Zwölftes Kapitel
Das Gurauer Fräulein hatte an diesem Tage im Speisesaal ihres Schlosses, das in einem großen Park alter Bäume stand, den Bruder Nathanael und einen ihrer Gutspächter, den Oberamtmann Scheibler, mit seiner Gattin zu Gast. Die Gesellschafterin hatte aber die Geladenen zu Tische geführt, weil die Dame des Hauses sich durch den Besuch im Schwesternheim verspätet hatte, und schon während die Suppe gereicht wurde, wußte die Gesellschafterin sich kaum genugzutun in Schilderungen des sonderbaren Eindrucks, den Quint auf die Gurauer Dame ausgeübt hatte.
Als die Dame später bei Tisch erschien, erkannten alle, daß die Gesellschafterin nicht übertrieben hatte, denn obgleich die kleine Tischgesellschaft das mit gedämpfter Stimme geführte Gespräch über Quint sogleich unterbrach, kam die Herrin des Hauses, gleich nachdem sie begrüßt worden war und alle sich wiederum niedergelassen hatten, aus freiem Stück auf Emanuel Quint zurück.
»Erzählen Sie, erzählen Sie alles, was Sie von ihm wissen, Bruder Nathanael!« damit wandte sie sich an den eifrig kauenden Apostel der Inneren Mission, der seine vierschrötige Gestalt in einen sauber gebürsteten schwarzen Anzug gesteckt hatte, und Bruder Nathanael schluckte hinunter, was er gerade im Munde hatte, strich sich den wilden Bart mit der Serviette und begann.
Er erzählte von seiner Predigt in der Dorfschule, wo er Emanuel Quint zuerst gesehen und nach der Predigt gesprochen hatte. [...] In seiner weiteren Schilderung des später Vorgefallenen befliß sich Bruder Nathanael keiner besondren Genauigkeit. Weder berührte er das schwärmerische Brotbrechen, noch viel weniger aber die seltsame Taufhandlung, durch die er die Weihe einer besonderen Mission schließlich und endlich unaustilgbar in die Brust des Tischlerssohnes gelegt hatte. Diese Sache hielt er geheim. Er hatte sich zwar, als die Brüder Scharf ihn deshalb angingen, in einem Briefe bei der Gurauer Dame für Quint verwandt, war aber übrigens, um des Ärgernisses willen, das Emanuel allenthalben erregt hatte, mit geheimer Besorgnis, Reue und Angst erfüllt. [...]
Er sagte, als er mit seiner Erzählung fertig war: »Wolle Gott diesen armen Christenbruder zurück zur Wahrheit leiten, wenn er mißleitet ist, und möge er denen vergeben, die ihn mißleitet haben und jedenfalls nicht mit Absicht mißleitet haben. Die Macht des Satans ist eben zu groß, und wir dürfen nicht aufhören, täglich, ja stündlich wider ihn auf der Hut zu sein. [...]
Ich kenne seit langen Jahren«, fuhr er fort, »die Brüder Scharf. Sie gehören zu den ersten Gnadenbeweisen, die Gott mir ganz unwürdigem Diener am Wort erwiesen hat. Er wollte ihre Seelen durch mich zu Christo erwecken und Christo zuführen. Nun, scheint es, hat der alte böse Feind auch mit ihnen sein Spiel getrieben. Ich hatte sie vor einigen Tagen zu mir beschieden«, fuhr er fort. »Sie folgen diesem Verirrten nach. Ich habe ihnen einige Stunden lang alle Bedenken, alle Gefahren ihrer seltsamen Meinungen über diesen Emanuel vorgehalten: sie bleiben dabei, daß er die Kraft des Geistes Gottes in sich hat und die Gewalt über Leben und Tod. Ich habe aber noch mehr getan«, erklärte der Laienbruder weiter. »Ich habe das getan, was in solchen Fällen und in allen Fragen des Lebens das alleinige Mittel ist, zur Wahrheit in Christo durchzudringen: ich bin mit ihnen vor Gott getreten im Gebet. Und gebe der Himmel, wie ich denn innig hoffe, daß die Macht des Irrtums nun in ihnen zerbrochen ist!« [...]
