21 Januar 2013

Als Rechtsanwalt in einer Kleinstadt des frühen 19. Jh.


Bruno Baumann kommt nach Heustedt

Es war schon October, als er in Heustedt eintraf. Wir haben das Städtchen seit etwa dreißig Jahren aus den Augen verloren. Aeußerlich war es das alte. Wenige Neubauten waren vorgenommen, der linke Flügel des Schlosses und der Fontainenthurm waren neu aufgebaut, die Nebengebäude gegen 1813 vergrößert, die Büse'sche Zuckerfabrik hatte zu existiren aufgehört. Auch der chinesische Pavillon hatte ein anderes Ansehen erhalten, er hatte auf der Westseite zwei den Fenstern auf der Ostseite entsprechende Fenster bekommen und war von dem vordern chinesischen Zimmer nicht mehr durch eine eiserne Fallthür, sondern durch eine reiche rothsammtene Portière getrennt. [...]
Mit seiner Ernennung zum Advocaten war an den Drosten von G. ein vertrauliches Postscriptum gekommen, dem Sinne nach des Inhalts: Candidat Baumann sei ein vorlauter, gefährlicher Mensch, Literat und Gazzettist, der in Heustedt unschädlich gemacht werden müsse. Derselbe habe sich in Göttingen in die Verhältnisse des Staats, der Universität und des Gemeindelebens in dreister Art eingemischt, öffentliche Verleumdungen angesehener Männer in auswärtigen Journalen nicht gescheut, das System der Regierung verdächtigt, sodaß Universität und Magistrat auf seine Entfernung gedrungen hätten. Man vertraue der Umsicht und Gewandtheit des Herrn Drosten, daß er dem jungen Manne dort Zügel anlegen werde, wozu kein Ort geeigneter sei als Heustedt, das sich durch seine Loyalität während der Verfassungswirren rühmlichst ausgezeichnet habe und durch den Kern seiner Bevölkerung gegen Ansteckung gesichert sei. [...]
Er verlangte nach Processen, aber die Bauern kamen nicht. Er hatte sich von dem ältesten seiner Collegen, dem Advocaten Bardeleben, Acten ausgebeten, um das dortige Meierrecht zu studiren, das ihm unbekannt war, da es mehr auf Gewohnheit als auf geschriebenem Rechte beruhte. Unter diesen Acten befand sich auch der Dummeier'sche Proceß gegen Claasing, den Katharina nach dem Tode ihres Hans Dummeier angestrengt hatte. Der Proceß hatte sich bis über die Mitte der zwanziger Jahre hingeschleppt und war erst dann vom höchsten Gerichtshofe entschieden. Die Klage war in angebrachter Maße abgewiesen, konnte also jederzeit wieder aufgenommen werden.[...]
»Was nun das hiesige gesellschaftliche Leben anbetrifft, so habe ich mich der Sitte und dem Brauche unterwerfen müssen, so schwer es mir auch angekommen ist. Aber man gewöhnt sich an alles. Ich spiele hier, trotz eines Pastors, mindestens ein um den andern Tag mein L'Hombre oder Whist auf dem Club, freilich mit allem Pech, weil ich mit Unaufmerksamkeit spiele. Aber ich fühle, daß das eine geistige Abspannung ist, die mir wohlthut; wenn ich abends nach Hause komme und mich zwei Stunden an die Arbeit setze, beschicke ich mehr als früher in fünf Stunden. »Auch der Geist verlangt nach Abwechselung. Meine Praxis ist im Zunehmen, und ich habe einige recht interessante Processe, die schon in höhern Instanzen schweben. »Du willst ein Bild der hiesigen Gesellschaft; nun wohl, wenn es Dich interessirt, will ich eine Reihe von Personen Dir vorführen. Der Allmächtigste und Gefürchtetste hier ist Graf Schlottheim, erster Kammerherr bei Sr. Majestät Ernst August, der mit Schele seit 1837 Politik gemacht hat. Ich kenne ihn noch nicht persönlich, da er während meiner Anwesenheit Heustedt noch nicht die Ehre seines Besuchs gegönnt hat; wenn er aber seinem jüngsten Bruder ähnlich ist, den ich in Göttingen