24 Januar 2013

Die Gesellschaft der Ungeschlossenen in Heustedt

Unser Freund [Bruno Baumann, das alter ego Heinrich Oppermanns] hatte mit Hülfe des Assessors Kloppmeier, des Wasserbauinspectors und eines nach Heustedt versetzten Auditors, aus einer altadelichen Familie von großem Einflusse, der in Heidelberg und Berlin sich über die Lebensanschauungen des Adels und der hannoverischen Bureaukratenkreise emporgeschwungen, mancherlei Aenderungen in dem gesellschaftlichen Leben der kleinen Stadt durchzusetzen gewußt, die, so gering sie an sich schienen, doch nicht ohne Einfluß auf das Ganze blieben. So war im Herrenclub eine radicale Oppositionszeitung angeschafft, und eine große Anzahl Leute, die nie eine andere als die Regierungszeitung gelesen, bekamen nun einmal die Dinge auch von der Kehrseite zu sehen. Es war ein vom Herrenclub gänzlich unabhängiger Journallesecirkel ins Leben gerufen, wodurch ermöglicht war, daß drei oder vier Familien, welche der ersten Gesellschaft nicht angehörten, darunter Hirschsohn's, von diesem Institute Gebrauch machen konnten. Man hatte einen Buchbinder veranlaßt, eine Leihbibliothek einzurichten, und Bruno traf durch seine Verbindungen in Leipzig nicht nur eine passende Auswahl, sondern hatte auch erwirkt, daß vorerst nur ein Drittel des Preises baar bezahlt zu werden brauchte. Endlich hatte man erreicht, auch ein Glas Bier trinken zu können. Als Bruno im Jahre zuvor nach Heustedt gekommen und auf dem Keller ein Glas »Bairisch« gefordert, erwiderte Hochmeier beinahe grob: »Herr Doctor, im Rathskeller ist außer in der Kutscherstube noch nie ein Glas Bier getrunken, und so Gott will, wird das, solange ich das Leben behalte, so bleiben; drei Häuser in der Schloßstraße hinab können Sie bei dem Kneipwirth Waldmeier vielleicht Ihren Durst in Bier befriedigen.« – Waldmeier hatte eine große Ausspannwirthschaft für Bauern, aber auch zwei große Säle, wo Bürgerbälle stattfanden und im Jahrmarkt die Bauern tanzten; unter diesen Tanzsälen waren ausgedehnte Räume, die in gewöhnlichen Zeiten nicht gebraucht wurden. Als nun der neue Auditor gekommen war, er hatte in Heidelberg das Biertrinken gelernt, und kein Bier fand, raisonnirte er eines Tages nach aufgehobenem Mittagsmahle in burschikoser Weise über diesen Mangel. Hochmeier antwortete höhnisch: »Herr Baron, ich habe schon früher dem Dr. Baumann gesagt, daß bei meinem Nachbar Bier zu finden ist.« Diese freche Antwort des Wirths misfiel sämmtlichen Tischgenossen, denen die cordiale Vertraulichkeit, womit sich derselbe zu der Gesellschaft gestellt hatte, längst unangenehm gewesen war. Man pflegte nach Tisch im Clubzimmer Billard zu spielen und Kaffee zu trinken, und hier verabredete man, bei dem Wirth Zum Elefanten, Waldmeier, einige Zimmer zu miethen und denselben zu veranlassen, kasseler und bairisch Bier kommen zu lassen. Man wollte dann dreimal wöchentlich am Abend zusammenkommen, um unter dem Namen der »Ungeschlossenen« sich zu unterhalten, zu politisiren, zu philosophiren, zu singen und commersiren, wenn man guten Stoff habe. Die Statuten der Gesellschaft sollten in dem einen Paragraphen zusammengefaßt werden: »Karten werden hier nicht gespielt.« Da Waldmeier gutes Bier nicht vorräthig hatte, so beschloß man, die Ungeschlossenen mit einem solennen Abendessen, bei dem Wein getrunken werden sollte, zu eröffnen, und dazu Sonnabend zu wählen, wo der Rathskellerwirth, wie man wußte, ein Fischessen vorbereitete. Jeder lud dazu ein oder zwei Gäste ein, oder beredete nähere Gesinnungsgenossen als künftige Ungeschlossene teilzunehmen. Baumann, Kloppmeier und der neue Auditor, den wir Baron Franz nennen wollen, übernahmen es, die nöthigen Einrichtungen zu treffen. Waldmeier war ein einsichtsvoller, thätiger, bescheidener Mann, der sich vom Hausknecht in einer Wirthschaft in Bremen zum Eigenthümer des Elefanten in Heustedt emporgeschwungen und dem Bärenwirthe in der Weststadt schon manchen Stammgast abtrünnig gemacht hatte, weil alles, was er den Gästen reichte, gut, sauber und wohlschmeckend war. [...]

