28 Mai 2018

Ungestilltes Sehnen und Sehnsucht nach dem Tod in der Romantik

"Der Topos der Hinwendung zum Tod ist in der Romantik natürlich sehr stark vertreten und äußert sich vor allem als Topos des archetypischen ungestillten Sehnens, konkret, vor allem des Liebessehnens. Hier gibt es in der Frühromantik die für das 19. Jahrhundert maßgeblich gewordenen Titel der "Schönen Müllerin" (Schubert) und der "Fernen Geliebten" (Beethoven), die geradezu zum Muster wurden und vor allem von Schumann bis Mahler und den frühen Berg auch musikalisch-motivischer Form und sogar bis hin zum musikalischen Zitat (z.B. in Schumanns Dichterliebe) aufgegriffen werden. Auch im Symphonischen Repertoire gibt es die Entgenzung, etwa im wiederum maßgeblichen letzten Satz von Beethovens 9., wo, wiederum auf Grundlage eines dichterischen Textes, [...]"(baucolo: auf gutefrage.net zu "Musik der Romantik-Motiv der Unendlicheit?")

mehr dazu: von baucolo

25 Mai 2018

Der Vergangenheit entkommen (oder nicht) - Die Woche mit Frau Cresspahl

Der Vergangenheit entkommen (oder nicht)

"Heinrich Cresspahl bekommt in Jerichow Besuch aus vergangenen Zeiten, Mrs. Ferwalter wird derweil in New York zur amerikanischen Staatsbürgerin und schafft sich so ein weiteres „Bollwerk gegen die Vergangenheit“. Sie feiert mit Marie und Gesine Cresspahl und fragt, ob denn der Film „Der fünfte Reiter ist die Angst“ nicht etwas wäre. Das verneint Gesine, die von den Stimmen der Toten nun darüber aufgeklärt wird, was mit dem Titel des Films gemeint ist."

"„Oft war sie mutlos, eine alte Frau, das Gehirn von zerpflügt von Nervenzucken und Schlaflosigkeit, nicht mehr zum Lernen imstande, und ließ sich trösten wie ein Kind. Wenn es uns nicht gelang, verabschiedete sie sich mit langem Händedruck, das Gesicht beiseite, ging traurig und ungelenk davon auf den Beinen, die die Deutschen und Österreicher ihr kaputt gemacht haben“.
Dennoch ist die Aussicht auf die offizielle Zugehörigkeit zum Gastland für Mrs. Ferwalter, die eine totale Schutzlosigkeit erfahren musste, ihr nicht nur „Vergnügen“, sondern auch „eine neue schützende Hülle, noch ein Bollwerk gegen die Vergangenheit“. Sie hat die behördliche Prüfung überstanden, „Stolz angenommen auf diesen Staat“ und feiert nun mit den Cresspahls. Denn die Erinnerung an die Vergangenheit, das Ausgeliefertsein, die Zerstörung ihrer Dorfgemeinschaft haben ein wenig an Schrecken verloren, weil „ihr nun ein Paß“ ihrer neuen Heimat zusteht.
„– Die Freude: sagt Mrs. Ferwalter, fast in Tränen. – Die Freude!“ "

"Nach ihrem Kinobesuch in der vergangenen Woche hatte Gesine Cresspahl vergeblich versucht, den Titel des Films „The Fifth Horseman Is Fear“ als englische Redewendung zu entschlüsseln. Die Stimmen der Toten in ihrem Kopf, darunter auch die Mutter Lisbeth, klären sie nun auf über die Verbindung mit der Apokalypse, indem sie die Offenbarung des Johannes in der Übersetzung der King James Bible vortragen. Den fünften Reiter aber, die Furcht, gibt es nicht in der Bibel, wohl aber für die Tschechen. „Für die sind die Deutschen alle vier Plagen der Apokalypse, und noch mehr als Raub und Krieg, Hunger, Pestilenz und Tod. Für die haben die Deutschen eigens einen fünften Reiter mitgebracht, die Angst.“ [...]"

Sieh auch:
Auslassungen

18 Mai 2018

Jean-Paul Sartre: Die Wörter

"Ich wollte gefallen, und ich wollte Kulturbäder nehmen; jeder Tag begann mit neuer Heiligung. Sie wurde manchmal ziemlich nachlässig vorgenommen: es genügte, dass ich mich auf den Boden legte und die Seiten umblätterte; die Werke meiner kleinen Freunde dienten mir häufig als Gebetsmühlen. Gleichzeitig aber kam es vor, dass ich wirkliche Angst und Freude empfand. Dann vergaß ich meine Rolle und wurde plötzlich von dem riesigen Walfisch, der kein anderer war als die Welt, davongetragen. Bitte schließen Sie daraus, was sie wollen! Auf alle Fälle bearbeitete mein Blick die Wörter: man musste sie versuchen, ihren Sinn bestimmen; mit der Zeit wurde ich durch diese Kulturkomödie kultiviert.

Trotzdem las ich auch richtig: außerhalb des Sanktuariums, in unserem Zimmer oder unter dem Tisch im Esszimmer; von diesem richtigen Lesen redete ich zu niemand, und niemand, außer meiner Mutter, redete darüber mit mir. Anne-Marie hatte meine gespielten Leidenschaften ernst genommen. Sie wurde unruhig und sprach darüber mit ihrer Mutter. Meine Großmutter war eine zuverlässige Verbündete und sagte: "Charles ist unvernünftig. Er drängt den Kleinen, ich habe es gesehen. Wenn es so weitergeht, wird das Kind ganz austrocknen." Die beiden Frauen brachten auch die Überanstrengung und die Gefahr einer Gehirnhautentzündung ins Spiel. Es wäre gefährlich und müßig gewesen, meinen Großvater unmittelbar anzugreifen: sie versuchten es auf Umwegen. Bei einem unserer Spaziergänge blieb Anne-Marie wie zufällig vor dem Zeitungskiosk stehen, der sich auch heute noch an der Ecke des boulevard Saint-Michelle und der rue Soufflot befindet: ich sah wunderbare Bilder, war fasziniert von ihren schreienden Farben, wollte sie haben, bekam sie; der Streich war geglückt: nun verlangte ich jede Woche nach 'Cri-Cri' oder den 'Drei Pfadfindern' von Jean de la Hire oder nach der 'Weltreise im Aeroplan' von Arnould Galopin, von denen jeden Donnerstag Fortsetzungsheftchen zu erscheinen pflegten." (
Sartre: Die WörterS. 42-43)

Vermutlich habe ich den rororo Taschenbuchband, nach dem ich zitiere, in den Jahren 1965/1966 das erste und letzte Mal gelesen.
Ich erinnerte mich nur daran, dass Sarte beschrieb, dass er als kleines Kind - ganz von Büchern umgeben - in einer umfangreichen Bibliothek gelesen habe. Die merkwürdigen Umstände des gemeinsamen "Kinderzimmers" mit seiner verwitweten Mutter, die zerstrittene Ehe der Großeltern, die gegenüber seiner Mutter aber unangreifbare Autoritäten verkörperten, Sartrs Verwandtschaft mit Albert Schweitzer erinnerte ich nicht.
In den Band hatte ich einen Zeitungsartikel der FAZ vom 8.1.1977 mit dem Anfang von Sartres psychoanalytisch Flaubert deutenden Biografie  (L'idiot de la famille) eingelegt.
Vermutlich hat Sartre besonders angesprochen, dass Flaubert angeblich erst sehr spät lesen gelernt hat, während er schon sehr früh Corneille und Flaubert gelesen hat, wenn auch ohne jedes literarische Verständnis, so doch mit großer Faszination von dem Bücherkult.
Sartre zitiert einen Brief des neunjährigen Flaubert an seinen Freund, Ernest Chevalier, in dem er schreibt, er werde ihm "von meinen Komödien schicken" und ihm anbietet, eine Autorengemeinschaft zu gründen.  - Die ganz unterschiedlichen Motivationen, die Kinder im Grundschulalter dazu motivieren, im Sinne des Schriftstellerns zu "schreiben".

Bemerkenswert die Parallelität der Faszination durch Wörter bei Sartre und Ulla Hahn, ohne dass diese (meiner Beobachtung nach) die geringste Anspielung auf Sartre macht, trotz ihrer Liebe zu literarischen Bezügen.   (vgl. Hahn: Das verborgene Wort und Rätsel)

13 Mai 2018

Gesine Cresspahl und ihre Tochter Marie streiten über mögliche Lösungen durch Protest.

"Ab dem 23. April 1968 besetzen die Studierenden der Columbia-Universität erst die Baustelle ihres neuen Sportzentrums in Morningside Park, dann fünf Gebäude der Universität und das Büro des Präsidenten Grayson Kirk. Der hatte bereits im März Demonstrationen auf dem Campus verboten und behauptet, die Studierenden seien dem Nihilismus anheimgefallen. Die Proteste richten sich zum einen unter dem Schlagwort „Gym Crow Must Go“ – einer Anspielung auf die rassistischen, als „Jim Crow“ bekannten Segregationsgesetze – gegen den Bau eines exklusiven Sportzentrums im Morningside Park, das den mehrheitlich afroamerikanischen Bewohner*innen Harlems ein wichtiges Erholungsgebiet nehmen würde.  [...]
Gebaut werden solle das Sportzentrum am Riverside Drive, findet Marie, und zusätzlich ein Schwimmbad im Morningside Park durch die Stadt. Zu ihrem Erstaunen ist die Mutter einverstanden mit ihrer Sicht auf die Dinge. Beim Urteil über die Mitarbeit von Wissenschaftler*innen bei der IDA hingegen bewertet die Mutter alle Proteste als hoffnungslos verspätet. Marie muss zugeben, dass es sich um Angehörige der weißen Mittelschicht handelt, tatsächlich hatte der SDS keinen Kontakt zu den ca. 70 afroamerikanischen Studierenden an der Columbia. Die Tochter will sie davon überzeugen, mit ihr zur Universität zu laufen und die Studierenden zu unterstützen. Sie kann nicht verstehen, dass die Mutter sich für „Sozialismus in einem fremden Land“ mit kapitalistischen Mitteln einsetzt und nicht in der Gesellschaft, die ihr zur Heimat geworden ist. Für Marie ist Protestieren wie Handeln im Arendtschen Sinne Veränderung, ihre Mutter ist skeptischer, als Grund nennt sie ihre Erfahrungen:
„Vielleicht habe ich zu lange an der Politik gelernt und kann es nun nicht mehr anwenden.“
Gesine Cresspahl wäre eine Angehörige jener mittleren Generation der Jahrgänge 1909 bis 1934 gewesen, wie jene Deutschen aller Schichten, mit denen 1968 Interviews an der Universität Bonn geführt wurden, die Christina von Hodenberg in ihrer gerade als Buch erschienenen Studie „Das andere Achtundsechzig“ ausgewertet hat. " (FAZ 5.5.18)

Etgar Keret

Anlass für die folgenden Buchhinweise:
Ein Interview mit Etgar Keret in der FR vom 12./13.5.18, S. 32/33
Darin heißt es u.a.:
"Für mich sind die Ultraorthodoxen im Land nicht das Hauptproblem, die Nationalreligiösen sind es. Die Orthodoxen wollen leben, wie sie es für richtig halten. Sie wollen mich nicht bekehren. Während die Rechten, die Nationalreligiösen [!] verlangen, dass alle das Gleiche sagen und man keine Kritik übt. Sie begründen das mit der Einheit israels, aber diese Gleichmacherei hat etwas faschistisches. [!] [...] An israelischen Universitäten soll jetzt eine Art ethischer Code eingeführt werden. Was nichts anderes heißt, dass man nicht seine politische Meinung sagen darf. Und die Orthodoxen machen das alles nicht mit."

"Privat geht vor Katastrophe – dieser Spruch funktioniert in diesem Land nicht. Das eigene Leben und das Unglück draußen sind miteinander verwoben, man kann nichts dagegen tun. Davon erzählen die autobiografischen Vater-und-Sohn-Geschichten Kerets in leichtem, ironisch-humorvollen Ton. „Sag mal“, fragt eine Mutter Etgar Keret auf dem Spielplatz, „wird Lev in die Armee eintreten, wenn er groß ist?“ Lev ist da zwei Jahre alt, und Keret kommt es ein bisschen früh vor, sich darüber Gedanken zu machen. Über anderes dagegen denkt Etgar Keret sehr wohl nach, etwa darüber, wie man die unvermeidbaren Unglücke und Katastrophen verbrämen, wie man sie für sein Kind verkleiden kann. Als eine Sirene erklingt, die vor den Raketen der Hisbollah warnt, spielen sie Pastrami-Sandwich, statt sich einfach auf den Boden zu werfen: Mama ist unten, Lev in der Mitte und Papa oben. Wie lustig! Und wie quälend!

Etgar Keret ist auch Sohn. Sein Vater hat Krebs, er wird sterben, und das ist traurig, aber es ist der Lauf der Welt. Doch in Israel ist selbst das ein wenig anders. Wer den Holocaust überlebt hat, für den ist am Leben zu sein ein Sieg, und das Sterben ist noch schwerer zu akzeptieren als für alle anderen. [...]" (Die Pastrami-Sandwich-Familie FR 11.4.16)


Etgar Keret: Die sieben guten Jahre. Mein Leben als Vater und Sohn. 2016. 


"Da sitzt ein bärtiger Mann mit einer Pistole auf dem Sofa und verlangt nach einer Geschichte. Der Erzähler, der solcherart unter Druck gesetzt wird, beginnt vage damit, dass es an der Türe klopfe, was ziemlich komisch ist, weil es in dem Moment tatsächlich an der Türe klopft. Auch der Meinungsforscher, der nun eintritt, verlangt ultimativ nach einer Geschichte, bald schon gefolgt von einem Pizzaboten. Er solle endlich mit dem Erzählen anfangen, fordern die drei, wenn es sein müsse auch mit einem Türenklopfen.
Dann geht es Schlag auf Schlag. Die meisten Stories enden mit einem leisen oder lauten Paukenschlag, und eine beginnt mit dem Satz: „Diese Geschichte ist die beste im Buch.“ Das Wirkliche und das Surreale verbinden sich zu einem neuen Universum. Auch in „Lügenland“, mit 13 Seiten schon einer der langen Texte. An diesem eigentümlichen Flecken, bislang nur einem kleinen Kreis bekannt, kann man all die Menschen treffen, die in den eigenen Lügen vorgekommen sind: Der Junge, der angeblich geschlagen und gestohlen hat, oder der Verwandte, dem man eine schwere Krankheit angedichtet hat, um das eigene Fernbleiben da oder dort zu entschuldigen. Diese Personen schlagen nun tatsächlich zu oder leiden an einer schweren Krankheit." (Im sonnigen Lügenland FR 19.9. 2012)
 Etgar Keret: Plötzlich klopft es an der Tür. Stories. Frankfurt am Main 2012.

08 Mai 2018

Goethe und Thomas Mann

Nietzsche hat sich über die Formel "Goethe und Schiller" aufgeregt, wohl nicht nur wegen der spießerhaften Klassikerverehrung, die er darin sah, sondern auch, weil ihm der "Moraltrompeter" Schiller dieser Nachbarschaft nicht würdig erschien. In seinem Vortrag "Goethe und Tolstoi" (vom 4.9.1921, in erweiterter Form 1925 veröffentlicht) hat Thomas Mann seine Verbindung so unterschiedlicher Geister mit dem Hinweis auf Goethe und Schiller damit verteidigt, dass man durchaus auch Antithetisches in Beziehung setzen dürfe. "Tolstoi und Dostojewski" sagen wir wegen der Zeitgenossenschaft und des Ranges der beiden Romanciers, obwohl Tolstoi weit entfernt davon war, den "kranken" Dostojewski als wichtige Ergänzung seines Genies zu empfinden.
Thomas Mann nimmt das zum Anlass, anzudeuten, dass mit Schiller und Dostojewski zwei ein vergleichbar unterschiedliches wie ähnliches Paar vorhanden sei wie Goethe und Tolstoi.
So viel zur Erinnerung an diesen Aufsatz, der mich zum Thema "Goethe und Thomas Mann" anregte.

Auch hier eine Fülle von Unterschieden, diesmal gewiss auch in Fragen des Ranges. Aber die Gemeinsamkeiten: das Geheimratsmäßige, das Gefühl Repräsentant zu sein, das Heine und Brecht abstieß, das doch Kehrseite der gewaltigen Leistung des "sich-Zähmens"* war, das zusammen mit dem ungeheuren Fleiß die Voraussetzung für das erstaunliche Lebenswerk war.
Weitere Ähnlichkeiten hat Thomas Mann in seinem Goethe-Roman "Lotte in Weimar" angedeutet. Ich will da nicht Eulen nach Athen tragen.
Diese Anmerkungen stehen hier für mich als Erinnerung an meine Lektüre und für andere als Empfehlung, wenn sie denn ein Interesse an solchen - immer auch ziemlich gesuchten - Parallelitäten haben.
Größe und Zeitbedingtheit des Thomas Mannschen Stils inbegriffen.

* "Er wusste sich nicht zu zähmen, und so zerrann ihm sein Leben wie sein Dichten" hat Goethe über Johann Christian Günther gesagt.

Hier starb ein Schlesier, weil Glück und Zeit nicht wollte,
 Daß seine Dichterkunst zur Reife kommen sollte:
 Mein Pilger ließ geschwind und wandre deine Bahn,
 Sonst steckt dich auch sein Staub mit Lieb und Unglück an.

 (selbstverfasste Grabschrift von Johann Christian Günther)

Weitere Bezüge:
Goethe: Faust - Th. Mann: Dr. Faustus
Goethe - Max Frisch
Goethes Grab und Tolstois (Dazu: Stefan Zweig)

Christine Brückner: Jauche und Levkojen

Christine Brückner: Jauche und Levkojen (Leserrezension der Poenichen-Trilogie)

Als Fontanefan habe ich das Buch mit Genuss gelesen. Fontaneanspielungen (in diesem Fall vornehmlich auf Effi Briest) gefallen mir wie in "Weites Feld" von Grass natürlich immer.

Sprechende Namen wie bei Blaskorken (S.96), dem Waldhornspieler und Jäger - auch Schürzen -, nicht immer, aber als Huldigung auf Ziegenhals und Bomst lese ich sie gern. Später mehr über die Zweit- oder Drittlektüre.

Neulektüre Januar 2023:
Auf Seite 135 entdecke ich ein Zitat, das mir in abgewandelter Form in den 60er Jahren (mit der Frage nach dem Verfasser) vorgelegt wurde. Seitdem habe ich immer wieder versucht, es zu finden.
"Der du gebietend schreitest durch Sichelklang und Saat. Sich mühen heißt dir beten, und Andacht ist die Tat."* Es stammt von Lulu von Strauß und Torney, die 1956 gestorben ist. (Jauche und Levkojen) wurde 1975 veröffentlicht. Bei früheren Lektüren habe ich das Zitat übersehen.
Ich kannte es in der Form: "Der du gelassen schreitest ...". Kein Wunder, dass ich dies im Netz nicht gefunden habe. Kein Wunder auch, dass ich nicht auf den Gedanken gekommen bin, dass der Fragende es frei erfunden haben könnte, um mich zu foppen. Denn diese Blut- und-Boden-Sprache beherrschte man damals nicht mehr.
Nach Jahrzehnten ein Ergebnis.
Der Name Lulu von Strauß und Torney ist mir seit meiner Jugend geläufig; meiner Einschätzung nach sie ist zu Recht vergessen. So eigentlich auch dieses Zitat. Christine Brückner hat es über die Zeit hin aufbewahrt. (Wie sang doch Wolf Biermann: "im Bernstein der Balladen".) Und so kann ich nun endlich dies weihevolle Pathos einordnen.

*Der Tag hing grau in Wolken und war doch schwül und schwer,

Die blauen Blitze flammten nachts über die Gärten her,

Das Korn stand reif im Felde, und goldner war es nie, –

Ich bog dem Gott der Liebe mit Zittern meine Knie.


Die Sommernelken blühten und prangten purpurrot,

die ich mir damals pflückte, sind nun verdorrt und tot.

Der Gott, vor dem ich kniete, er schritt an mir vorbei,

ihm nach durch graue Leere ging meiner Sehnsucht Schrei. –


In gelbe Lindenwipfel stößt nun der nasse Wind,

ich gehe stille Wege, die menschenferne sind;

die Stirne, die ich senkte in Tränen und im Traum,

streift wieder eines Gottes dunkler Mantelsaum.


Und zwischen letzten Garben, die goldener Herbst beschert,

im Dampf gepflügter Scholle, die junger Saat begehrt,

das strenge Haupt erhoben in freier Winde Wehn,

seh' ich mit starken Füßen den Gott der Arbeit gehn.


Der du gebietend schreitest durch Sichelklang und Saat,

sich mühen heißt dir beten, und Andacht ist die Tat!

Im Werke meiner Hände hör' meiner Sehnsucht Schrei: 

Du Gott, zu dem ich bete, – Herr, geh' mir nicht vorbei!

Lulu von Srauß und Torney


Doch welche Sprachbeherrschung, welcher Formwille und was für ein Ethos, das Arbeit über die Liebe stellt. Es wird seine Gründe gehabt haben, weshalb Christine Brückner ihre Heldin Maximiliane diese Verse im Gedächtnis haben lässt.

Nun die ganze Stelle, in der Brückner sie anführt:

Man versucht ihr beizubringen, wie eine einfache Mehlschwitze nach einem komplizierten Rezept herzustellen sei, nicht mit 'zwei Esslöffeln' Mehl, sondern mit '50 Gramm Mehl', nicht 'ein Stich Butter', sondern 20 Gramm Pflanzenmargarine; Anna Riepe hatte sie bereits für Rezepte verdorben. sie blieb im Kochunterricht und auch in anderen Fächern eine mittelmäßige, jedoch willige, oft begeisterte und im ganzen beliebte Schülerin.

Man bringt ihr bei, dass Gedichte und Choräle für den Menschen ebenso wichtig sind wie das tägliche Brot. Sie nähert sich in diesen Jahren vornehmlich von Gedichten und Äpfeln, Letztere treffen von August bis April alle zwei Wochen im Schließkorb aus Poenichen ein, vom Klarapfel bis zum Boskop, von Anna Riepe sorgfältig in Heu verpackt. Das Apfelessen verschafft ihr kräftige weiße Zähne und rosiges Zahnfleisch. Wenn sie später Äpfel ist, überfällt sie ein Verlangen nach Gedichten, die dann mühelos aus ihrem Gedächtnis aufsteigen: 'Der du gebietend schreitest durch Sichelklang und Saat, sich mühen heißt dir beten, und Andacht ist die Tat!'
Wenn es nur irgend anging, zog sie sich mit einem Buch zurück, entweder auf eine der Bodentreppen oder hinter die Rhododendronbüsche im Park, wo es duftete wie auf Poenichen. Sie las, was ihr unter die Hände kam, wahllos, auch die Blut-und-Boden Literatur. Sie war ein Kind ihrer Zeit und stellte ihren Lesehunger mit den Erzeugnissen ihrer Zeit. Auf ihr späteres Denken wird es wenig Einfluss haben, aber: wenn sie irgendwo auf ein Gedicht stößt, streckt sie unbewusst die Hand nach einem Apfel aus." (Seite 135/136)
Aus der Kriegszeit: Maximiliane hat inzwischen einen Quint ohne d, einen Nazi geheiratet, weil der mitbekommen hat, dass sie Erbin von Poenichen sein wird. Der ist an ihr als Person nicht interessiert, auch als Frau nicht, nicht erotisch, nicht sexuell, schon gar nicht als Partnerin, kommt aber regelmäßig aus Berlin nach Poenichen, um das neuste Kind anzusetzen. Als eine Frau mit Tochter in Poenichen auftaucht und die Tochter Edda da lässt, weil Quint als Vater auch an dem Kind nicht interessiert ist und Hinterpommern nicht von Flugzeugen heimgesucht wird, nimmt sie auch dies Kind auf, interessanterweise zum Missfallen seines Vaters.
Als er - lange Zeit u k geschrieben - nach seinen mehrfachen Meldungen zur Panzertrupp schließlich eingezogen und in Russland eingesetzt wird, weiß sie ihm nichts zu schreiben, weil er sich für seine Kinder und das Geschehen zu Hause nicht interessiert. So schreibt sie ihm Gedichte ab. Die gibt er an einen Gefreiten ab, einen Schullehrer, weil er mit Gedichten nichts anzufangen weiß. Als der Gefreite fällt, wird seinen Eltern diese Gedichtsammlung geschickt. Sie fühlten sich[...] ein wenig getröstet im Gedanken daran, dass er jemanden gefunden hatte, der ihn liebte und ihm schrieb." (S.262) Sie bewahrten die Briefe auf.
"Auf nichts kann man sich so verlassen wie auf die Wirksamkeit und Unvergänglichkeit eines Gedichts." (S.262)






07 Mai 2018

Gerd Gaiser: Schlußball

Zur Erinnerung an eine fast vergessene Lektüre, die mir heute in die Hand fiel: Gerd Gaiser: Schlußball, 1958

http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-41759625.html

  • "Diese Welt, dachte ich, wäre kaum auszuhalten. Aber diese Welt, in der unaufhörlich nach Glück gestrebt wird, die voll ist von Glücks-Offerten, lauter Glücksartikeln zu Tagespreisen und von erster Marke, Glück durch Nagelpflege und Klangmöbel, Glück durch Busen, Ventilation und Vitamine, durch Wunscherfüllungen, Rasierwasser und seelische Entschlackung - sie läßt sich ertragen von einem Augenblick an, in dem man den Wahn besiegt hat, des Morgens müsse ein Glück neben der Uhr auf dem Tisch liegen." - Schlußball, Carl Hanser Verlag, München 1958, S. 272
  • "Trotzdem warte ich und stehe morgens auf. Ich weiß nicht, was ich bin und wozu, und worauf ich warte. Aber ich warte noch." - Gerd Gaiser, Schlußball, Carl Hanser Verlag, München 1958, S. 273

Mir gefiel damals (1974/75??) die Sicht aus verschiedenen Perspektiven. Damal noch nichtzigmal durchgespielt gelesen.

