23 Dezember 2012

Ein studentischer Ulk 1816 in Göttingen

"Am andern Morgen, es war am 18. Januar 1816, sagten sämmtliche Stiefelwichser beim Reinigen der Kleider an, es werde mittags 12 Uhr auf dem Marktplatze an dem Volksverräther Dabelow ein öffentliches Gericht vollstreckt werden. In den Collegien flüsterte der eine dem andern zu, ob man schon wüßte, daß Dabelow's »Artikel 13«* auf öffentlichem Markte verbrannt werden solle? Die eigentlichen Corpsburschen standen zwar der Politik fern, aber jeder »Ulk« war ihnen lieb. Viele schwänzten die Collegia, um sich auf den »Ulk« durch ein ordentliches Frühstück im Rathskeller vorzubereiten und dieser wie die Bosia selbst waren so gefüllt, daß man kaum einen Schoppen Bier oder Wein haben konnte.
Schon um 11 Uhr standen Hunderte von Dienstmädchen, Schusterjungen, Stiefelwichsern auf dem Marktplatze. Die Studentenwelt war unruhig, führte etwas im Schilde, das wußte man allerorten, das hatten »Schäfer und Doris«, das durch Heinrich Heine bekannte Pedellenpaar, auch schon dem Prorector berichtet.
Der Goldaga wie der Silberaga, die Commandanten der sogenannten Schnurren (der akademischen Polizei), waren zum Prorector beordert und hatten Befehl erhalten, für die Nacht doppelte Mannschaften mit den »Bleistiften« zu versehen. Bleistifte nannte man acht Fuß lange, an dem einen Ende mit Blei gefüllte Stangen, welche die »Schnurren« mit großer Geschicklichkeit namentlich unter die nach einem Pereat oder einer Fenstermusik fliehende Schar der Studenten zu werfen wußten, sodaß etliche zur Erde fielen, um »ad wacham« geschleppt werden zu können.
Der Prorector dachte natürlich nicht daran, daß man vor der Nacht etwas unternehmen würde, das glaubten auch weder Pedelle noch Agas, und viele Schnurren gingen ihren täglichen Beschäftigungen, dem Holzsägen und Holzhacken vor den Häusern nach; denn solange die Georgia Augusta existirte, waren alle Studentenexcesse immer nur nachts oder am Spätabend vorgekommen. Die Versammlung Neugieriger auf dem Marktplatze glaubte man durch die außergewöhnliche Morgenkneiperei im Rathskeller hervorgerufen, und hielt es nach hergebrachter Gewohnheit für gerathen, solche Dinge zu ignoriren. Pedelle und Agas hatten deshalb vom Prorector die Weisung bekommen, sich auf der Weenderstraße und dem Markte überall nicht sehen zu lassen, dagegen nachzuforschen, welchem Professor oder Hofrath in der Nacht ein Pereat gebracht werden solle.
Da man hörte, die Sache gelte dem nicht sehr beliebten Dabelow, hatte man zu verstehen gegeben, die Pedellen und Schnurren sollten erst einschreiten, wenn es zu Fenstermusiken käme. Das Rathhaus in Göttingen steht noch heute, wie es seit 1371 gestanden hat, seine Zinnen und festen Erkerthürme sind nur etwas grauer geworden und die hohe Freitreppe mit der Vertheidigungsbrustwehr und ihren starken eisernen Thüren etwas baufälliger und rostiger. Davor auf einem freien der Weenderstraße zugewendeten Platze sprudelte die Fontaine des sogenannten Großen Brunnens, jetzt in neuer Einfassung, damals noch in der ältern. Hinter diesem stand zu der Zeit, von der wir reden, ein hoher hölzerner Pfahl, von dem zwei eiserne Ketten mit Handeisen herabhingen. Das war der Schandpfahl, daran wurden Diebe, liederliche Frauenzimmer, ungehorsame oder diebische Dienstboten und alle, welche aus der Stadt gestäupt wurden, eine Stunde lang der Menge zur Schau und zum warnenden Exempel ausgestellt.
Als nun von den hohen Kirchthürmen der Jakobi und Johanniskirche die Glocke zwölf schlug, da spien alle die verschiedenen Corps- und andere Kneipen ihre Insassen in langen Zügen aus, die sich von der Gronerstraße, der Geismarstraße, der Rothenstraße, der Barfüßler- und Weenderstraße zum Markte bewegten. Auch einige Collegia waren eben geschlossen, aus dem »Pandektenstalle Heise's« und dem Criminalrechte des alten »Strittig«, wie man Meister nannte, kamen allein Hunderte der fleißigen Studenten die Johannisstraße herauf zum Markte."

