Achtes Kapitel
Emanuel wurde zunächst im Gefängnis des Amtsgerichts seiner Kreisstadt inhaftiert. Er sollte sich wegen Vagabundierens, wegen Kurpfuscherei und Verübung öffentlichen Unfugs in wiederholten Fällen verantworten. Das Verhör setzte aber den Richter mehr als Emanuel in Verlegenheit, denn er konnte, trotz aller Fragen, das Zugeständnis der zu erweisenden strafbaren Handlungen aus dem Beklagten weder herausbekommen noch sich auf andere Weise davon überzeugen. »Sie maßen sich an, Kranke, und wären sie mit unheilbaren Übeln behaftet, gesund zu machen?« hatte die erste Frage des Richters gelautet: die Antwort aber lautete: »Nein!« – »Sie pflegen unwissenden Leuten weiszumachen, daß Sie gleichsam in einer besonderen Sendung von Gott auf dieser Erde erschienen seien. Wollen Sie diese Behauptung auch mir gegenüber aufrechterhalten?« [...]
Emanuel wurde zunächst im Gefängnis des Amtsgerichts seiner Kreisstadt inhaftiert. Er sollte sich wegen Vagabundierens, wegen Kurpfuscherei und Verübung öffentlichen Unfugs in wiederholten Fällen verantworten. Das Verhör setzte aber den Richter mehr als Emanuel in Verlegenheit, denn er konnte, trotz aller Fragen, das Zugeständnis der zu erweisenden strafbaren Handlungen aus dem Beklagten weder herausbekommen noch sich auf andere Weise davon überzeugen. »Sie maßen sich an, Kranke, und wären sie mit unheilbaren Übeln behaftet, gesund zu machen?« hatte die erste Frage des Richters gelautet: die Antwort aber lautete: »Nein!« – »Sie pflegen unwissenden Leuten weiszumachen, daß Sie gleichsam in einer besonderen Sendung von Gott auf dieser Erde erschienen seien. Wollen Sie diese Behauptung auch mir gegenüber aufrechterhalten?« [...]
Zwei Tage nachher befand sich Quint in einer nahen Irrenanstalt zur Beobachtung. Ein Assistenzarzt stellte die sonderbarsten Fragen an ihn. Er wollte wissen, wie alt er sei. Er wollte das Datum des gegenwärtigen Tages wissen, die Jahreszahl. Er gab ihm Rechenexempel auf. Er vergewisserte sich, ob Quint die Uhr kannte. Er führte den armen Menschen ans Fenster und ließ ihm das Licht in die Augen fallen, um festzustellen, ob die Pupille sich verengte, was richtig geschah. Und plötzlich nahm er, gleichsam in einer Anwandlung von Mitleid und Menschenfreundlichkeit, ein blankes Markstück aus seiner Geldbörse und händigte es Emanuel ein. Es rollte aber gleich darauf aus der Rechten des Narren zur Erde herunter. Nun zeigte sich allerdings, daß Quint zwar auf Befehl des Arztes das Geld von der Erde hob, aber auch, wie er es unter keiner Bedingung annehmen und behalten wollte. Ihn dennoch dahin zu vermögen, gelang dem Arzte durch keinerlei List: er drohte, er lachte, er stellte sich zornig, er gab schließlich vor, beleidigt zu sein. Quint beharrte bei seiner Weigerung. Alsdann nach der Ursache seines Betragens gefragt, sagte er, er möchte um keinen Pfennig reicher als unser Heiland auf Erden sein. Es schien beinahe, als wollte er mehr sagen, aber da faßte ihn schon ein Wärter an, und der Arzt hatte sich bereits einer schreienden Patientin zugewandt, die einige Wärterinnen in weißen Schürzen nur mit Mühe festhalten konnten. Quint wurde in seine Zelle zurückgeführt. Das psychiatrische Gutachten hatte die Ansicht vertreten, daß der pp. Quint zu den Sonderlingstypen gehöre, im übrigen aber als gesund und höchstens mit Zeichen leichten Schwachsinns behaftet anzusprechen wäre: doch könne man ihm die volle Verantwortung für seine Handlungen schwerlich aufbürden, weshalb er am besten in die Hut des elterlichen Hauses zu stellen und ganz besonderer Aufsicht zu empfehlen sei. [...]