»Sagen Sie mir, mein lieber Bruder Nathanael«, begann nun der Oberamtmann, »in welchem Irrtum dieser Mann oder Jüngling, von dem Sie reden, dieser Emanuel Quant oder Quint, wie Sie ihn nennen, besonders befangen ist.«
»Bester Oberamtmann, Sie haben noch nichts von dem sogenannten falschen Heiland von Giersdorf gehört?« fragte erstaunt das Gurauer Fräulein. Herr Scheibler verneinte, und sie fuhr fort: »Es ist ein Mensch, der sich, wie mir der Pastor Schuch aus Giersdorf hier im Briefe bestimmt versichert, für den wiedergekommenen Erlöser hält« – »und den auch«, ergänzte die Gesellschafterin, »viele arme, verführte Menschen, wie es scheint, dafür halten.« [...]
»An solchen Dingen ist deutlich zu merken, daß der Tag aller Tage nicht mehr ferne ist«, sagte der Oberamtmann fast feierlich, »denn was anders soll man sagen zu einem solchen erschreckenden falschen Propheten als: Antichrist? Es sind die Tage des Antichrists, die, wie an zahllosen deutlichen Zeichen der Zeit zu erkennen ist, anheben. Wer zweifelt, daß die geistliche Babel überall in der vollsten Blüte steht?«
»Sie sagen da ein furchtbares Wort, Oberamtmann: Antichrist! Sollten wir da nicht mit einem zu großen und schrecklichen Wort vielleicht die Verirrung eines armen Schäfleins Jesu brandmarken?« sagte das Fräulein. »Man muß diesen Menschen mit Augen sehen, um jedenfalls zu erkennen, daß Antichrist ein bei weitem zu grausames Wort für ihn ist. Wenn er erst ganz gesund ist, werde ich ihn einmal zu uns bitten.« [...]
»Ihr müßt ihm die Folgen seines schrecklichen Hirngespinstes deutlich ausmalen, Bruder Nathanael«, sagte die magere Oberamtmännin. »Man muß ihn darauf aufmerksam machen, es sei zweierlei, ob man aus der Kraft Gottes oder aus der Kraft der Hölle Wunder tut. Es ist ja freilich gesagt: ›Wenn ihr Glauben habt als ein Senfkorn, so könnet ihr Berge versetzen!‹, es ist auch gesagt: ›Bittet, so wird euch gegeben!‹, und wir wissen ja auch, wie Sie, Bruder Nathanael, selbst durch Gebet und Glauben schon mancher armen Kranken, die von den Ärzten aufgegeben gewesen ist, durch Gottes Gnade ersehnte Hilfe haben bringen können. In dieser Beziehung haben wir ja allerdings das klare, bestimmte Heilandswort: ›Was ihr bittet in meinem Namen, dasselbige soll euch werden!‹ – wenn Reue und Buße und also Vergebung der Sünden damit verbunden ist. Solche Wunder geschehen ja, wie wir alle wissen, noch täglich und stündlich unter den Gläubigen überall, wenn auch die Welt es nicht sehen, hören und für wahr halten will. Aber wehe, wo jemand, der durch Gottes Gnade Kranke heilen, ja meinethalben selbst Tote erwecken könnte, sich deshalb vermessen wollte, der eingeborene Sohn Gottvaters zu sein oder auch nur zu sagen, daß er mehr als einer der zwölf Apostel des Heilands wäre! [...]
»Ich glaube kaum«, begann die Dame, »es wird mit diesem Emanuel Quint auf solche Weise ohne weiteres fertig zu werden sein. Es ruht eine, wie ich bekennen muß, eigentümliche Kraft zu faszinieren in ihm. Man kann nicht glauben, gerade in diesem Menschen, den augenblicklich ein stiller Friede zu beherrschen scheint, einer Kraft des Abgrundes zu begegnen. Ich scheue mich nicht, noch mehr zu bekennen: ich habe diesem Menschen, wie noch nie einem Menschen in meinem Leben, gleichsam bezaubert und geradezu andächtig zugehört. Sein Mund erklang mir wie Friedensschalmeien, und nichts an ihm schien mir, wie es ja eigentlich hätte sein müssen, unbegründet, widerlich oder gar lächerlich. Ich glaube, daß er die Hölle leugnet.« Mit diesen Worten hob die Dame die Tafel auf. [...]
