30 Dezember 2012

100 Jahre Universität Göttingen: Das Fest der Bürger

"In der Voraussicht, daß die Einladungen zum Banket des Königs nur wenige Frauen und Töchter aus dem Bürgerstande treffen würden, welche seit Wochen thätig gewesen waren, für den Schmuck der Stadt an diesen Festtagen zu arbeiten, hatte ein Comité jüngerer Leute, zu dem der Candidat der Advocatur, Bruno Baumann, gehörte, einen Subscriptionsball veranstaltet, der in denselben Räumen wie der Königsball stattfinden sollte. Die Unternehmer hatten mit den größten Schwierigkeiten zu kämpfen, mit der akademischen Bureaukratie, welche ihre paar Sessel und andere Utensilien nicht dem profanen Publikum überlassen wollte, mit der Polizei, welche eine Menge unnützer Präventivmaßregeln zu treffen sich verpflichtet glaubte, mit dem Stallmeister Ayerer, welcher die »Boutike« von seiner offenen Reitbahn so früh wie möglich entfernt und den Tanzsalon in den Winterreitsaal verwandelt zu sehen wünschte. Als alle diese Dinge überwunden waren, hatte der Magistratsdirector Ebel die Herablassung, sich und noch ein Magistratsmitglied an die Spitze des Comité stellen zu lassen und der Sache den Charakter einer von der Stadt gegebenen Festlichkeit zu vindiciren. Die jungen Unternehmer übersahen die Tragweite einer solchen Aenderung, sie sollten aber schon nach wenigen Stunden die Bedeutung fühlen. Der Subscriptionsball sollte um acht Uhr seinen Anfang nehmen. Da zu dem gestrigen Königsballe eine einfache Pastorentochter gar nicht, noch weniger eine sonstige »Landviole« eine Einladung bekommen hatte, so war der Zudrang zur Subscription noch am Tage des Balles selbst ungemein groß. [...]
Der Beginn des Balles war auf acht Uhr bestimmt, um zehn Uhr sollte soupirt werden, allein eine Menge tanzlustiger Damen hatte sich schon eine halbe Stunde vor dieser Zeit eingefunden, um einen passenden Platz zu finden, oder weil man es mit den Freundinnen verabredet hatte. Auch die jungen Herren, die damals noch nicht so tanzfaul waren wie heute, waren Schlag acht Uhr sämmtlich am Platze. Man hatte zwar nicht, wie am gestrigen Tage, zwei Musikcorps, sondern nur den Stadtmusikus, verstärkt durch einige Violinen und Clarinetten des mündener Jägercorps, dagegen aber hatte man die ganze große Reitbahn als einen Tanzsalon, und wer diesen durchwalzte, der hatte etwas Tüchtiges geleistet. Nun schlug es acht Uhr, schlug acht ein Viertel, ein Halb, das Tanzcomité war vollständig versammelt, bis auf den einen, den Chef der Stadt, den Würdenträger des Subscriptionsballes.
Endlich gegen drei Viertel acht Uhr erschien er in der vollen Würde seines Amtes, aber ohne seine Damen, die noch eine halbe Stunde auf sich warten ließen. Das galt für vornehm. Wie lang den jungen tanzlustigen Leuten die Stunde von acht bis neun wurde, ist unmöglich zu beschreiben. Die tanzlustigen Damen versuchten auf alle mögliche Weise das Tanzcomité zu veranlassen, den Tanz beginnen zu lassen, und die »Aufforderung zum Tanz« von Weber, die man zu Vertreibung der Zeit aufspielen ließ, dämpfte das Feuer nicht, sondern verstärkte es.
»Dreihundert oder vierhundert Mann können doch unmöglich darauf warten«, hieß es, »bis es der Magistratsdirectorin und ihren beiden Fräulein Töchtern gefällt, mit ihrer Toilette fertig zu werden?« Auch außerdem versprach es langweilig, steif zu werden. Die beiden Geschlechter saßen oder standen bis auf wenige Ausnahmen getrennt; die Damen auf den etwas erhöhten Tribünen hatten schon von vornherein angefangen, sich nach Ständen zu sondern. Den Platz unter dem Orchester hatten die Magistratsdamen eingenommen, daneben hatten sich die Frauen der königlichen Beamten, die sich höher dünkten, besonders gruppirt, eine dritte Gruppe bildeten die Frauen und Töchter der Kaufleute, Aerzte und Advocaten, dann kamen die Pastorentöchter und sonstige Landviolen, der eigentliche Bürgerstand hatte sich ganz auf die südliche Seite zurückgezogen, dem Orchester gegenüber, um sich dort wieder nach Reichthum oder sonstigen Familien- und andern Beziehungen in Gruppen zu sondern. Durch die Fürsorge der göttinger Freunde und Baumann's hatte die uns befreundete wiener Familie nebst Heloise von Finkenstein im Kreise einiger göttinger Professorenfrauen, die sich wiederum von den übrigen sonderten, nahe dem Eingange in den Banketsaal einen guten Platz gefunden.
Die Herren standen in der Mitte des Saales, viele jüngere Bürger, Angestellte, die gestern keine Berücksichtigung gefunden, vielleicht zweihundert Studenten, die mehr oder weniger eine Herzensflamme unter den Tänzerinnen hatten; man unterhielt sich von einer Menge tragikomischer Scenen vom gestrigen Königsballe. Was hatte die Tochter des Ministers des Innern, die schöne Augusta, sich gestern sagen lassen müssen? Wo hatte Graf von Schlottheim sich am Morgen gefunden? Was war aus den funfzig Flaschen Wein geworden, die eine lustige Compagnie ergaunert und, um solche vorläufig zu sichern, hinter der Mauer, an einem Orte, wo Feuerleitern oder sonstige Dinge aufbewahrt werden, verborgen hatte, um noch mehr zu acquiriren? Jeder hatte irgendein Abenteuer gehabt, auch an Liebesabenteuern, Bekanntschaftmachen, Bestellungen auf die nächsten Tage hatte es nicht gefehlt. Endlich gab der Magistratsdirector das Zeichen zum Beginn des Tanzes, die »Faustpolonaise« rauschte von dem Orchester herab, und, die Frau des Stadtsyndikus zur Seite, eröffnete er mit feierlich langsamem Hahnentritt die Polonaise. Ein Theil der schwerfälligen alten Welt, Bureaukraten und Würdenträger folgten ihm, alle mit häßlichen aufgeputzten Damen am Arme, die ihre Toiletten, welche seit einem halben Jahre Gegenstand ihrer Gedanken und Gespräche gewesen waren, nun wenigstens...[...]