In dieser ihm vertrauten, heimischen Gegend überfiel den armen Emanuel mehr und mehr eine fürchterliche Beängstigung. Der Gendarm, der vollkommen gleichgültig war, dachte auch nicht entfernt daran, als er sah, wie Quint seine Lippen bewegte, daß sich nur immer mit Inbrunst der eine Anruf: »Mein Gott, mein Gott!« aus seinem gequälten Inneren freimachen wollte. Das Grauen aber nahm zu in der Seele Quints. Es kam ihm vor, als müsse er mit jedem Schritt, von Stufe zu Stufe, in ein unterirdisches, lichtloses Foltergewölbe hinuntersteigen, wo jede Hoffnung, jeder Glaube und alle Liebe seit Jahrmillionen erloschen ist. Es kam ihm vor, als wenn Jesus Christus dort unten vollkommen machtlos sei, und seine Seele wand sich in Zweifeln. Sollen wir einen Augenblick bei dem eigentümlichen Zustand verweilen, der das Wesen des sonderbaren Schwärmers ergriff, beengte und gleichsam rückbildete, so sei erinnert, wie sehr die Welt der Jugend an den Kreis von Sinneseindrücken gebunden bleibt, die wir im Heimatskreise empfangen haben, und wie diese Welt, auch wenn sie lange versunken gewesen ist, durch die alten Eindrücke bis zu einem qualvollen oder, je nachdem, beseligenden Grade wieder gegenwärtig gemacht werden kann. Emanuel war unter dem Drucke der ausgesuchten Verachtung seiner Umwelt herangewachsen. Verachtung schien ihm das natürliche Erbe des Menschen zu sein. Ohne daß er jemals davon ein besonderes Wesen machte, litt er unsäglich unter allen Formen dieser Verachtung und Geringschätzung, wie sie ihm täglich, stündlich, im Hause wie außer dem Hause, entgegenkam. So stark, so furchtbar empfand er diese Herabwürdigung, daß er, im zehnten Jahre etwa, zu der festen Ansicht reifte, wie Verachtung des Nächsten eine der schwersten und furchtbarsten Sünden sei. Sie hatte bei ihm zunächst die völlige Selbstverachtung zur Folge gehabt: eine Selbstverachtung, die ihn mehr als einmal über die irdische Einsamkeit hinaus in eine tiefere, ewige, das heißt in den Tod treiben wollte. Und irgendwann, gerade in einem solchen gefährlichen Augenblick, hatte ihn die Gestalt des Heilands zuerst berührt und ihm den wundervollen Trost des göttlichen Menschensohnes gegeben. Er wurde von da ab des armen Verachteten einziger Freund. Was Wunder, wenn dieser sich, der Verachtete, an seinen gütigen Freund und Tröster schloß, mit verzehrender Inbrunst ohnegleichen. Während einer Reihe von Jahren wußte nicht einmal die Mutter Emanuels von dem göttlichen Umgang, den ihr Sohn im geheimen genoß. Da es sich aber nicht um einen Menschen von Fleisch und Blut, sondern doch nur um ein Gebilde handelte, das aus einer mühsam entzifferten Schrift ein phantastisches Leben gewann, so wurde vielleicht mit dieser gewaltsam erzeugten Traumeswelt der Grund zu seiner späteren, so verhängnisvollen Torheit gelegt. [...]
Neuntes Kapitel
Von den Halbbrüdern Quints war der jüngste, Gustav, zwölfjährig; dieser hing ihm im stillen an. In den ersten Tagen, als der Vater erzwingen wollte, daß Emanuel in der ärmlichen und verwahrlosten Werkstelle mit dem Halbbruder August zusammen arbeite, ging er Emanuel überall an die Hand. August, der tüchtigste Arbeiter in der Familie, war ihm dagegen keineswegs freundlich gesinnt, obgleich Emanuel immer alles getan hatte, um ihm ein Verständnis zu ermöglichen für dasjenige Fremde und Sonderbare des eigenen Wesens, woran jener sich immer aufs neue stieß. Emanuel an der Hobelbank zu sehen, war allerdings ein Anblick von einem gewissen Widersinn, der einen nachdenksamen Beobachter stutzig machen, einen Tischlergesellen zum Lachen reizen oder empören mußte. August fand sich daher empört, und mit der Moral seiner eigenen Tüchtigkeit stand er nicht an, dem trägen und wenig geschickten Bruder von früh bis spät zu Leibe zu gehen. [...]
Von den Halbbrüdern Quints war der jüngste, Gustav, zwölfjährig; dieser hing ihm im stillen an. In den ersten Tagen, als der Vater erzwingen wollte, daß Emanuel in der ärmlichen und verwahrlosten Werkstelle mit dem Halbbruder August zusammen arbeite, ging er Emanuel überall an die Hand. August, der tüchtigste Arbeiter in der Familie, war ihm dagegen keineswegs freundlich gesinnt, obgleich Emanuel immer alles getan hatte, um ihm ein Verständnis zu ermöglichen für dasjenige Fremde und Sonderbare des eigenen Wesens, woran jener sich immer aufs neue stieß. Emanuel an der Hobelbank zu sehen, war allerdings ein Anblick von einem gewissen Widersinn, der einen nachdenksamen Beobachter stutzig machen, einen Tischlergesellen zum Lachen reizen oder empören mußte. August fand sich daher empört, und mit der Moral seiner eigenen Tüchtigkeit stand er nicht an, dem trägen und wenig geschickten Bruder von früh bis spät zu Leibe zu gehen. [...]
Der kurze und bärtige Mensch mit dem dunklen Haar, der, seiner Mutter zuliebe, nicht einmal, trotzdem er schon vierundzwanzig Jahre zählte, die übliche Wanderung angetreten hatte, fühlte sehr wohl in Emanuel irgendein geistiges Wesen, das zu begreifen ihm nicht gegeben war: ein Etwas, das er heimlich bewunderte, während er sich es geringzuschätzen, ja zu verachten den äußeren Anschein gab. Und er merkte auch wohl, wie es seiner Mutter in dieser Beziehung nicht anders ging. Auch sie begriff die Narrheiten ihres Sohnes nicht, aber man konnte ihr anmerken, sie war im Grunde nicht ohne einen gewissen schwankenden Respekt vor ihm. Es war ein Respekt, der sich sogar in seltenen, unbewachten Momenten geradezu in Mutterstolz umsetzte und gelegentlich, etwa einer Nachbarin oder dem Schullehrer gegenüber, mit lebhaften Worten überraschend zutage trat. So kam es, daß in der Seele des arbeitsamen Burschen August, der stets an die Werkstatt gefesselt war, während Emanuel immer wieder ein freies und oft müßiges Kommen und Gehen durchsetzte, sich schließlich, mit vieler Bitterkeit, die Sache so darstellte, als ob er alle Lasten zu tragen, Emanuel dagegen nur zum Vergnügen berufen sei, und es ihm schien, dieser sei in jeder Beziehung, sogar in der Liebe und Sorge der Mutter, unrechtmäßig bevorzugt. Diese Ansicht befestigte sich indessen noch, als am dritten Tage nach der Heimkehr Emanuels der junge Pastor des Ortes mit kurzem Gruß in die Werkstatt trat und, August nur auf eine flüchtige Weise beachtend, sogleich mit Emanuel freundlich zu reden begann. Es war in seinem Verhalten nichts davon zu bemerken, als ob er gekommen wäre zum Zwecke einer gehörigen Abkanzelung. Im Gegenteil zeigte eine gewisse Vorsicht im Verkehr mit Emanuel, die er August gegenüber vermissen ließ, ebendieselbe geheime Achtung, die Augusts durch Mißgunst geschärfter Blick bei allen Menschen wahrnehmen wollte, die mit seinem Bruder in Verkehr traten. Während er, August, dem frischen und jovialen Geistlichen gegenüber in eine stumme Befangenheit hineingeriet, entging es ihm nicht, wie Emanuel gerade hier mit Wort und Gebärde eine ruhige Freiheit an den Tag legte. Vollends ganz unbegreiflich erschien ihm jedoch, was es mit einem Briefe für Bewandtnis haben sollte, den der geistliche Herr aus der Tasche zog, unter allerlei freundlichen Fragen, die er stellte, und schließlich mit einer in liebenswürdigster Form gehaltenen Einladung an Emanuel, ihn am Nachmittag – zu einer Tasse Kaffee, hatte der Bruder deutlich gehört! – zu besuchen. Nachdem sich der Pastor, der eilig war, mit einem Händedruck von dem Narren verabschiedet hatte, hörten ihn beide Brüder noch jenseit des Flurs in die Wohnstube eintreten, wo alsbald die laute Stimme des resoluten Herrn abwechselnd mit den Stimmen von Vater und Mutter hörbar ward. Und August konnte nun erst recht nicht begreifen, warum, wie er deutlich vernahm, der Pastor den Vater mit ganz entschiedenen Worten vermahnte, er möge unbedingt gegen Emanuel nachsichtig sein und sich durchaus zu keiner rohen Züchtigung ferner hinreißen lassen.