»Wenn er die Hölle leugnet«, erklärte der Bruder Nathanael und strich mit den groben Fingern über seinen wilden, schlechtgepflegten, gelblichen Bart, »wenn er die Hölle leugnet, so geht mir schon allein daraus hervor, daß er den rechten Weg verloren hat.« Und Bruder Nathanaels kleine Augen begannen in einem stechenden Glänze zu funkeln. [...]
Etwa vierzehn Tage waren vergangen, als es Bruder Nathanael endlich gestattet wurde, seinen heimlichen Täufling, der ihm zum Schmerzenskinde geworden war, im Schwesternhause wiederzusehen. [...]
Emanuel ward zu Tränen gerührt. [...]
Er hielt nun Emanuel Quinten vor, er habe viele arme Seelen auf eine verhängnisvolle Weise irregeführt, wobei er als erwiesen voraussetzte, daß jener durch allerlei trügerische Wundertaten Anhänger zu erwerben gesucht, den Seelenfang mit allen erdenklichen Mitteln betrieben habe. Dann kam er, nicht ohne mehrmals erneute Anläufe, auf den allergefährlichsten Punkt zurück. »Ich kann es nicht glauben«, sagte er, »aber ich kann es ebensowenig bezweifeln, denn ich habe es gerüchtweise allenthalben gehört, und es ist ja auch das, weshalb sie dich überfallen haben. Oder warum überfielen sie dich?«
»Weil ich vom Bösen gewichen bin«, antwortete Quint, »und weil ich ein ganz Geringes vom Geheimnis des Reiches Gottes gelüftet habe. Weißt du nicht, lieber Bruder, daß geschrieben ist: ›Wer von der Lüge weichet, also vom Bösen, der ist jedermanns Raub‹?« Nathanael aber gab zur Antwort: »Sie sagen aber, sie seien über dich hergefallen, weil der Teufel dich bewogen hat, unsern Heiland im Wahnwitz zu lästern, und zwar zu lästern durch einen Ausspruch, der mir nicht einmal über die Zunge geht, nämlich indem du sagtest, daß du mehr denn Petrus wärest und nichts Geringeres als er selbst, der Herr, der Heiland und Gottes Sohn. Sage mir, bin ich recht berichtet?« »Sage du mir zuvor, mein Bruder in Christo, Nathanael, der du mich einst mit Wasser tauftest, ob ich dich nun dafür, statt mit Wasser, mit dem Heiligen Geiste taufen soll?« Diese Worte erschreckten den armen Laienbruder aufs äußerste. »Nein«, rief er lebhaft, »nichts von Taufe! Mit deiner Taufe verschone mich! Ich werde genug zu büßen haben, um aus dem Schuldbuche meiner Sünden jenen Morgen auszutilgen, an dem ich dich, in allzu blindem Vertrauen, mit Wasser besprengt habe. Deiner Taufe begehre ich nicht!« Emanuel Quint erbleichte bis unter die Nägel seiner langen und edeln Hand, mit bebenden Lippen ins Freie hinausblickend. [...]
»Weil ich vom Bösen gewichen bin«, antwortete Quint, »und weil ich ein ganz Geringes vom Geheimnis des Reiches Gottes gelüftet habe. Weißt du nicht, lieber Bruder, daß geschrieben ist: ›Wer von der Lüge weichet, also vom Bösen, der ist jedermanns Raub‹?« Nathanael aber gab zur Antwort: »Sie sagen aber, sie seien über dich hergefallen, weil der Teufel dich bewogen hat, unsern Heiland im Wahnwitz zu lästern, und zwar zu lästern durch einen Ausspruch, der mir nicht einmal über die Zunge geht, nämlich indem du sagtest, daß du mehr denn Petrus wärest und nichts Geringeres als er selbst, der Herr, der Heiland und Gottes Sohn. Sage mir, bin ich recht berichtet?« »Sage du mir zuvor, mein Bruder in Christo, Nathanael, der du mich einst mit Wasser tauftest, ob ich dich nun dafür, statt mit Wasser, mit dem Heiligen Geiste taufen soll?« Diese Worte erschreckten den armen Laienbruder aufs äußerste. »Nein«, rief er lebhaft, »nichts von Taufe! Mit deiner Taufe verschone mich! Ich werde genug zu büßen haben, um aus dem Schuldbuche meiner Sünden jenen Morgen auszutilgen, an dem ich dich, in allzu blindem Vertrauen, mit Wasser besprengt habe. Deiner Taufe begehre ich nicht!« Emanuel Quint erbleichte bis unter die Nägel seiner langen und edeln Hand, mit bebenden Lippen ins Freie hinausblickend. [...]
»Komm, verstocke dich nicht, laß uns beten!« wiederholte Nathanael. Aber der Narr in Christo sagte: »Wo einer in Gott ist, wie Gott in ihm, der betet nicht! Und zu wem sollte ein solcher beten?« [...]
»Ich lerne«, sagte er, »mehr und mehr das Gericht des Gottessohnes auf eine ganz besondere Weise verstehen und wie sich ohne sein Zutun sogleich die Welt in zwei Lager scheidet, wo er erscheint. Meine Mutter ist zu mir gekommen und hat mich mit gerungenen Händen angefleht, ich möge von meinem Wahnsinn lassen. Nun aber weiß ich, wie ich weder voll süßen Weines bin noch schwachen Verstandes oder betörten Herzens, weder hoffärtig noch betrügerisch, sondern daß ich in den Fußstapfen unseres Heilands wandle. Fasse es, wer es fassen mag: die Spuren meiner Füße sind die Stapfen der Füße des Menschensohnes! Ich rede Worte des Gottessohnes, wie sie der Vater mir zu sagen ins Herz gegeben hat, allein ihr kommt von allen Seiten zu mir und ruft mich an und schreit: du bist wahnsinnig. [...] Ich bete nicht! auch meines Bruders Jesu Jünger, die Jünger des Menschensohnes, beteten nicht. Sie aber sprachen zu ihm: ›Warum fasten Johannes' Jünger so oft und beten so viel, und deine Jünger essen und trinken?‹ Und sie drangen in ihn, obgleich er gesagt hatte: ›Euer Vater weiß, wes ihr bedürfet, ehe denn ihr bittet.‹ Sie drangen in ihn, daß er sie dennoch beten lehre, bis er ihnen das Vaterunser gab, ein Gebet, das nicht sowohl ein Gebet als ein Quell lebendigen Wassers ist. Weil ich dir von dem Lichte unter dem Scheffel, von dem verborgenen Senfkorn, von dem Schatz im Acker, kurz, vom Geheimnis des Reiches Gottes gesprochen habe, so meinest du, meine Seele sei verfinstert vom bösen Geist. Aber ich sage dir, ich habe den Schatz im Acker gefunden, den Schatz, der verborgen war, und wenn ich etwas habe oder besitze, so will ich es alles hingeben, darum, daß ich nur diesen Acker für mich gewinne und behalte, darin der Schatz, den ich gefunden habe, verborgen ist. Ich will es alles hingeben, Bruder Nathanael, denn ich war ein Kaufmann, der ausging, gute Perlen zu kaufen. Und als ich die beste der Perlen in jenem verborgenen Schatze fand, die köstlichste, wußte ich, daß ich alles, was ich habe, gerne hingeben will, um die Perle des Schatzes im Acker zu behalten. Verstehe mich wohl, Bruder Nathanael, ich müßte alles dafür ohne Bedenken mit Freuden hingeben, denn wenn ich dich und die ganze Welt gewönne, was hülfe es mir, so ich diese Perle des verborgenen Schatzes im Acker dafür verlieren müßte? Und alles will ich freudig dafür hingeben, sogar mein Leben, Bruder Nathanael.«
Der Bruder Nathanael faßte sich hilflos verwirrt an die Stirn, glotzte, wie wenn er den Satan erblickt hätte, in die ruhig, deutlich und langsam dozierenden Mienen Emanuel Quints, zerquetschte den Hut mit beiden Fäusten und rannte, als wie gepeitscht, davon.
(Gerhart Hauptmann: Der Narr in Christo Emanuel Quint, Kapitel 12)
(Gerhart Hauptmann: Der Narr in Christo Emanuel Quint, Kapitel 12)
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