05 August 2018

Gerhart Hauptmann: Der Narr in Christo Emanuel Quint - erste Gedanken zur Beurteilung

Ich bin in Hauptmanns Roman zwar weiter eingedrungen, als die hier  bisher vorgestellten Abschnitte das erkennen lassen. Dennoch habe ich ihn noch nicht bis zum Ende gelesen, weil ich mir immer nur kurze Abschnitte daraus vornehme.
Drei Eindrücke drängen sich mir aber schon jetzt auf:
1. Hauptmann benutzt den seltsamen Heiligen Emanuel, um ein umfassenderes Bild des armen Volkes zu zeigen, als es im in der dramatischen Zuspitzung von "Die Weber" möglich war.
2. Am Beispiel der Talbrüder zeigt er, wie Religion "Opium des Volkes" sein kann: Trost angesichts der unerträglichen Umstände des täglichen Lebens im Blick auf das Paradies im Jenseits. Insofern ist das eine Ausmalung der Haltung des alten Hilse im 5. Akt der "Weber".
Zugleich kritisiert er aber die Haltlosigkeit der Talbrüder, die sich bei ihren religiösen Feiern Orgien der Triebbefriedigung hingeben.*
3. Emanuel verkörpert den Christen, wie ihn Feuerbach im 17. Kapitel des "Wesens des Christentums" im Unterschied zum Heidentum kennzeichnet: "Im Christentum konzentriert sich der Mensch nur auf sich selbst, löster er sich vom Zusammenhang des Weltganzen los, machte sich zu einem selbstgenügsamen Ganzen, zu einem absoluten, außer- und überweltlichen Wesen - [...]"

Ein neues Interesse für Hauptmann habe ich über Das Abenteuer meiner Jugend gewonnen. Daher interessiert es mich natürlich, wie viel von seinen Erfahrungen seine Schul- und Kunststudentenzeit in Breslau* in diesen Roman eingegangen sind und inwiefern er mit dem Bild von Emanuel seine eigenen aus Not geborenen Allmächtigkeitsphantasien (die gesamten Carraraberge zu eigenen Marmorplastiken zu verwenden) kritisch darstellen, aber auch gleichzeitig als Notphantasien rechtfertigen will. 
Paul Schlenther schreibt dazu: "In den Jahren der Entwicklung drückte diese Geistesrichtung dem lebhaften Knabengemüt, welches ohnehin zur transzendenten Spekulation neigte, einen so starken Stempel auf, daß Gerhart Hauptmann seither kaum was Größres gedichtet hat, ohne die Macht dieses Gepräges irgendwie und irgendwo spüren zu lassen. Vielleicht hat er in »Emanuel Quint«, wo er selbst als Kurt Simon und seine Tante Julie als die »temperamentvolle Christin« – Frau Oberamtmann Julie Scheibler – erscheint, über diese letzten Dinge sein Letztes gesagt. Überall ist zu fühlen, wie tief und auch wie ungestüm Glaubenssachen den Geist und das Herz des Jünglings aufgeregt haben."

*  Hauptmann schildert die Entwicklung zur Hemmungslosigkeit im 16. Kapitel  wie folgt: "Die mehr und mehr gefährliche Narrheit der Brüder gewann an Sicherheit, als der böhmische Josef eines Tages, den dicken Finger unter der Zeile, das Wort buchstabiert hatte: »Wer will die Auserwählten Gottes beschuldigen? Gott ist hier, der da gerecht macht.« Ein anderer hatte zur Not diese Zeilen aufgefaßt: »So ist nun nichts Verdammliches an denen, die in Christo Jesu sind.«" 

Solche hier religiös verbrämte Rechtfertigung eigener Bedürfnisse wurde freilich schon seit langem kritisch gesehen: 
Martin Luther sah - nachdem er die Forderungen der Bauern zunächst unterstützt hatte - in ihrer weltlichen Auslegung seiner "Freiheit eines Christenmenschen" eine gefährliche Fehlinterpretation. 
So kritisierte Jeremias Gotthelf die Forderungen der Französischen Revolution im 17. Kapitel seines Romans "Jacobs, des Handwerksgesellen, Wanderungen durch die Schweiz" (1846/47) mit den Worten: "Sie kennen nur Rechte, von den Pflichten wollen sie nichts wissen, insofern sie nicht eine Passion oder Leidenschaft dazu haben. Sie begehren das Recht, zu ernten, was ihnen beliebt, zu schneiden, wo sie nicht gesät haben." 
In demselben Geiste wurde 1997 die Erklärung der Menschenrechte durch eine Erklärung der Menschenpflichten ergänzt. 

* "In den Breslauer Schlußkapiteln des Quintromans, in der wüsten Verbrecherkneipe läßt der Dichter das Urbild seines Professor Crampton noch einmal am Kneiptisch auftauchen." (Paul Schlenther)

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