Als
Anita Gantlik in die neunte Klasse der Fritz-Reuter-Schule eintritt,
muss sie schon lange auf eigenen Füßen stehen. Mutter und
Geschwister sind bei Kriegsende ums Leben gekommen, als Elfjährige
wurde sie von drei russischen Soldaten vergewaltigt. Sie hat einen
Vater, „der sie zurückließ in der bäuerlichen Knechtschaft und
seinen Sold von der Polizei in Jerichow für sich behielt, als
wünsche er der Tochter ein Verkommen und Verrecken“. Diesem Vater
verdankt sie auch ihre Staatsbürgerschaft, denn der
Nazi-Sympathisant hatte seine polnische Familie nach der Besetzung
Polens zu „Reichsbürgern“ erklären lassen, „weil ihm das
gefällt, wie deutsche Panzer ein deutsches Dorf flachlegen“.
Dennoch
schafft Anita es auf die Oberschule in Gneez, und sie schafft es
auch, aus der bäuerlichen Knechtschaft herauszukommen, denn sie
übersetzt für die russischen Soldaten, auch während der
Schulstunden. [...]
Als
bei ihr im Alter von sechzehn Jahren eine verschleppte Gonorrhoe
festgestellt wird, behandelt sie in der Seuchenbaracke eine Ärztin,
„die konnte sie sich leicht vorstellen mit einem Hakenkreuz am
Kittel. Denn Anita wurde angefahren, als sei sie schuld, weil eine
andere zu Tage getreten war. […] Anita wurde beglückwünscht, weil
sie davongekommen war ohne Schmerzen: – stellen Sie sich nicht so
an.“ Diese Wort richten sich an eine Sechzehnjährige, deren
Diagnose bedeutet, sie wird keine Kinder bekommen können. Anita
läuft aus der Seuchenbaracke davon und liegt die ganzen Sommerferien
über krank im Bett. Danach befreit sie sich vom Opfertum ihrer
Tante, schließt ihr Zimmer ab und trägt Kleider erwachsener Frauen,
„mit Stoffen aus Wolle und reiner Rohseide“, auf
Annäherungsversuche reagiert sie kühl mit der Frage: „Wozu?“
[...]
Anitas
Bekanntschaft mit Gesine verläuft zögernd und muss lange ohne das
Geständnis einer Freundschaft auskommen. Anita fühlt sich fremd an
der neuen Schule, zu ihren Mitschüler*innen sagt sie die falschen
Dinge, und sie orientiert sich nicht an der eigenen Klasse, sondern
an den Jahrgängen darüber: „Haben wir einander bekannt, als
Freudinnen bestimmt zu sein? Wir haben uns gehütet.“ [...]
Erst
als Anita 1952 nach Westberlin gegangen ist, gestehen Gesine und sie
sich ihre Freundschaft, und Anita ist ihr eine gute Freundin:
„Als
Jakob zu Tode gekommen und begraben war, betrug Anita sich harsch zu
mir, die Patin. Sie meinte, eine Anwesenheit auf dem Friedhof wäre
mir nützlich gewesen.“
Zu
Anitas Verdruss tritt Gesine aus der Kirche aus, wird Marie nicht
getauft, doch das Patenamt für die vaterlose Tochter ihrer Freundin
tritt sie trotzdem an, denn „wenn sie enttäuscht war und betrübt“
über die Nicht-Mitgliedschaft in der evangelischen Kirch, „so
unsretwegen.“ Vor beider Umzug nach New York besuchen sie Anita in
Westberlin, weil Gesine den „Emigranten aus karelischen Landen“
begutachten soll, der Anita heiraten will. Vor allem will die wissen,
ob er die Kinderlosigkeit tatsächlich wird ertragen können, zu der
ihre Geschlechtskrankheit sie verdammt hat. Das Urteil der Freundin
fällt offensichtlich positiv aus, denn die Hochzeit mit Aggie
Brüshaver als zweiter Trauzeugin und Alex im Konfirmationsanzug wird
eine festliche Angelegenheit.
„Marie
dachte an Berlin noch lange als eine von windigem Sonnenlicht
durchflutete Stadt, dahin fährt man zum Heiraten.“
(FAZ 28.7.18)
(FAZ 28.7.18)
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