30 August 2018

Wilhelm Raabe: Die Kinder von Finkenrode - Kinderspiel und Cäcilie

"Der große Kastanienbaum in dem kleinen Garten vor dem Burgtor zu Finkenrode ist mit seinen Blüten geschmückt, wie ein Christbaum mit seinen Weihnachtskerzen. Alles Leben, welches den harten Winter hindurch in den braunen Knospenhülsen der Bäume und Gesträuche geschlummert hat, lugt keck und lustig hervor. Winzige geflügelte Wesen huschen durch die Luft und über den Boden hin; die Frösche hüpfen aus ihren Winterschlupfwinkeln, sonnen sich auf den Wegen und plumpsen bei jedem sich nahenden Schritt zurück in ihre Verstecke. Die Haselnußsträuche haben ihren gelben Blütenstaub liebend den roten Zäpfchen zugesandt – befruchtende Liebesgrüße! Drei Kinder kauern unter der großen Kastanie und haben die Köpfe so dicht als möglich zusammengesteckt. Ein schlafender Maikäfer liegt auf dem Rücken bewegungslos in der Hand des Knaben – belauscht von den sechs glänzenden Kinderaugen. »Er rührt sich!« sagt Käthchen Manegold. »Nun hauche ihn noch einmal an, Max!« ruft Cäcilie Willbrand. »Jetzt regt er sich! Sieh, er bewegt ein Bein!« »Er streckt die Fühlhörner aus – das ist der Anfang – Gebt acht, nun macht er sich auf!« jubelt der Knabe und erwärmt noch einmal das schlummernde Tierchen durch seinen warmen Atem. Cäcilie klatscht in die Hände: »Er ist aufgewacht! Er ist aufgewacht! Sieh, sieh!« [...]
Kindern ist alles Symbol, und alles – Blumen, Kiesel, Blätter, Grashalme, Insekten – wird ihnen zu Abbildern des Lebens, und im Spiel mit Blumen, Kieseln und Grashalmen zupfen sie an dem Schleier der Zukunft. [...]

Heiliger Gott, mit was für einem Satze war ich aus den Federn! Noch einmal schwang sich alles, was seit gestern abend in mir und um mich geschehen war, im tollen Wirbel in meinem Kopf herum: der Besuch in dem Häuslein vor dem Burgtor – die Schneenacht – der Punsch – das Erwachen vor zwei Stunden – der Besuch des Schauspielers – das letzte Traumspiel – Wie eine Katze, die man aus einem Dachfenster geworfen hat, gelangte ich schwindelnd, zerschlagen auf festen Boden, auf die Füße, physisch und psychisch. Beim Zeus, zwei Uhr! Das ist ein Vergnügen! Und so etwas konnte mir in Finkenrode passieren! Ist's nicht ein Seelen-Gaudium, in solchen Augenblicken Psychologie an sich selbst zu studieren, in solchen Augenblicken, wo man Sprünge macht, wie ein Frosch unter einer Luftpumpe? – Mühsam gelangte ich in die Kleider, kroch in den Ofenwinkel und hüllte meinen Mißmut in immer dichtere Tabakswolken. [...]
Es war wieder Abend geworden, als ich müde und matt aufs Geratewohl einen Folianten aus einer der Bücherreihen hervorzog, den Staub abblies und aufs Geratewohl ihn aufschlug. Viel kurioses Zeug wurde auf den vergelbten Blättern erzählt; bis tief in die Dämmerung hinein blätterte ich in dem alten Bande – »Es war aber derselbigen Göttin Venus Bild ein schönes Weib mit klaren lieblichen Augen. Ihr langes, gelbes Haar hing ihr bis an die Knie; auf ihrem Haubt trug sie einen Krantz von Myrthen mit rothen Rosen umbgeflochten und auf ihrem Hertzen eine brennend' Fackel mit hellen Strahlen. In ihrem lachenden Munde hielt sie eine beschlossene Rose und in ihrer rechten Hand die ganze Welt, eingetheilt in Himmel, Erden und Meer. Ihre Töchter aber, die Charites, die hatten einander lieblich in die Arme gefasset und hielten einander mit abgewandtem Gesicht Gaben zu – welches bedeut', daß die Liebe blind ist. Für den gülden Wagen, darauf sie stunden, gingen zween weiße Schwanen und zwo weiße Tauben. –« Um zehn Uhr lag ich wieder im Bett und träumte weiter von der Göttin Venus, und den Töchtern derselben, den Charitinnen, und von Cäcilie Willbrand, der schönen, stillen Jungfrau mit der sanften Stimme, in dem kleinen grünen Häuschen vor dem Burgtore von Finkenrode."
(Wilhelm Raabe: Die Kinder von Finkenrode Kapitel 11)

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