Der alte Quint war übrigens ohnedies schon erheblich verändert. Allerlei Zeichen, die sich im Laufe der letzten drei Tage bemerkbar gemacht hatten, waren nicht ganz ohne Eindruck geblieben auf ihn. Schon vom zweiten Tage ab hatten sich nämlich Leute aus nahen Dörfern bis zu dem Häuschen der Quints hindurchgefragt. Sie erklärten dem alten verdutzten Faulenzer und Maulmacher, der einen Hobel fast nie mehr anfaßte, ganz bestimmt gehört zu haben, daß sein Sohn ein berühmter Wunderdoktor sei. Nur selten gelang es, sie abzuweisen, ohne daß vorher, vom Vater gerufen, der Sohn Emanuel selber erschien, wo sie dann meistens ein an Ehrfurcht grenzendes Wesen vorkehrten.
Was aber vor allem Mutter, Vater und Bruder Emanuels zu verblüffen geeignet gewesen war, hatte der Briefträger am Morgen des dritten Tages aus seiner Ledertasche gezogen: etwa siebzig Briefe mit der Adresse Emanuel Quint. Die Mehrzahl von diesen Briefen war infolge eines gedruckten Berichtes geschrieben worden, der in einem sozialistischen Blättchen des Kreises gestanden hatte und darin, mit etwa vierzig kleinen Zeilen, Emanuels erste Predigt, sein Verschwinden und seine Rückkehr ironisch, aber nicht unsympathisch behandelt war. Auch des sonderbaren Rufs eines Wundertäters, dessen er bei gewissen Leuten genoß, war gedacht worden. Unter den Briefen gelangte auch, rot angestrichen, die Nummer der »Volksstimme« an Emanuel, die den Bericht enthielt, und ein Schreiben des Redakteurs, worin er seinen Besuch anmeldete.
Emanuel selber befand sich bei alledem in einem Zustand verzweifelter Bitternis. Seine Seele vermochte sich aus einem Gewirr zahlloser grauer und fester Fäden, in die sie, gleichwie die Motte in das Netz einer Spinne, geraten war, nicht loszuwinden. Als hätte er irgendein ätzendes, zauberkräftiges Gift auf die Zunge genommen, das, alles an ihm zwerghaft verkleinernd, ihn wieder in den armen und elenden Jungen verwandelt hätte, den trostlos Gottverlassenen, der er früher gewesen war.
Es war gegen vier Uhr nachmittags, als Emanuel sich nach dem Pastorhaus auf den Weg machte. Die Mutter hatte ihn, so gut es ging, mit den Stiefeln des Vaters und einem alten Rock herausgestutzt, den ihr vor vielen Jahren einmal ein Gastwirt für ihren Mann geschenkt und den sie heimlich aufbewahrt hatte.
Der Pastor empfing Emanuel freundlich.[...]
Hiergegen wandte der Pastor ein, daß immerhin, wie ja auch Emanuel wissen müsse, von Jesu sowohl als von den Aposteln Kranke durch Handauflegen geheilt worden seien. Der Heiland habe sogar Lazarum, Jairi Töchterlein und den Jüngling zu Nain von den Toten erweckt. Hier sah der Geistliche, wie Emanuel Quint kaum merkbar den Kopf schüttelte, und fragte ihn, warum er diese Bewegung gemacht habe. »Warum und zu welchem Zwecke«, gab jener zurück, ohne die Frage zu beantworten, »hätte der Heiland wohl den Mann, den Jüngling und das Kind in diese bejammernswürdige Welt zurückerweckt, die sie ja bereits überwunden hatten?« Der Pastor begriff zunächst diese überraschende Frage nicht. »Ich würde denken«, fuhr der Narr in Christo zu reden fort, »er habe es als Weltenrichter getan und um die Toten durch das erneute Leben für Sünden, die sie begangen hätten, zu strafen. Aber wer hat des Menschen Sohn zum Weltenrichter gemacht? Er kannte den Vater, der in ihm war, wie ich den Vater kenne, der in mir ist. Dieser Vater läßt regnen über Gerechte und Ungerechte und läßt seine Sonne aufgehen über Böse und Gute, wie in meinem Herzen geschrieben steht. Herr Pastor: er läßt seine Sonne aufgehen! das ist nicht etwa vor allem diese, die hier auf die Bücherregale scheint, es ist