Bruno Baumann schloß sich, die schöne Heloise von Finkenstein am Arme, gleichsam als Repräsentant der jungen Welt, der eine goldene Zukunft noch lächelt, der Welt des Werdenden, dem steif voranschreitenden Zopfe an. Er hatte auf dem Wege nach dem Hohenhagen mit seiner Tänzerin schon alle Touren, die man tanzen wolle, überlegt, denn er war von den Unternehmern als Vortänzer bestimmt gewesen. Nun hatte der Magistratsdirector diese Rolle übernommen und diesem schien die Polonaise in einem Umschreiten des Saales zu bestehen. Es war eine lange Colonne, die dem Würdenträger folgte. Als er wieder an seinem Platze angekommen war und im Begriff stand, die Frau des Syndikus mit einem feierlichen Diener zu ihrem Platze zu führen, stand Baumann am entgegengesetzten Ende des Saals, er kannte den Musikdirigenten gut und dieser Baumann's Art, die Polonaise zu tanzen. Bruno winkte mit dem Taschentuche. Die Musik begann in ein schnelleres Tempo zu fallen, und nun fiel er mit seiner Tänzerin von dem Zuge ab, dem er bisher gefolgt war, und durcheilte, mit schnellerm Tritt die Tänzerin um sich herumdrehend, die umgekehrte Richtung, um der alten Welt Zeit zu lassen, sich abzuthun und ihre Plätze zu finden. Seine Nachmänner folgten und bald hatte sich in dem schönen Saal ein buntes Gewirr, wie es die Polonaise erheischt, und wie die göttinger Jugend es durch Hölzke's, des Tanzlehrers, Unterricht allgemein kannte, verbreitet, jetzt bildeten alle Tänzer eine große nicht enden wollende Schlange, die sich selbst in den Schweif biß, dann fielen die Herren zur Linken, die Damen zur Rechten ab, um sich am andern Ende des Saals zu fangen, bildeten einen großen Kreis, liefen Sturm und durchbrachen die Gegenseite. Man wickelte sich zum Knäuel auf und wickelte sich ab, bildete drei große Windmühlenflügel, in deren Winkeln gewalzt wurde, legte eine Ecossaisentour ein, die jedes Tanzpaar mit den übrigen in Verbindung brachte, und vergnügte sich sehr. Der Magistratsdirector hatte das Weitertanzen verhindern wollen, er fühlte sich in seiner Amtswürde verletzt und hat Bruno Baumann diesen bösen Streich, wie er ihn nannte, nie vergessen. Aber das Eis des conventionellen Tanzes war gebrochen, der steife Ton war dahin, die Jugend hatte den Sieg davongetragen, von jetzt bis zum andern Morgen herrschte nur Lust und Frohsinn. »Ach welch ein schöner Ball«, seufzten die schönen Göttingerinnen noch einige Jahre später, »und was wäre daraus geworden, wenn der Dr. Baumann nicht die langweilige Ebel'sche Polonaise in eine lustige umgewandelt hätte!«"
Heinrich Oppermann: Hundert Jahre, 6. Buch, 5. Kapitel

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