kannte, so wird er mich schwerlich je in seinem Schlosse sehen. Du erinnerst Dich vom Jahre siebenunddreißig her noch des langaufgeschossenen Vandalen, der mit Oerzen, Malzahn und andern mecklenburger Junkern herumkneipte und von Dahlmann das Honorar für die nicht beendete Vorlesung durch den Stiefelwuchs zurückfordern ließ. Als ich die Sache zu Hause erzählte, ließen es sich die Füchse nicht nehmen, dem Herrn Grafen einen dummen Jungen aufzubrummen, und mein Freund Grant, der Amerikaner, hat ihn durch einen Säbelhieb auf immer gezeichnet. Der Jüngere, der Kammerherr, wird nicht besser sein. Er kommt indeß nur in der Frühlingszeit und im Herbst zur Jagd. »Dann sollte der Drost von G. eigentlich die erste Geige spielen. Ehe ich hierher kam, hatte ich aus den Verhandlungen der Ersten Kammer über das Staatsgrund- und die Ablösungsgesetze mir von ihm das Bild eines Aristokraten vom reinsten Wasser entworfen. Seitdem ich hier bin, habe ich mich überzeugt, daß er vom Aristokraten nichts hat, auch kein Gut und Geld, daß er ein ganz gewöhnlicher Bureaukrat ist, nur in der Rede und mit der Feder gewandter, als es in der Regel seine Collegen sind. Seine politischen Floskeln hat er aus Haller und dem »Politischen Wochenblatt«, von Volkswirthschaft hat er keinen Begriff, aber er ist sich bewußt, von anderm Stoffe zu sein als wir. Hier hat er sein Ansehen durch kleine Fingerkunststückchen beim Spiel, durch Schwatzhaftigkeit, Unzuverlässigkeit, fortwährende Verbindlichkeiten gegen Geldjuden eingebüßt. Seine fünf Töchter sind eine noch blonder als die andere, die jüngste nicht unschön, aber sie ist mit ihren langen Locken so schmachtend, daß man Mitleid mit ihr haben könnte. [...]
»Es freut unsereinen aber doch, wenn er unter tausend Larven ein verständiges, fühlendes Herz für die Zukunft findet. Die Abwesenheit aller Kenntniß der Dichter und Literaten, welche mit uns an der Umgestaltung der Zeit arbeiten, in den ersten Gesellschaftskreisen hat mich im Anfange sehr niedergeschlagen. »Hier in der Familie eines jüdischen Handelsmanns finde ich zuerst ein gediegenes Verständniß meiner eigenen Bestrebungen auf jenem Felde. Meyer Moses Hirschsohn, obgleich ihm bei der nächsten Geburtstagsfeier Ernst August's der Commerzienrath nicht entgehen wird, gehört noch nicht zu der »Gesellschaft«. Unser Landadel ist bisjetzt nicht zu der Stufe der in andern Ländern vorherrschenden Bildung gekommen, daß die Verbindung mit einer reichen Jüdin ihn nicht schände, und unsere Bureaukratie pflegt den Judenhaß. [...]
Bruno hatte auch bei der unvermeidlichen Nachkneiperei der Herren nicht gefehlt, es war aber über seine Lippe keine Médisance gekommen, und diese bildeten doch eigentlich die Würze einer solchen Nachsession. Am andern Tage wurde seine »Philosophie der Geschichte« um keinen Paragraphen reicher. So kamen Weihnachten und der Sylvesterball. In der Tischgenossenschaft war ein Wechsel eingetreten, einer der Supernumerarassessoren, nicht der älteste, war als dritter Beamter an ein anderes Amt versetzt, die beiden [...]
Nun, es war wahr, die Stellung einer gebildeten Jüdin in solch einem kleinen Orte war äußerst ungünstig. Was half ihr aller Reichthum des Mannes? sie stand isolirt da, ohne allen Umgang, lediglich angewiesen auf sich selbst und ihre Familie. Die Frauen der »Gesellschaft«, das heißt alle, welche zu den Casinobällen Zutritt hatten, hielten sich fern, die andern Judenfrauen der Stadt standen an Bildung weit unter ihr.

Heinrich Oppermann: Hundert Jahre, 7. Buch, 1. Kapitel

Keine Kommentare: