18 Dezember 2012

Über die moralische Versuchung durch das Sklavendaseins


Das Schiff, mit dem der Maler Hellmann nach Amerika fahren wollte, ist schon im Mittelmeer gekapert worden und er auf dem Sklavenmarkt in Tunis an einen reichen Araber verkauft worden. Durch Zufall war dessen Lieblingssklave auch Deutscher und hat nach seinem Übertritt zum muslimischen Glauben eine Vertrauensstellung erworben.  Hellmann  gewinnt seinerseits die Wertschätzung dieses Deutschen, wird von ihm zum Erben eingesetzt und kann, nachdem auch er die Religion gewechselt hat, erfolgreich um die vierzehnjährige Tochter des Herrn werben. Weil im Falle eines frühen Kindbetts ihr Leben in Gefahr wäre, soll die Hochzeit aber noch nicht sofort stattfinden. Seine zukünftige Braut schenkt ihm daher die Slavin, die ihre innigste Freundin ist und die sie wegen deren absoluter Ergebenheit nicht als Rivalin fürchtet. 

"Das Bild seiner ersten Jugendliebe, seiner Karoline, war immer mehr verblaßt, und seitdem er weder ihre kleinen Briefe mit Liebesversicherungen empfing, noch an sie schreiben konnte, war es natürlich, daß er weniger häufig an sie dachte. Seit Wochen hatte er nur an Mirza gedacht und ihr Bild mit allem möglichen Liebreiz geschmückt. Heute trat zwischen dieses Phantasiebild Fatime in voller plastischer Wirklichkeit.
Der Entflammte kannte alle Lehren des Korans, er kannte viel von den Sitten der Araber, die seinen Begierden das Wort redeten, aber er hing auch noch an europäisch-christlichen Anschauungen. Die Bedeutung des Geschenkes seiner Geliebten sah er nur halb, ihm fehlte der Begriff davon, wie arabische Frauen und Mädchen es für eine alberne Prätension halten würden, von einem Manne allein geliebt zu sein. Er hatte bisher nur die äußere Erscheinung vor Augen; der tiefere Grund derselben, daß das arabische Weib durch die Sitte so tief erniedrigt ist, daß es überall nicht zu dem Gefühle seiner Eigenwürde kommt, wurde ihm erst später klar. Er wußte, daß das Nebeneinandergeliebtwerden für die Frauen des Orients nichts Abstoßendes hat, wie daß es nichts Seltenes war, daß eine rechtmäßige Frau ihrem Manne eine sehr schöne Sklavin schenkt, sei es auch nur, um des Mannes Zuneigung von einer andern Frau oder einem Kebsweibe abzulenken, die sie haßt, oder auf die sie eifersüchtig ist."

Oppenheimer reflektiert jetzt darüber, wie sein Verhalten zu bewerten ist:

"Es mag kaum bestritten werden, daß auf die Lebensschicksale vieler Menschen außer Geburt und Geburtsland äußere Ereignisse einen so entschiedenen Einfluß üben, daß sich von einer Betätigung der menschlichen Willensfreiheit wenig wahrnehmen läßt, daß das Walten des Schicksals, oder wie wir es nennen wollen, vorwiegend das Bestimmende ist. So machte nun auch die Gefangennehmung des Malers Hellung durch die Korsaren, sein Verkauf als Gartensklave nach Zuwan einen gewaltigen, von seiner Willensfreiheit unabhängigen Eingriff in das Leben desselben. Seine Lebensweise wurde fortan abhängig von den äußern Verhältnissen und Bedingnissen, die in Afrika ihn umgaben, von dem Leben unter Mohammedanern, von dem Leben unter den glühenden Sonnenstrahlen Nordafrikas, von dem Zufalle, daß er mit einem Landsmanne zusammentraf, von der Liebe Fatime's und Mirza's. Allein derselbe war sich trotz aller Einwirkungen des Schicksals und Zufalls bei allen seinem Thun noch eines Willens und seines Wollens bewußt. Sein Uebertritt zu der Religion Mohammed's, sein Anschmiegen an orientalische Sitten und Gewohnheiten geschah keineswegs ohne Antheil seiner Selbstentscheidung. Denn wie sehr auch sein Wille durch Klima, Nahrung, Umgang mit Hinrik, Trägheit, Sinnengenuß und andere auf den menschlichen Körper und durch diesen auf den Geist selbst einwirkende Ursachen, ohne daß er sich dieser Einwirkungen bewußt geworden wäre oder davon Rechenschaft sich gegeben hätte, gereizt, geleitet, beschränkt war, sein Wollen war dadurch nicht erloschen; hätte er nur recht gewollt, das Rechte und Richtige gewollt, so würde er den Lockungen widerstanden haben. Aber daran lag es gerade: er wollte und mochte nicht widerstreben dem, was schmeichelnd ihn anzog und seine Sinne umgarnte, er war auf dem Wege, ganz zu einem orientalischen Weichlinge sich zu erniedrigen. Dem Menschen das freie Willensvermögen überhaupt bestreiten zu wollen, heißt, ihm den Geist selbst abstreiten, und wenn Heinrich Simon nach dem Berichte seines Biographen Jacobi dem Glauben angehangen hat: »Es ist von vorherein unwahrscheinlich, daß derjenige einen freien Willen haben solle, dessen Existenz selbst ohne freien Willen ist. [...]
Die Lehre Spinoza's selbst löst die Frage nach der Willensfreiheit des Menschen nicht, er vermeint: »Die menschliche Freiheit, deren sich alle rühmen, besteht darin, daß die Mengen sich ihres Willens bewußt, der Ursachen aber, von denen dieser bestimmt wird, unbewußt sind.« [...]
Im Wollen bestimmen wir unser Thun und Lassen durch eigene Kraft nach dem, was uns zukommt und frommt; unser Wollen ist dann Eins mit unserm Sollen, und erst in dieser Harmonie ist der Mensch wahrhaft frei. Zwiespalt und Widerspruch stürzt ihn in Unfreiheit. Jedoch auch aus den Abgründen vermag er sich wieder aufzurichten und vermöge der unvertilgbaren Selbstmacht des Guten sich zur Freiheit im Rechten und Guten emporzuarbeiten. Wir dürfen nur nicht vergessen, daß der Mensch nicht Gott ist, daß er nicht alle und jede, nicht die ganze Freiheit hat, daß das Gebiet seines freien Könnens und Thuns ein durch seine Endlichkeit, seine Verbindung mit der Natur beschränktes ist. Auf das Bewußtsein bei unserm Wollen kommt es in erster Reihe nicht an, denn die Reflexion des Bewußtseins tritt erst im vorgeschrittenen Zustande hinzu. Eine große Menge der Menschen verbringt das Leben, ohne auf dieser Stufe des Bewußtseins der Willensfreiheit anzulangen. Die, welche die Sonnenglut des Aequators brennt und schmilzt, die, welche über die Eisfelder der Pole streichen, werden sich mit Reflexionen über das, was in ihrer Seele vorgeht, nicht allzu sehr incommodiren. Aber nicht nur diese, auch Europa hat noch immer in jener Hinsicht mehr Buschmänner und Eskimos aufzuweisen als Philosophen, und zwar in allen Ständen, mögen sie den Knotenstock und den Besenstiel handhaben, oder das Porteépée und den Fächer führen. Die Ideenverbindungen, die uns zu diesen Reflexionen führten, ergibt ein Blick auf das Leben unsers Freundes Hellung. Er stand von jeher und nicht erst in den Dattelhainen seines afrikanischen Schlaraffenlebens mehr unter der Herrschaft seiner Gefühle und Sinne als unter der Herrschaft seines vernünftigen Selbstbewußtseins. Die äußern Umstände begünstigten in Zuwan nur die Gelegenheit, den Trieben, die am mächtigsten in ihm waren, die Zügel schießen zu lassen."

Heinrich Oppermann: Hundert Jahre, 5. Buch, 4. Kapitel

Keine Kommentare: