28 Mai 2018
Ungestilltes Sehnen und Sehnsucht nach dem Tod in der Romantik
mehr dazu: von baucolo
25 Mai 2018
Der Vergangenheit entkommen (oder nicht) - Die Woche mit Frau Cresspahl
"Heinrich Cresspahl bekommt in Jerichow Besuch aus vergangenen Zeiten, Mrs. Ferwalter wird derweil in New York zur amerikanischen Staatsbürgerin und schafft sich so ein weiteres „Bollwerk gegen die Vergangenheit“. Sie feiert mit Marie und Gesine Cresspahl und fragt, ob denn der Film „Der fünfte Reiter ist die Angst“ nicht etwas wäre. Das verneint Gesine, die von den Stimmen der Toten nun darüber aufgeklärt wird, was mit dem Titel des Films gemeint ist."
"„Oft war sie mutlos, eine alte Frau, das Gehirn von zerpflügt von Nervenzucken und Schlaflosigkeit, nicht mehr zum Lernen imstande, und ließ sich trösten wie ein Kind. Wenn es uns nicht gelang, verabschiedete sie sich mit langem Händedruck, das Gesicht beiseite, ging traurig und ungelenk davon auf den Beinen, die die Deutschen und Österreicher ihr kaputt gemacht haben“.
Sieh auch:
Auslassungen
23 Mai 2018
Philip Roth
https://de.wikipedia.org/wiki/Philip_Roth (Wikipedia)
http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/interview-der-tag-als-philip-roth-anrief-1255500.html?printPagedArticle=true#pageIndex_0 (Interview)
http://www.faz.net/aktuell/gesellschaft/philip-roth-ist-tot-15602967.html (Video)
http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/der-schriftsteller-philip-roth-ist-gestorben-15602823.html
18 Mai 2018
Jean-Paul Sartre: Die Wörter
Trotzdem las ich auch richtig: außerhalb des Sanktuariums, in unserem Zimmer oder unter dem Tisch im Esszimmer; von diesem richtigen Lesen redete ich zu niemand, und niemand, außer meiner Mutter, redete darüber mit mir. Anne-Marie hatte meine gespielten Leidenschaften ernst genommen. Sie wurde unruhig und sprach darüber mit ihrer Mutter. Meine Großmutter war eine zuverlässige Verbündete und sagte: "Charles ist unvernünftig. Er drängt den Kleinen, ich habe es gesehen. Wenn es so weitergeht, wird das Kind ganz austrocknen." Die beiden Frauen brachten auch die Überanstrengung und die Gefahr einer Gehirnhautentzündung ins Spiel. Es wäre gefährlich und müßig gewesen, meinen Großvater unmittelbar anzugreifen: sie versuchten es auf Umwegen. Bei einem unserer Spaziergänge blieb Anne-Marie wie zufällig vor dem Zeitungskiosk stehen, der sich auch heute noch an der Ecke des boulevard Saint-Michelle und der rue Soufflot befindet: ich sah wunderbare Bilder, war fasziniert von ihren schreienden Farben, wollte sie haben, bekam sie; der Streich war geglückt: nun verlangte ich jede Woche nach 'Cri-Cri' oder den 'Drei Pfadfindern' von Jean de la Hire oder nach der 'Weltreise im Aeroplan' von Arnould Galopin, von denen jeden Donnerstag Fortsetzungsheftchen zu erscheinen pflegten." (Sartre: Die Wörter, S. 42-43)
Vermutlich habe ich den rororo Taschenbuchband, nach dem ich zitiere, in den Jahren 1965/1966 das erste und letzte Mal gelesen.
Ich erinnerte mich nur daran, dass Sarte beschrieb, dass er als kleines Kind - ganz von Büchern umgeben - in einer umfangreichen Bibliothek gelesen habe. Die merkwürdigen Umstände des gemeinsamen "Kinderzimmers" mit seiner verwitweten Mutter, die zerstrittene Ehe der Großeltern, die gegenüber seiner Mutter aber unangreifbare Autoritäten verkörperten, Sartrs Verwandtschaft mit Albert Schweitzer erinnerte ich nicht.
In den Band hatte ich einen Zeitungsartikel der FAZ vom 8.1.1977 mit dem Anfang von Sartres psychoanalytisch Flaubert deutenden Biografie (L'idiot de la famille) eingelegt.
Vermutlich hat Sartre besonders angesprochen, dass Flaubert angeblich erst sehr spät lesen gelernt hat, während er schon sehr früh Corneille und Flaubert gelesen hat, wenn auch ohne jedes literarische Verständnis, so doch mit großer Faszination von dem Bücherkult.
Sartre zitiert einen Brief des neunjährigen Flaubert an seinen Freund, Ernest Chevalier, in dem er schreibt, er werde ihm "von meinen Komödien schicken" und ihm anbietet, eine Autorengemeinschaft zu gründen. - Die ganz unterschiedlichen Motivationen, die Kinder im Grundschulalter dazu motivieren, im Sinne des Schriftstellerns zu "schreiben".
Bemerkenswert die Parallelität der Faszination durch Wörter bei Sartre und Ulla Hahn, ohne dass diese (meiner Beobachtung nach) die geringste Anspielung auf Sartre macht, trotz ihrer Liebe zu literarischen Bezügen. (vgl. Hahn: Das verborgene Wort und Rätsel)
13 Mai 2018
Gesine Cresspahl und ihre Tochter Marie streiten über mögliche Lösungen durch Protest.
Etgar Keret
Ein Interview mit Etgar Keret in der FR vom 12./13.5.18, S. 32/33
Darin heißt es u.a.:
"Für mich sind die Ultraorthodoxen im Land nicht das Hauptproblem, die Nationalreligiösen sind es. Die Orthodoxen wollen leben, wie sie es für richtig halten. Sie wollen mich nicht bekehren. Während die Rechten, die Nationalreligiösen [!] verlangen, dass alle das Gleiche sagen und man keine Kritik übt. Sie begründen das mit der Einheit israels, aber diese Gleichmacherei hat etwas faschistisches. [!] [...] An israelischen Universitäten soll jetzt eine Art ethischer Code eingeführt werden. Was nichts anderes heißt, dass man nicht seine politische Meinung sagen darf. Und die Orthodoxen machen das alles nicht mit."
"Privat geht vor Katastrophe – dieser Spruch funktioniert in diesem Land nicht. Das eigene Leben und das Unglück draußen sind miteinander verwoben, man kann nichts dagegen tun. Davon erzählen die autobiografischen Vater-und-Sohn-Geschichten Kerets in leichtem, ironisch-humorvollen Ton. „Sag mal“, fragt eine Mutter Etgar Keret auf dem Spielplatz, „wird Lev in die Armee eintreten, wenn er groß ist?“ Lev ist da zwei Jahre alt, und Keret kommt es ein bisschen früh vor, sich darüber Gedanken zu machen. Über anderes dagegen denkt Etgar Keret sehr wohl nach, etwa darüber, wie man die unvermeidbaren Unglücke und Katastrophen verbrämen, wie man sie für sein Kind verkleiden kann. Als eine Sirene erklingt, die vor den Raketen der Hisbollah warnt, spielen sie Pastrami-Sandwich, statt sich einfach auf den Boden zu werfen: Mama ist unten, Lev in der Mitte und Papa oben. Wie lustig! Und wie quälend!
Etgar Keret: Plötzlich klopft es an der Tür. Stories. Frankfurt am Main 2012.
08 Mai 2018
Goethe und Thomas Mann
Thomas Mann nimmt das zum Anlass, anzudeuten, dass mit Schiller und Dostojewski zwei ein vergleichbar unterschiedliches wie ähnliches Paar vorhanden sei wie Goethe und Tolstoi.
So viel zur Erinnerung an diesen Aufsatz, der mich zum Thema "Goethe und Thomas Mann" anregte.
Auch hier eine Fülle von Unterschieden, diesmal gewiss auch in Fragen des Ranges. Aber die Gemeinsamkeiten: das Geheimratsmäßige, das Gefühl Repräsentant zu sein, das Heine und Brecht abstieß, das doch Kehrseite der gewaltigen Leistung des "sich-Zähmens"* war, das zusammen mit dem ungeheuren Fleiß die Voraussetzung für das erstaunliche Lebenswerk war.
Weitere Ähnlichkeiten hat Thomas Mann in seinem Goethe-Roman "Lotte in Weimar" angedeutet. Ich will da nicht Eulen nach Athen tragen.
Diese Anmerkungen stehen hier für mich als Erinnerung an meine Lektüre und für andere als Empfehlung, wenn sie denn ein Interesse an solchen - immer auch ziemlich gesuchten - Parallelitäten haben.
Größe und Zeitbedingtheit des Thomas Mannschen Stils inbegriffen.
* "Er wusste sich nicht zu zähmen, und so zerrann ihm sein Leben wie sein Dichten" hat Goethe über Johann Christian Günther gesagt.
Hier starb ein Schlesier, weil Glück und Zeit nicht wollte,
Daß seine Dichterkunst zur Reife kommen sollte:
Mein Pilger ließ geschwind und wandre deine Bahn,
Sonst steckt dich auch sein Staub mit Lieb und Unglück an.
(selbstverfasste Grabschrift von Johann Christian Günther)
Weitere Bezüge:
Goethe: Faust - Th. Mann: Dr. Faustus
Goethe - Max Frisch
Goethes Grab und Tolstois (Dazu: Stefan Zweig)
Christine Brückner: Jauche und Levkojen
Als Fontanefan habe ich das Buch mit Genuss gelesen. Fontaneanspielungen (in diesem Fall vornehmlich auf Effi Briest) gefallen mir wie in "Weites Feld" von Grass natürlich immer.
Sprechende Namen wie bei Blaskorken (S.96), dem Waldhornspieler und Jäger - auch Schürzen -, nicht immer, aber als Huldigung auf Ziegenhals und Bomst lese ich sie gern. Später mehr über die Zweit- oder Drittlektüre.
*Der Tag hing grau in Wolken und war doch schwül und schwer,
Die blauen Blitze flammten nachts über die Gärten her,
Das Korn stand reif im Felde, und goldner war es nie, –
Ich bog dem Gott der Liebe mit Zittern meine Knie.
Die Sommernelken blühten und prangten purpurrot,
die ich mir damals pflückte, sind nun verdorrt und tot.
Der Gott, vor dem ich kniete, er schritt an mir vorbei,
ihm nach durch graue Leere ging meiner Sehnsucht Schrei. –
In gelbe Lindenwipfel stößt nun der nasse Wind,
ich gehe stille Wege, die menschenferne sind;
die Stirne, die ich senkte in Tränen und im Traum,
streift wieder eines Gottes dunkler Mantelsaum.
Und zwischen letzten Garben, die goldener Herbst beschert,
im Dampf gepflügter Scholle, die junger Saat begehrt,
das strenge Haupt erhoben in freier Winde Wehn,
seh' ich mit starken Füßen den Gott der Arbeit gehn.
Der du gebietend schreitest durch Sichelklang und Saat,
sich mühen heißt dir beten, und Andacht ist die Tat!
Im Werke meiner Hände hör' meiner Sehnsucht Schrei:
Du Gott, zu dem ich bete, – Herr, geh' mir nicht vorbei!
Lulu von Srauß und Torney
Doch welche Sprachbeherrschung, welcher Formwille und was für ein Ethos, das Arbeit über die Liebe stellt. Es wird seine Gründe gehabt haben, weshalb Christine Brückner ihre Heldin Maximiliane diese Verse im Gedächtnis haben lässt.
Nun die ganze Stelle, in der Brückner sie anführt:
Man versucht ihr beizubringen, wie eine einfache Mehlschwitze nach einem komplizierten Rezept herzustellen sei, nicht mit 'zwei Esslöffeln' Mehl, sondern mit '50 Gramm Mehl', nicht 'ein Stich Butter', sondern 20 Gramm Pflanzenmargarine; Anna Riepe hatte sie bereits für Rezepte verdorben. sie blieb im Kochunterricht und auch in anderen Fächern eine mittelmäßige, jedoch willige, oft begeisterte und im ganzen beliebte Schülerin.
07 Mai 2018
Gerd Gaiser: Schlußball
http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-41759625.html
- "Diese Welt, dachte ich, wäre kaum auszuhalten. Aber diese Welt, in der unaufhörlich nach Glück gestrebt wird, die voll ist von Glücks-Offerten, lauter Glücksartikeln zu Tagespreisen und von erster Marke, Glück durch Nagelpflege und Klangmöbel, Glück durch Busen, Ventilation und Vitamine, durch Wunscherfüllungen, Rasierwasser und seelische Entschlackung - sie läßt sich ertragen von einem Augenblick an, in dem man den Wahn besiegt hat, des Morgens müsse ein Glück neben der Uhr auf dem Tisch liegen." - Schlußball, Carl Hanser Verlag, München 1958, S. 272
- "Trotzdem warte ich und stehe morgens auf. Ich weiß nicht, was ich bin und wozu, und worauf ich warte. Aber ich warte noch." - Gerd Gaiser, Schlußball, Carl Hanser Verlag, München 1958, S. 273
Der Prolog beginnt:
"Nicht die Nacht, in der Neu-Spuhl verworfen wurde, nicht die Nacht, in der es unterging. Gesund in seiner Wirtschaft, kann Neu-Spuhl noch lange stehen."
und schließt:
"Solche Nächte kommen viele. Jeder bekommt seine Schuld. Die Welt ist eng, aber im Pfuhl rühren sich die Larven. Larve, Puppe, Imago. Einmal bleibt die Hülle zurück. Imago; die Flügel zittern. Sie straffen sich. Was wird sein? Aber: was ist gewesen?"
Walsers Ehen in Philippsburg habe ich 1963/64 gelesen und weit besser und als weit besser in Erinnerung. In meinem Lektüretagebuch keine Notiz zum Schlußball.
Aber die Neugier auf das Buch ist geweckt.
Jetzt habe ich es mir angesehen. Es ist nicht das Geschehen, nicht die klischeehafte Gesellschaftskritik, nicht die Edelmenschen, was mir peinlich ist. Es ist die spezifische Art, wie sie präsentiert werden, die mich an Blut-und-Boden Edelmenschen erinnert. Auch Böll hat seine Charaktere, deren Empfindlichkeit und Selbstansprüche ihnen zur Ehre gereichen sollen (vgl. "Die verlorene Ehre ... oder Uwe Johnson); aber das heute schwer erträgliche auf germanische Tugenden getrimmte Pathos.
Dabei weiß Gaiser Interesse und Einfühlung zu wecken, die Charaktere sind nur eingeschränkt klischeehaft.
05 Mai 2018
Poetischer Realismus
Und bloß, um nichts vom Häßlichen zu leiden,
Denn niemals hat’s der Maler noch gesehen."
Das Hässliche soll durch Kunst veredelt werden. Der poetische Realist sieht die Wirklichkeit und verwandelt sie. In diesem Falle, indem er eine Empfindung ausformuliert und in strenger Form, einem Sonett, gestaltet
Dem Maler Gurlitt unterstellt Hebbel, dass er es fertigbringe, es gar nicht erst zu sehen.
So meine Sicht.
Es folgt das vollständige Gedicht und ein Link zu Lesung und Interpretation in der Frankfurter Anthologie:
Friedrich Hebbel:
„An meinen Freund Gurlitt“
Der Steiermark vom Berg herab erblickte
Und im Empfindungswirbel fast erstickte,
Weil mir die Kraft gebrach, ihn abzuleiten.
Den Künstlerblick so oft schon siegreich schickte
Und sicher war, daß keine ihn verstrickte,
Vermag auch dort mit der Natur zu streiten.
Doch könnt’ ich dir das Auge fast beneiden,
Vor dem des Chaos Formen nicht bestehen.
Und bloß, um nichts vom Häßlichen zu leiden,
Denn niemals hat’s der Maler noch gesehen.
02 Mai 2018
Zur heutigen Situation der deutschen Sprache
"Das Alaska Native Language Center sagt voraus, dass von den derzeit schätzungsweise 6000 gesprochenen Sprachen auf der Erde in den nächsten 100 Jahren 90 Prozent entweder ausgestorben seien oder unmittelbar davorstünden. (S.352)
In der Schweiz sei an die Stelle des Hochdeutschen als Hochsprache Englisch getreten.
"Für Business und alle weiteren Kommunikationen Globalesisch für den Nahbereich der Familie Dialekt. Genau das stehe auch Deutschland bevor. Den Slogan der Schwaben - Wir können alles außer Hochdeutsch - liest Trabant als ein Zeichen des Übergangs zu schweizerischen Verhältnissen." (S.353)
"Aber das ist doch wunderbar! Wir können in Venedig ein Hotelzimmer ohne unser Opernitalienisch buchen, in Lima nach dem Weg fragen, in Kyoto an einer Führung durch den kaiserlichen Garten teilnehmen. [...] Englisch ist das neue Latein [...]
Seit Europa den Nationalstaat erfunden hat, in dem die Losung ein Land, eine Sprache gilt, ist kaum eine Betrachtung der sprachlichen Lage frei von Empfindlichkeiten, die durchaus Neidniveau unter sonst ganz vernünftigen Menschen erreichen können. (S.354)
"Das Goethe-Institut (in der alten DDR das Herder-Institut) mit seinen 16 Inlands- und 150 Auslandsvertretungen in 78 Ländern bietet Sprachkurse an und wird gleichzeitig für die deutsche Kultur Seite (S.356)
Bei der umstrittenen Rechtschreibreform "beschlossen 1998 die Kultusminister (mit anschließender Bestätigung durch das Bundesverfassungsgericht), dass zur Verabschiedung keine parlamentarische Ermächtigung notwendig sei. Damit erhielt das Regelwerk amtlichen Charakter und ein gewinnorientiertes Verlagsunternehmen den Status einer "Behörde". [...]" (S.357)
"Nach einer Umfrage, die die Gesellschaft für deutsche Sprache 2008 beim Institut für Demoskopie Allensbach in Auftrag gegeben hat, wird die Reform von 9 Prozent der Bevölkerung befürwortet, von 55 Prozent dagegen abgelehnt (auch die große Zahl der meinungslosen spricht Bände: reine Kopfschüttler eben). Selbst wenn die meisten dieser Ablehner kaum wissen dürften, dass die deutsche Sprache in ihrer gesamten Entwicklung ohne behördliche Vorschriften auskam, darf man von einem fast "instinktiven" Vertrauen in die Kräfte der Selbstregulierung sprechen.
Dauerbrenner Anglizismen
Es gibt noch ein weiteres Problem von großer öffentlicher Beachtung, bei dem unsere professionellen Sprachbeobachter Stellung bezogen - gemeint sind die Anglizismen, die Aufnahme englischen Wortsgut in die deutsche Sprache [...]
Es stimmt, dass die Übernahme englischen Wortguts enorm zugenommen hat." (S.358)
Zwischen 1800 und 1980 schrumpfte der Anteil des Französischen innerhalb der Übernahmen insgesamt von über 58 Prozent auf 8 Prozent, der des englischen Stück von 8 Prozent im Jahre 1800 auf 88 Prozent im Jahre 1980. [...]
80 Prozent der sogenannten Anglizismen erwiesen sich als Wörter, die selbst im Griechischen, Lateinischen oder Romanischen wurzeln - man hat treffend von "Eurolatein" gesprochen. Viele übernommene Worte sind im übrigen schlicht Internationalismen, die fast in allen europäischen Sprachen zuhause sind und in gewissem Sinne die Vielfalt reduzieren. [...]" (S.359)
Dies erscheint deshalb bemerkenswert, weil sich zeigt, dass der Versuch, Anglizismen mithilfe von Gesetzen ab zu wehren, eher kontraproduktiv ist. Das macht einen Blick auf unsere französischen Nachbarn deutlich." (S.359/60)
Nun mögen die Ängste angesichts der Anglizismen trotz ständigen Hochspielens in der Presse zu beschwichtigen sein. Aber die Ängste sitzen ja tiefer: Hinter dem Denglisch droht ja das Englische insgesamt mit Übernahme, und es gibt durch aus ein Terrain, auf dem sie tatsächlich bereits weitgehend vollzogen ist: in den Wissenschaften, besonders in den Naturwissenschaften. [...]
Am Faktum ist nichts mehr zu rütteln, gefragt sind allenfalls Abmilderungen [...]" (S.361) "Dabei geht es nicht nur um die Beteiligung von Wissenschaftlern, die nicht englische Muttersprachler sind, auch um die Vertretung einer anderen als nur angloamerikanischen Wissenschaftskultur mit einem anderen Sprachstil (weniger essayistisch), der in der globalisierten Gemeinschaft nicht wegfallen soll. [...]
Das heikelste Problem bei der Selbstbehauptung der deutschen Sprache im internationalen Sprachenkonzert liegt allerdings dort, wo ist die traditionell immer am schlechtesten aufgestellt war: In der Politik. [...]"
Als 1973 Großbritannien beitrat, trat schlagartig das Englische an seine Stelle, wogegen die Franzosen einen ständigen, aber wenig erfolgreichen Kampf führten. Immerhin wurde das Französische zusammen mit dem Englischen Arbeitssprache, das Deutsche trotz der zahlenmäßigen Repräsentanz Deutschlands nicht." (S.361/62)
"Der Grund für diese heftig umstrittener Dominanz des Englischen ist letztlich einfach. Schon nach dem Zusammenbruch des Kommunismus, als die EU bei zwölf Mitgliedstaaten neun Amtssprachen besaß, belegen Berichte von Mitarbeitern ans Chaotische grenzende Verhältnisse. Damals waren 1200 Übersetzer und 650 Dolmetscher im Sprachdienst tätig, mit weiteren Hilfen zusammen 3000 Beamte, was ein Viertel aller EU-Beamten mit Hochschulausbildung ausmachte. [...]
Mittlerweile aber ist die EU auf 27 Mitgliedsstaaten mit 23 Amtssprachen von Bulgarisch bis Ungarisch angewachsen. Für die sich daraus ergeben denn 23 mal 22, also 506 Sprachkombinationen wurde die Zahl der Konferenzdolmetscher auf 800 (plus 2700 Freiberufler) aufgestockt. [...]
Wie dies funktioniert oder eben nicht, kann man nur erahnen. [...]
Mehrsprachigkeit wurde mit der "Akzeptanz des europäischen Gedankens" gleichgestellt
(S.363)
"Das Argument ist zu verstehen, die Vielsprachigkeit Europas ist wesentlich. Nur muss man sich fragen, ob ein symbolischer Ausdruck angemessen ist, wenn daraus erstens Chaos folgt und zweitens wiederum nur einige wenige von dieser Symbolik begünstigt werden. In einer Sprache muss man sich unterhalten, bei jeder weiteren wird die Rechtfertigung zum Eiertanz." (S.364)
"Ein anderes und besonders schwerwiegendes Problem spielt die Sprache der Nachbarn im eigenen Land. Mittlerweile leben in Deutschland mindestens 15 Millionen Personen mit Migrationshintergrund, darunter Deutsche aus dem Ausland ("Spätaussiedler"), nach Deutschland Eingewanderte mit eigener Migrationserfahrung und Deutsche mit Migrationshintergrund durch ihre Eltern. Die daraus resultieren denn Sprachprobleme wurden lange Zeit nicht erkannt bzw. nicht genügend berücksichtigt. Vor allem bei der zahlenmäßig besonders starken Gruppe von Personen mit türkischem Migrationshinter-grund [...] mangelte es an geeigneten Angeboten in beiden Richtungen: Das Lernen der deutschen Sprache wurde zu wenig gefördert, aber auch der Unterricht in der eigenen Muttersprache blieb vernachlässigt. [...]
Die Problematik gerade deutsch-türkischer Kinder ist dabei vielfach beschrieben wordenSeyran Ateş hat in Büchern wie der Multi-Kulti-Irrtum gezeigt, wie sehr Integration von Sprachkenntnissen abhängt [...]
Nicht die Ausbildung einer türkischen Identität führt in eine Parallelgesellschaft, sondern der Mangel an Akzeptanz dieser Identität in der Aufnahmegesellschaft." (S.368/69)
Das Einwanderungsland Australien machte Erfahrungen mit verschiedenen Integrationsstrategien: "äußert negative mit einer aggressiven Assimilierungspolitik und äußerst positive mit der Wende zu Mehrsprachigkeit und Multikulturalität. [...]
Für eine solche Erkenntnis muss man im Übrigen nicht nach Australien gehen, ein Blick auf die Schweiz genügt, um zu sehen, dass Nationen mit verschiedenen Sprachen zurechtkommen." (S.370)
Vor dem 19. Jahrhundert war Deutschland "Mehrsprachigkeit gewöhnt, um 1800 sprach jeder Gebildete Französisch. Und wer noch ein paar Jahrhunderte weiter zurückgeht, stößt auf Latein. Was heute neu ist, ist die "Demokratisierung" der Mehrsprachigkeit, eine Mehrsprachigkeit, die nicht von den Gebildeten ausgeht, sondern von der Globalisierung allen aufgezwungen wird. Gut, dass die deutsche Sprache dies in einem Moment erlebt, in dem sie selbst gefestigt ist.
Im 18. Jahrhundert traf die Mehrsprachigkeit zusammen mit einem noch ziemlich bunten Dialektgemisch, mit einer reichlich unausgegorenen Hochsprache. Von Goethe gibt es Bemerkungen, er habe an den Unvollkommenheiten der deutschen Sprache gelitten. Davon kann heute nicht die Rede sein, jedenfalls leiden Grass und Co. höchstens an der Rechtschreibreform." (S.371)
Hier mehr zum und aus dem Buch