24 Januar 2013

In der Paulskirchenversammlung


Bruno war in dem Wahlkreise seines Wohnorts zum Mitgliede des deutschen Parlaments gewählt worden. Er reiste mit einem eigentümlichen Gefühle von Spannung und Erwartung, halb voll Vertrauen und Zuversicht auf sich und die Zukunft, halb voll bescheidener Zweifel an seinem eigenen Wissen und Können, um die Mitte Mai über Köln nach Frankfurt. Wie viele seiner verehrten Lehrer sollte er dort sehen, wie viele Verwandte und Freunde, Gesinnungsgenossen und literarische Mitkämpfer, die er nur durch Briefwechsel kannte! Da war Albrecht, da war Dahlmann, seine Lehrer des Maßes und der Mäßigung in der Politik, Jakob Grimm, Gervinus. Dort traf er seinen Oheim Gottfried Schulz, seinen Lehrer der Philosophie, – wie er zu der Amnestie desselben mitgewirkt, so hatte er nicht wenig gethan, um das Andenken an seine siebzehnjährige Verbannung aufzufrischen, und er war die hauptsächlichste Veranlassung, daß man ihn in einem vaterländischen Wählkreise zum Deputirten ernannte. Bruno hatte ihn nur kurze Zeit in Hannover gesehen; ehe er Weib und Kind nach Deutschland brachte, wollte der junge Gelehrte sich die Zustände in seinem Vaterlande selbst anschauen. [...]

Bis zum 18. Mai sammelte sich die größere Mehrzahl der Abgeordneten – die Oesterreicher waren zum größern Theile noch zurück. Welches Chaos das! Die verschiedenartigsten Wünsche, Vorstellungen, Richtungen, in Beziehung auf das Ziel, ein noch größeres Auseinandergehen in den Mitteln und Wegen. Hier Kirchthurmsinteressen und beschränkte Ansichten, dort titanenhafte Weltumgestaltungsträume. Hier eine Masse Unklarer, Ueberspannter, aber Gutmeinender; dort eine Menge mit klarem, aber verheimlichtem Ziele, dem der Republik, daneben eine große Zahl solcher, die sich selbst conservativ nannten, von ihren Gegnern aber als reactionär bezeichnet wurden. Man hatte sich schon im Vorparlament in Anarchisten und Reactionäre, wie man sich gegenseitig kennzeichnete, getrennt, – jede Partei suchte die Neuangekommenen zu sich heranzuziehen. Die Misregierung der verflossenen Jahrzehnte rächte sich hier. Da kamen aus allen Winkeln und Ecken Deutschlands Männer, die in kleinen Orten jahrzehntelang geduckt und gedrückt gesessen, die gegen bureaukratischen Machtmisbrauch, gegen exemtionssüchtigen Feudalismus, gegen Ueberhebung des Adels gekämpft und gestritten und dafür auf die eine oder andere Weise gelitten hatten und zurückgesetzt waren, Männer, die auf ihr vergangenes Leben stolz sein konnten, die aber Vergrollung, Bitterkeit und Haß im Herzen trugen, und die hier nun wieder, wie sie glaubten, eine Menge von Verräthern und Reactionären die geschäftige Rolle der Contrerevolutionäre spielen sahen. Und dieses Chaos war sich selbst überlassen, ohne Vorlage, ohne Staatenhaus, ohne Leiter; man kannte sich zum größern Theil nicht; wo man sich kannte, mied oder haßte man sich; die verschiedenen Stämme brachten verschiedene Grundansichten mit, die Süddeutschen waren durchweg Republikaner, die Norddeutschen waren die Verständigern, Gemäßigtern, Wohlmeinenden, Constitutionellen, aus denen sich der Stamm der Linken und der Rechten bildete.
Heinrich Oppermann: Hundert Jahre, 7. Buch, 8. Kapitel

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