Romananfang:
"Für tot erklärt",sagte jemand. ...

Romanschluss:
Weinen ist nicht so einfach. (S.212)  (vgl. "Aber weinen ist nicht einfach.", S.42)

Der Prolog beginnt:
"Nicht die Nacht, in der Neu-Spuhl verworfen wurde, nicht die Nacht, in der es unterging. Gesund in seiner Wirtschaft, kann Neu-Spuhl noch lange stehen."

und schließt:
"Solche Nächte kommen viele. Jeder bekommt seine Schuld. Die Welt ist eng, aber im Pfuhl rühren sich die Larven. Larve, Puppe, Imago. Einmal bleibt die Hülle zurück. Imago; die Flügel zittern. Sie straffen sich. Was wird sein? Aber: was ist gewesen?"

Walsers Ehen in Philippsburg habe ich 1963/64 gelesen und weit besser und als weit besser in Erinnerung. In meinem Lektüretagebuch keine Notiz zum Schlußball.
Etwas in mir sträubt sich gegen die Vorstellung, dass über 11 Jahre nach der Lektüre der Mutmaßungen über Jakob, gut 10 Jahre nach der der Ehen in Philippsburg nachdrücklich vom Schlußball beeindruckt gewesen sein. Ein im Taschenbuch liegender Zettel und handschriftliche Notizen im Buch sprechen für Behandlung im Unterricht. Hilfreich meldet sich die vage Vorstellung, die Erstlektüre habe in einem gebundenen Buch stattgefunden. 
Aber die Neugier auf das Buch ist geweckt. 

Jetzt habe ich es mir angesehen. Es ist nicht das Geschehen, nicht die klischeehafte Gesellschaftskritik, nicht die Edelmenschen, was mir peinlich ist. Es ist die spezifische Art, wie sie präsentiert werden, die mich an Blut-und-Boden Edelmenschen erinnert. Auch Böll hat seine Charaktere, deren Empfindlichkeit und Selbstansprüche ihnen zur Ehre gereichen sollen (vgl. "Die verlorene Ehre ... oder Uwe Johnson); aber das heute schwer erträgliche auf germanische Tugenden getrimmte Pathos. 

Dabei weiß Gaiser Interesse und Einfühlung zu wecken, die Charaktere sind nur eingeschränkt klischeehaft. 

05 Mai 2018

Poetischer Realismus

"Ich möchte Bilder schaun, nicht machen können,
Und bloß, um nichts vom Häßlichen zu leiden,
Denn niemals hat’s der Maler noch gesehen."


Das Hässliche soll durch Kunst veredelt werden. Der poetische Realist sieht die Wirklichkeit und verwandelt sie. In diesem Falle, indem er eine Empfindung ausformuliert und in strenger Form, einem Sonett, gestaltet
Dem Maler Gurlitt unterstellt Hebbel, dass er es fertigbringe, es gar nicht erst zu sehen.
So meine Sicht. 
Es folgt das vollständige Gedicht und ein Link zu Lesung und Interpretation in der Frankfurter Anthologie:


Friedrich Hebbel: 

„An meinen Freund Gurlitt“

Ich dachte dein, als ich die Herrlichkeiten
Der Steiermark vom Berg herab erblickte
Und im Empfindungswirbel fast erstickte,
Weil mir die Kraft gebrach, ihn abzuleiten.
Denn wer, wie du, in nebelhafte Weiten
Den Künstlerblick so oft schon siegreich schickte
Und sicher war, daß keine ihn verstrickte,
Vermag auch dort mit der Natur zu streiten.
Zwar werde ich dir nie die Hand mißgönnen,
Doch könnt’ ich dir das Auge fast beneiden,
Vor dem des Chaos Formen nicht bestehen.
Ich möchte Bilder schaun, nicht machen können,
Und bloß, um nichts vom Häßlichen zu leiden,
Denn niemals hat’s der Maler noch gesehen.

02 Mai 2018

Zur heutigen Situation der deutschen Sprache

Göttert: Deutsch. Biografie einer Sprache

"Das Alaska Native Language Center sagt voraus, dass von den derzeit schätzungsweise 6000 gesprochenen Sprachen auf der Erde in den nächsten 100 Jahren 90 Prozent entweder ausgestorben seien oder unmittelbar davorstünden. (S.352)

In der Schweiz sei an die Stelle des Hochdeutschen als Hochsprache Englisch getreten.
"Für Business und alle weiteren Kommunikationen Globalesisch für den Nahbereich der Familie Dialekt.  Genau das stehe auch Deutschland bevor. Den Slogan der Schwaben - Wir können alles außer Hochdeutsch - liest Trabant als ein Zeichen des Übergangs zu schweizerischen Verhältnissen." (S.353)
"Aber das ist doch wunderbar! Wir können in Venedig ein Hotelzimmer ohne unser Opernitalienisch buchen, in Lima nach dem Weg fragen, in Kyoto an einer Führung durch den kaiserlichen Garten teilnehmen. [...] Englisch ist das neue Latein [...]

Seit Europa den Nationalstaat erfunden hat, in dem die Losung ein Land, eine Sprache gilt, ist kaum eine Betrachtung der sprachlichen Lage frei von Empfindlichkeiten, die durchaus Neidniveau unter sonst ganz vernünftigen Menschen erreichen können. (S.354)

"Das Goethe-Institut (in der alten DDR das Herder-Institut) mit seinen 16 Inlands- und 150 Auslandsvertretungen in 78 Ländern bietet Sprachkurse an und wird gleichzeitig für die deutsche Kultur Seite (S.356)

Bei der umstrittenen Rechtschreibreform "beschlossen 1998 die Kultusminister (mit anschließender Bestätigung durch das Bundesverfassungsgericht), dass zur Verabschiedung keine parlamentarische Ermächtigung notwendig sei. Damit erhielt das Regelwerk amtlichen Charakter und ein gewinnorientiertes Verlagsunternehmen den Status einer "Behörde". [...]" (S.357)
"Nach einer Umfrage, die die Gesellschaft für deutsche Sprache 2008 beim Institut für Demoskopie Allensbach in Auftrag gegeben hat, wird die Reform von 9 Prozent der Bevölkerung befürwortet, von 55 Prozent dagegen abgelehnt (auch die große Zahl der meinungslosen spricht Bände: reine Kopfschüttler eben). Selbst wenn die meisten dieser Ablehner kaum wissen dürften, dass die deutsche Sprache in ihrer gesamten Entwicklung ohne behördliche Vorschriften auskam, darf man von einem fast "instinktiven" Vertrauen in die Kräfte der Selbstregulierung sprechen.

