafen war. Der Himmel war blau, und die lichten Bilder schimmerten – die Erde war grün und der Schnee verwischt – den halben Ring hatt' er nicht mehr in der Hand – um ihn war kein Laut und kein Mensch. War alles der verwehte Wolkenzug der Träume gewesen, das kurze Wirbeln und Bilden in ihrem Zauberrauch? Aber das Leben, die Wahrheit hatte ja so lebendig an seiner Brust gebrannt; und die Schwestertränen lagen noch auf seinem Auge. »Oder wären es nur meine Brudertränen?« sagte sein verwirrter Geist, als er aufstand und in der hellen Nacht nach Hause ging. [...]
Ach über allen seinen Gedanken zog in Geier-Kreisen unaufhörlich eine ferne dunkle Gestalt, der Würgengel, der auf die hülflose Liane hungrig niederfliegen wollte! Das Starren der Leichen-Seherin auf dem Blumenbühler Weg – zumal nach dem trüben Blatte der Fürstin – gaukelte jetzt in den dunkeln, durcheinanderkreuzenden Laubgängen, worein sein Lebensweg getrieben war, als ein flatterndes Schreckbild fort.

Jean Paul: Titan, 95. und 96. Zykel

Für die, die sich ängstlich fragen: "Hört das denn endlich wieder auf?" - Ja, es wird einmal aufhören. Es sind schon über 60% des Textes ausgewertet. Das soll freilich nicht heißen, dass nicht auf dem Wege sehr sehr viele Blumenstücke am Wege übergangen worden wären. Es lohnt sich, auch in übergangenen Zykeln danach zu suchen, wenn einem denn nicht die Blumenstücke schon über sind.