nur die geistliche Sonne des Vaters, die auch den Bösen und Ungerechten zuteil wird. Wenn ich nun aber an den glaube, der nach dem Wort des Apostels Paulus nicht die Gerechten gerecht macht, sondern die Ungerechten und Gottlosen – ja, die Gottlosen! –, so frage ich mich: was wollte er Lazaro, Jairi Töchterlein und dem Jüngling zu Nain, da er sie doch nicht strafen wollte, als er sie auferweckte, tun? Nein! wahrlich, ich sage Ihnen, Herr Pastor: der Gottessohn hat diese Toten nicht auferweckt, außer aber ins ewige Leben! Des Menschen Sohn aber wollte und konnte sie nicht aufwecken. Es ist dem Menschensohne nicht gegeben, Tote aufzuwecken und Kranke gesund zu machen, außer durch menschliche Arzenei. Dem Menschensohn ist es allein gegeben zu leiden und mitzuleiden, das heißt zu lieben, das heißt barmherzig zu sein.« »Du begibst dich auf ein gefährliches Feld, mein Freund«, sagte der Geistliche, indem er warnend den Finger hob, »du bist dir doch wohl bewußt, daß du im Begriff stehst, nichts Geringeres als die Wundertaten unseres Herrn Jesu zu leugnen. Du stellst dich damit zur Heiligen Schrift und zur gesamten christlichen Kirche in Widerspruch.« »Der Herr hat gesagt«, erwiderte Quint, mit tiefen, fieberisch glänzenden Augen, »lasset die Toten ihre Toten begraben. Er hat nicht gesagt, er wolle die leiblich Toten zum Leben im Fleisch und zum geistlichen Tode auferwecken. Was die Schrift aber anbetrifft, so ist sie von irrenden Menschenhänden niedergeschrieben. Der Buchstabe tötet, und nur der Geist ist es, der lebendig macht. Wenn nun der Geist den Buchstaben nicht lebendig macht, so bleibt er tot. Der Geist ist immer mehr als der Buchstabe. Der Buchstabe aber steht im Buch, der Geist dagegen ist in mir. Alle, die zu lesen verstehen, lesen Buchstaben, aber was wäre der Geist, sollte er in den kleinen Maßen der Buchstaben eingekerkert sein? Das Gewand des Vaters sind nicht Buchstaben, das Gewand des Sohnes sind ebensowenig Buchstaben: beider Gewand ist die Ewigkeit. Und also, Herr Pastor, meine ich: der Vater in mir, der Sohn in mir ist das Wunder, sonst nichts. Ihr Reich ist nicht von dieser Welt. Und weltliche Wunder des Menschensohnes, was sollten sie gelten gegen das himmlische Wunder des Gottessohnes. Und wie der Sohn allein den Vater kennet, so kennet der Sohn allein den Sohn. Und auch der Vater kennet allein den Sohn und sich selber, auch hinter dem toten Vorhang, der sie verbirgt, den Worten der Schrift und ihren Buchstaben. [...]
Der Pastor rief, als Quint sich entfernt hatte, seine Frau zu sich ins Zimmer herein. Sie sahen den Narren durch den Vorgarten schreiten. »Siehst du den langen Menschen, Frau?« fragte er, auf Emanuel hinweisend. – »Na, ganz natürlich«, sagte die Pastorin, »sehe ich ihn!« – »Sage mir mal, wie kommt er dir vor? Was würdest du nach seinem Gang und seinem Äußeren von ihm halten?« – Die Pastorin, die ein junges, gewecktes Weibchen war, sagte unwillkürlich herauslachend: »Ich würde denken, daß es einer ist, der den Gendarm mehr fürchtet als Gott!« – »Meine Liebe«, gab ihr der Pfarrherr zur Antwort, »dieser stromerhaft aussehende Kerl hat mich minutenlang auf eine mir noch nicht vorgekommene Art und Weise verwirrt gemacht. Fasse nur mal meine beiden Hände!« – »Aber Männchen«, sagte die Frau, »sie sind ja kalt und ganz feucht!« – »Ja, denn dieser Mensch behauptet, er sei nichts Geringeres als Jesus Christus von Nazareth.«
(Gerhart Hauptmann: Der Narr in Christo Emanuel Quint , Kapitel 8 und 9)
(Gerhart Hauptmann: Der Narr in Christo Emanuel Quint , Kapitel 8 und 9)
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