Dauerbrenner Anglizismen
Es gibt noch ein weiteres Problem von großer öffentlicher Beachtung, bei dem unsere professionellen Sprachbeobachter Stellung bezogen - gemeint sind die Anglizismen, die Aufnahme englischen Wortsgut in die deutsche Sprache [...]
Es stimmt, dass die Übernahme englischen Wortguts enorm zugenommen hat." (S.358)
"Die deutsche Sprache war lange Zeit künstlich von der internationalen Entwicklung ferngehalten worden und holt nun nach, was anderenorts bereits Normalität ist. Im Übrigen löst die gegenwärtige englische Dominanz nur die ältere französische ab [...]
Zwischen 1800 und 1980 schrumpfte der Anteil des Französischen innerhalb der Übernahmen insgesamt von über 58 Prozent auf 8 Prozent, der des englischen Stück von 8 
Prozent im Jahre 1800 auf 88 Prozent im Jahre 1980. [...]
80 
Prozent der sogenannten Anglizismen erwiesen sich als Wörter, die selbst im Griechischen, Lateinischen oder Romanischen wurzeln - man hat treffend von "Eurolatein" gesprochen. Viele übernommene Worte sind im übrigen schlicht Internationalismen, die fast in allen europäischen Sprachen zuhause sind und in gewissem Sinne die Vielfalt reduzieren. [...]" (S.359) 
"Die Allensbach-Umfrage von 2008 förderte eine ziemliche Gelassenheit der Deutschen gegenüber den Anglizismen zutage: Etwas mehr als ein Drittel fühlte sich von ihnen gestört, die Mehrheit jedoch sah in ihnen keine Gefahr, sondern eine Bereicherung.
Dies erscheint deshalb bemerkenswert, weil sich zeigt, dass der Versuch, Anglizismen mithilfe von Gesetzen ab zu wehren, eher kontraproduktiv ist. Das macht einen Blick auf unsere französischen Nachbarn deutlich." (S.359/60)
"Auch bei uns wurde nach der Bundestagswahl im November 2009 die Festschreibung der deutschen Sprache als Verfassungsgrundsatz diskutiert (als Ergänzung von § 22 des Grundgesetzes über die Bundesflagge). Jutta Limbach hat als ehemalige Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts darauf hingewiesen, dass mit einer Grundgesetzänderung nur eines provoziert würde - Tausende klagen pro Jahr. [...]
Nun mögen die Ängste angesichts der Anglizismen trotz ständigen Hochspielens in der Presse zu beschwichtigen sein. Aber die Ängste sitzen ja tiefer: Hinter dem Denglisch droht ja das Englische insgesamt mit Übernahme, und es gibt durch aus ein Terrain, auf dem sie tatsächlich bereits weitgehend vollzogen ist: in den Wissenschaften, besonders in den Naturwissenschaften. [...]
Am Faktum ist nichts mehr zu rütteln, gefragt sind allenfalls Abmilderungen [...]" (S.361) "Dabei geht es nicht nur um die Beteiligung von Wissenschaftlern, die nicht englische Muttersprachler sind, auch um die Vertretung einer anderen als nur angloamerikanischen Wissenschaftskultur mit einem anderen Sprachstil (weniger essayistisch), der in der globalisierten Gemeinschaft nicht wegfallen soll. [...]
Das heikelste Problem bei der Selbstbehauptung der deutschen Sprache im internationalen Sprachenkonzert liegt allerdings dort, wo ist die traditionell immer am schlechtesten aufgestellt war: In der Politik. [...]" 
In der EWG "dominierte das Französische als Arbeits- bzw. Verhandlungssprache.
Als 1973 Großbritannien beitrat, trat schlagartig das Englische an seine Stelle, wogegen die Franzosen einen ständigen, aber wenig erfolgreichen Kampf führten. Immerhin wurde das Französische zusammen mit dem Englischen Arbeitssprache, das Deutsche trotz der zahlenmäßigen Repräsentanz Deutschlands nicht." (S.361/62)
"Der Grund für diese heftig umstrittener Dominanz des Englischen ist letztlich einfach. Schon nach dem Zusammenbruch des Kommunismus, als die EU bei zwölf Mitgliedstaaten neun Amtssprachen besaß, belegen Berichte von Mitarbeitern ans Chaotische grenzende Verhältnisse. Damals waren 1200 Übersetzer und 650 Dolmetscher im Sprachdienst tätig, mit weiteren Hilfen zusammen 3000 Beamte, was ein Viertel aller EU-Beamten mit Hochschulausbildung ausmachte. [...]
Mittlerweile aber ist die EU auf 27 Mitgliedsstaaten mit 23 Amtssprachen von Bulgarisch bis Ungarisch angewachsen. Für die sich daraus ergeben denn 23 mal 22, also 506 Sprachkombinationen wurde die Zahl der Konferenzdolmetscher auf  800 (plus 2700 Freiberufler) aufgestockt. [...]
Wie dies funktioniert oder eben nicht, kann man nur erahnen. [...]
Mehrsprachigkeit wurde mit der "Akzeptanz des europäischen Gedankens" gleichgestellt
(S.363)
"Das Argument ist zu verstehen, die Vielsprachigkeit Europas ist wesentlich. Nur muss man sich fragen, ob ein symbolischer Ausdruck angemessen ist, wenn daraus erstens Chaos folgt und zweitens wiederum nur einige wenige von dieser Symbolik begünstigt werden. In einer Sprache muss man sich unterhalten, bei jeder weiteren wird die Rechtfertigung zum Eiertanz." (S.364)
"Ein anderes und besonders schwerwiegendes Problem spielt die Sprache der Nachbarn im eigenen Land. Mittlerweile leben in Deutschland mindestens 15 Millionen Personen mit Migrationshintergrund, darunter Deutsche aus dem Ausland ("Spätaussiedler"), nach Deutschland Eingewanderte mit eigener Migrationserfahrung und Deutsche mit Migrationshintergrund durch ihre Eltern. Die daraus resultieren denn Sprachprobleme wurden lange Zeit nicht erkannt bzw. nicht genügend berücksichtigt. Vor allem bei der zahlenmäßig besonders starken Gruppe von Personen mit türkischem Migrationshinter-grund [...] mangelte es an geeigneten Angeboten in beiden Richtungen: Das Lernen der deutschen Sprache wurde zu wenig gefördert, aber auch der Unterricht in der eigenen Muttersprache blieb vernachlässigt. [...]
Die Problematik gerade deutsch-türkischer Kinder ist dabei vielfach beschrieben worden
Seyran Ateş hat in Büchern wie der Multi-Kulti-Irrtum gezeigt, wie sehr Integration von Sprachkenntnissen abhängt [...]
Nicht die Ausbildung einer türkischen Identität führt in eine Parallelgesellschaft, sondern der Mangel an Akzeptanz dieser Identität in der Aufnahmegesellschaft." (S.368/69)

Das Einwanderungsland Australien machte Erfahrungen mit verschiedenen Integrationsstrategien: "äußert negative mit einer aggressiven Assimilierungspolitik und äußerst positive mit der Wende zu Mehrsprachigkeit und Multikulturalität. [...]
Für eine solche Erkenntnis muss man im Übrigen nicht nach Australien gehen, ein Blick auf die Schweiz genügt, um zu sehen, dass Nationen mit verschiedenen Sprachen zurechtkommen." (S.370)

Vor dem 19. Jahrhundert war Deutschland "Mehrsprachigkeit gewöhnt, um 1800 sprach jeder Gebildete Französisch. Und wer noch ein paar Jahrhunderte weiter zurückgeht, stößt auf Latein. Was heute neu ist, ist die "Demokratisierung" der 
Mehrsprachigkeit, eine Mehrsprachigkeit, die nicht von den Gebildeten ausgeht, sondern von der Globalisierung allen aufgezwungen wird. Gut, dass die deutsche Sprache dies in einem Moment erlebt, in dem sie selbst gefestigt ist.
Im 18. Jahrhundert traf die Mehrsprachigkeit zusammen mit einem noch ziemlich bunten Dialektgemisch, mit einer reichlich unausgegorenen Hochsprache. Von Goethe gibt es Bemerkungen, er habe an den Unvollkommenheiten der deutschen Sprache gelitten. Davon kann heute nicht die Rede sein, jedenfalls leiden Grass und Co. höchstens an der Rechtschreibreform." (S.371)

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