Der ganze Platz war schon voll Menschen. Die Straßenjugend hockte auf den Balustraden der Rathhaustreppe und auf der Umfassung des großen Brunnens, die verschiedenen Corps gruppirten sich nach der Seite, von der sie den Markt betraten. Als die Weißmützen kamen, machte man ihnen Platz.
Dabelow's Buch wurde von der Stange genommen und Hermann übergeben, der, dasselbe in die Höhe haltend, mit lauter Stimme über den Markt rief:
»Diesem Schandbuche eines niederträchtigen Fürstenknechts werde ich den Platz anweisen, der ihm allein gebührt, den Schandpfahl!«
und dann nagelte er das Buch an den Pfahl.
Georg von Schenk schrieb über das Buch mit Kreide an den Schandpfahl: »Dabelow quo peracto!« Die Menge schrie: Pereat Dabelow! und: Nach Dobelow! Polizei ließ sich nicht sehen, und so wogte denn die Masse, vermehrt durch Bürger, die von ihrer Arbeit gelaufen waren, durch einige hundert Dienstmädchen, die für die Burschen das magere Mittagsessen aus den Garküchen holten, und durch die Straßenjugend der ganzen Stadt, nach dem Meißner'schen Hause hin.
Der Weg war kurz, man brauchte sich nur vom Rathhause der Universitätsapotheke an der südlichen Seite des Rathhauses zuzuwenden, so war man am Ziele. Die Göttingia zog voran, Jungen und Frauenzimmer nahmen auf dem Johanniskirchhofe Platz, die Hauptmenge drängte sich auf dem engern Raum zwischen der Universitätsapotheke, der Scharwache und dem Scharren zusammen. Der ganze Raum zwischen Rathhaus und Scharren, wie die Zindelstraße, waren von der »Sonne« bis zur Nikolaistraße mit Menschen gefüllt. Nachdem die Menge so still wie möglich geworden war, rief Hermann:
»Pereat Dabelow, der Mann, der es wagt, die heiligen Verheißungen der Fürsten an ihre Völker zur Lüge machen zu wollen!«
Pereat! pereat! brüllte die Menge, und in demselben Augenblick flogen ein paar hundert Steine in die Fensterscheiben des Geheimen Staatsraths.
»Nun laßt uns zum Prorector ziehen, diesem ein Vivat bringen und dann ruhig auseinandergehen« – rief ein alter Bursch von Ansehen. Der neue Prorector war der nassauische Hofrath Bauer; als Erfinder der Warnungstheorie galt er, der vom jungen Strittig verteidigten Abschreckungstheorie gegenüber, schon für modern und für freisinniger als die übrigen hannoverischen Hofräthe. Bauer wohnte an der Allee, und dahin wälzte sich der Menschenstrom durch die Paulinerstraße, theils durch die Gothmar- und Prinzenstraße. Wenn auch die vordersten Burschen mit ihrem »Gaudeamus igitur« begannen, so war doch keine Uebereinstimmung in die Menge zu bringen. Hier sang eine Verbindung: »So leben wir, so leben wir alle Tage«, dort eine andere: »Und der Windmüller mahlt, wenn der Wind weht«, trotzdem daß die Sonne schien und man hätte glauben sollen, die Jugend würde sich am Tage der Schlußverse geschämt haben. Die Göttingia stimmte ihr Lieblingslied an, den Körner'schen Lobgesang auf die Lützow'sche Schar.
Dem Prorector war ein Vivat gebracht, die Jugend war hungerig geworden. Jeder eilte seinem magern Freitische zu oder auch der gemeinsamen Speiseküche.
Aber die Aufregung begann nun erst in den Kreisen der Hofräthe und Professoren zu wogen. So etwas war unerhört, am hellen Tage eine Fenstermusik und ein Pereat!
Pudel Schäfer, vormaliger wohlbestallter wetzlarischer Reichskammergerichtsdiener, der vom Reichskammergericht nie anders als in der Würde eines königlich-kaiserlichen Beamten mit »Wir« zu sprechen pflegte, hatte den Actus von der Rathhaustreppe aus angesehen und die Attentäter Hermann Baumgarten wie Georg von Schenk wohl erkannt. Pudel Doris, der Wohlbeleibte, zog sich aus dem Gedränge in die Universitätsapotheke zurück, um dort einen Magenbittern zu sich zu nehmen und sich die Anführer zu notiren. Beide berichteten dem Prorector.
Dabelow, dem Geheimrath, war mit einem Steine ein anonymer Brief in das Fenster geworfen, welcher lautete: »Machen Sie, daß Sie fortkommen, gehen Sie nach Würtemberg, der Civilverdienstorden ist Ihnen gewiß, vielleicht werden Sie sogar Premierminister!«

Heinrich Oppermann: Hundert Jahre, 5. Buch, 7. Kapitel

*Über den 13. Artikel der deutschen Bundes-Acte die landständischen Verfassungen betreffend, Halle 1816.

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