Es war herkömmlich, daß der Präsident des Herrenclubs die Woche vor Himmelfahrt ein Circular herumsendete, in welchem die Familien Heustedts bemerkten, mit wie viel Personen sie theilnehmen wollten, welche Speisen und Getränke sie zu dem gemeinsamen Pickenick mitbrächten, ob sie mit eigener Equipage führen oder darauf rechneten, auf einem der von der Gesellschaft beschafften großen Ackerwagen mit Stroh- oder Bretersitzen Platz zu finden. Nun war in diesem Jahre durch den Pastor, bei welchem die älteste Claasing'sche Tochter in Pension war, eine Frage aufgeworfen, welche die gesammte Gesellschaft, namentlich die weibliche, aufregte. Claasings gehörten selbstverständlich »zur Gesellschaft«, man mußte also die beiden Töchter zu der Fahrt einladen; von diesen war aber Auguste im Hause des Bankiers zum Besuch, nicht in Pension, man konnte sie anständigerweise nicht einladen, ohne zugleich Hirschsohns einzuladen. Allein, eine Judenfamilie zur Gesellschaft zu ziehen, wie wäre das möglich gewesen? Der Pastor ersann den Ausweg, daß er Auguste mitnehme, allein diese erklärte: sie ginge nicht ohne Hirschsohns, die sie so freundlich aufgenommen, während Minna Claasing dabei beharrte, ohne Theilnahme ihrer Schwester mache sie die Partie nicht mit. Das war nun vor allem dem Assessor unlieb, den Bruno bei Claasings eingeführt hatte, er war ernstlich verliebt in Minna und ihr Geld; auch der Baron Franz, der Sidonie nur am Fenster hatte sitzen sehen, aber von ihrem Glutauge entzückt war, fing an sich dafür zu interessiren, daß Hirschsohns eine Einladung bekämen. Er zog die Baronin Bardenfleth ins Complot und beredete sie, dem Clubpräsidenten, der ein Anbeter von ihr war und ihr nichts übel nahm, gleichsam aus Spaß mit dem Circular wegen der Himmelfahrtspartie zuvorzukommen und dieses, als verstehe es sich von selbst, auch zu dem Bankier zu senden. So geschah es. Da gab es denn viel Nasenrümpfen, viel Gerede von Anmaßung, namentlich waren alle Mütter mit ältern Töchtern unglücklich, die schönen Jüdinnen würden ihren Herzenspüppchen die wenigen Tänzer, die ihnen bis dahin geblieben, abspenstig machen. Der Drost ließ anfangs sogar seinen Namen wieder streichen »dringender Geschäfte halber« –, als er aber bedachte, wie oft ihn der reiche Jude aus Geldverlegenheiten errettet, und daß er denselben nächstens wieder werde gebrauchen müssen, besann er sich eines bessern und unterschrieb von neuem. Baumann war auf eine Ueberraschung bedacht; er ritt oft nach der Wüstenei, um den alten Meyer über die Abwesenheit des Enkels zu trösten und veranlaßte diesen, das königliche Amt und, durch die Baronin von Bardenfleth, die ganze Himmelfahrtsgesellschaft einzuladen, bei ihm ein Frühstück bei dieser Gelegenheit einzunehmen. Der nächste Weg zur Kirnburg ging nämlich über Kirnberg und die Wüstenei. Die Einladung ward angenommen. Hatte man bisher die Erzählungen Baumann's von der Wüstenei für Uebertreibung gehalten, so überzeugte man sich jetzt, daß sie wie ein Paradies in der Heide sei, und der Drost, dem das Frühstück außerordentlich gemundet, drückte dem alten Bauer einmal über das andere die Hand und versicherte, er werde gleich morgen an die Landdrostei berichten, welche Verdienste er sich durch die Urbarmachung so großer Ländereien erworben habe. Man ordnete das Zusammensitzen in den verschiedenen Wagen, bei dem bis dahin das Früher- oder Späterkommen vor dem Rathskeller den Ausschlag gegeben, jetzt mehr nach Beziehungen, Neigungen, Coterien. Die jüngere Welt, welche bis dahin in Equipagen bei Aeltern oder Tanten gesessen, nahm die Plätze auf den Leiterwagen ein, wo man möglichst bunte Reihe machte; ältere Herren und Damen wurden dagegen in die Equipagen gebracht. Auch Paulinchen, die Braut, und Auguste Claasing verließen den Hirschsohn'schen Wagen und räumten ihre Plätze dem Baron Franz und Bruno ein, um auf dem lustigern Leiterwagen Platz zu nehmen. Das war denn ein so vergnügter Himmelfahrtstag, wie ihn die jungen Schönen noch niemals erlebt hatten,
Heinrich Oppermann: Hundert Jahre, 7.Buch, 5. Kapitel

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