22 Dezember 2012

Der Wiener Kongress

"Wien hat seine steifen steinernen Reifröcke von sich geworfen, und der Raum, der sonst leer und öde war, hat sich mit Palästen, Theatern, Kirchen, Häusern, Straßen, Menschen gefüllt. Das Glacis zwischen Stadt und Vorstädten ist im Verschwinden, ein elegantes Wien mit herrlichen Straßen baut sich um das alte Wien herum, die Zahl seiner Einwohner hat sich verdoppelt, aber Tage wie die des Kongresses wird man in der Donaustadt nicht wiedersehen, und Tage wie die des Bundesschießens verhalten sich zu jenen Tagen von 1814 wie ein Proletarierbanket zu einem Banket im Olymp.
Die mächtigsten Fürsten Europas, hohe Herren aus allen Ländern, die schönsten Weiber der Welt, Reineke's Genossenschaft aus ganz Europa in Gestalt von Diplomaten und Ministern, Bittsteller und Wünschende ohne Zahl, sie alle waren zusammengedrängt in dem viel kleinern Wien, sie alle verfolgten dasselbe Ziel, sie alle wollten sich amusiren, sich des wiedergewonnenen Lebens freuen und daneben das alte Europa restauriren, die große Weltbeute vertheilen und zwischen groß und klein ein Gleichgewicht herstellen, damit nicht wieder einer die Weltherrschaft an sich reißen könne. Sie wollten einen Bau gründen, der Sicherheit gewähren sollte gegen die Wiederkehr einer Sündflut, wie die Französische Revolution es gewesen.
Die Möglichkeit, so zu bauen, war geschaffen durch die Leichen und das Blut des Volks, das man gegen den Tyrannen, der Europa in Ketten geschmiedet, wach gerufen hatte mit dem Versprechen der Freiheit. Aber das Volk war hier unvertreten, wo selbst Könige, Fürsten und Herren noch klein waren vor den Mächtigsten der Erde, vor Kaisern und Königen erster Größe. Das Volk war nur vertreten durch Mimen und Künstler, Sängerinnen und Tänzerinnen, Seiltänzer und Gaukler aller Art, welche die Kaiser und Könige, Fürsten und Herren und die glänzenden Frauen ergötzen sollten, vielleicht vertreten in irgendeiner Dachkammer, in der man die Kanzleien untergebracht, in dem Busen eines der Kanzlisten, eines Jakob Grimm etwa.
Es war das ein Chaos von sich widerstreitenden Ansprüchen, Wünschen, Hoffnungen, daß selbst der Herrgott es nicht der Hälfte hätte recht machen können. Wie sollten das nun die Diplomaten vollbringen? Ihre Kunst bestand zunächst darin, die heimlichen und stillen Wünsche der einzelnen zu erforschen, dann diese zu benutzen, um Verbindungen und Allianzen zu trennen, neue zu knüpfen, die Strebungen des einen geschickt gegen die des andern zu verwenden."
Heinrich Oppermann: Hundert Jahre, 5. Buch, 6. Kapitel

Keine Kommentare: