Zehntes Kapitel
[...] Von jeher war der böhmische Josef religiös. [...]
Diesem Menschen – man sah es seinen verweilenden, grundlos dunklen Augen an – war nichts glatthin natürlich und alles Wunder. Das Einfachste war ihm wunderbar, deshalb sträubte sich eigentlich nichts in ihm, auch in Quint, dem verlaufenen Handwerksgesellen, so einfach er schien, ein Gefäß für Rätsel und Wunder anzuerkennen. Überdies war er sich nicht zu gering, um an eine nie schlummernde göttliche Führung zu glauben, und war überzeugt, die leitende Hand aus dem Unsichtbaren habe ihn nicht umsonst und scheinbar durch Zufall mit Quint hoch oben im Knieholz zusammengeführt.
Im übrigen sahen die Scharfs in ihm noch nicht den Mann, der ohne Rückhalt der Sache ergeben und gläubig war. Zwar hatte er reichlich und mehr als die anderen der gemeinsam begründeten Kasse beigesteuert. Aber es war zunächst nicht der echte und glühende Hunger nach endlicher Erfüllung der Verheißung in ihm. Er hatte nicht nur die Bibel im Kopfe, ja sogar, wie man zuweilen vermuten konnte, wahrscheinlich herzlich wenig von ihr.
Allein, hatte Quint es ihm durch seine Persönlichkeit angetan, so war es nun die phantastische Welt der evangelischen Vorgänge, die Matthäus, Markus, Lukas und Sankt Johannes erzählen, die ihn mit gespannten Augen eines Kindes an die Lippen der Scharfs gebunden hielt. Davon konnte Josef gar nicht genug hören. So wuchs er denn nach und nach mit Neugier in die Welt der Bibelgeschichten hinein, die ihm mit unbeirrbarer Überzeugung und Leidenschaft in feurigen Zungen gepredigt ward, und wurde mit jenem Ereignis vertraut, der Sendung des eingeborenen Sohnes Gottes selbst, um die Welt vom Sündenfluch ins verlorene Paradies zu erlösen: einem Ereignis, das für die Geschichte aller Geschichten und für die große, einzige Wendung im trüben Geschick der gesamten Menschheit gehalten wird. Und wirklich, der böhmische Josef dachte nun Tag und Nacht an den armen Jüngling und Gottessohn und seine traurigen irdischen Schicksale. Zwar waren es Juden gewesen, die ihn verfolgt und gekreuzigt hatten, aber er schüttelte immer wieder den Kopf und schämte sich seines Menschentums. Was freilich nun die beiden verbohrten Brüder Scharf damit sagen wollten: Quint wäre eben der damals Gekreuzigte!, das begriff sein gesunder Verstand einstweilen noch nicht. Immerhin war in ihm das Wartende. Er hoffte längst nicht mehr auf den kommenden Tag, aber schritt doch immer auf das irgendwann sichere, große, noch dunkle Ereignis zu. Manchmal wurde er ungeduldig: dann baute er sich auf irgendeinem Sterne neue Leben und neue Ereignisse aus. Gespenstergeschichten, wie die der Erscheinung Emanuel Quints, die Schubert eben zum besten gegeben, waren immer nach seinem Sinn, besonders bei Nacht, im Freien, am Reisigfeuer und wenn wirkliche oder nur eingebildete Gefahr im Verzuge war, aber auch in den Bergschenken, unter der Lampe. Nichts Besseres aber konnte ihm zustoßen als dies gruselige, nächtliche Warten auf den verfemten Emanuel Quint, umgeben von Rätseln, Gefahren und Ahnungen. Plötzlich stand der Erwartete da, und alle erhoben sich von der Erde. »Ich ersuche euch, liebe Schwestern und lieben Brüder, auseinanderzugehen«, sagte Emanuel mit bewegter Stimme und gütigem Ausdruck; wobei der Mond, der inzwischen, mehr und mehr erbleichend, höher gestiegen war, ihn so beleuchtete, daß seine Gestalt und sein Antlitz wie ganz aus weißem Lichte erschien. »Ich möchte nicht«, fuhr er fort, »daß ihr etwa um meinetwillen Leiden erduldet.« Sie sahen alle, trotz des Dämmers, wie sehr das Antlitz des falschen Heilands von Tränen feucht und verfallen war. »Ihr müßt um meinetwillen nicht leiden, denn ich bin nichts. Mögen sie mich doch niedertreten. Das ist es nicht! wahrlich, ich verdiene nichts Besseres! Aber ich wußte nicht, daß heut, zweitausend Jahre nach unseres Heilands Geburt in die Welt, ebendieselbe Welt noch so rasend und wütend in ihren Sünden ist. Lieben Brüder und Schwestern, ihr seht mich bestürzt, nicht weil diese Leute da drüben gegen mich, sondern weil sie gegen Jesum Christum selber [...]
Es muß in diesem ganzen kurzen Vorgang eine verwirrende Kraft gelegen haben, die der aufgeklärte Mensch unsrer Zeit wohl schwerlich begreifen kann. So wenigstens ist man zu glauben gezwungen, wenn man die späteren Aussagen aller dieser Menschen zusammenhält. Ihr sei gewesen, sagte die mehr als sechzig jährige Webersfrau, als wäre plötzlich ein ungeheurer Regen von Sternen vom Himmel gestürzt und als hätte sie im gleichen Augenblick die Kraft zu atmen und zu schlucken eingebüßt und sollte ersticken. Der Stellmacher sagte, er habe, als Quint sich zu dem weinenden Schwabe niederbeugte, deutlich gefühlt, wie unter ihm Acker und Feldrain geschwankt habe, und deutliches unterirdisches Rollen gehört. Der böhmische Josef erklärte, er wisse nicht, was das gewesen wäre, etwas Natürliches oder Zauberei: der ganze Himmel sei auf einmal wieder tageshell und blutrot geworden. [...]
Es war dem armen Emanuel Quint bei alledem an diesem Abend unsäglich weh und trostlos ums Herz. Von allen Seiten schien ihn etwas in einen Weg der Lüge hineinzudrängen, der zugleich ein Weg der Verachtung war. Er hatte den Wunsch, von allen Menschen erlöst zu sein, so heiß wie selten in seinem Leben, um nur allein mit Gott verbunden zu sein. Aber die Menschen umlagerten ihn: dieser bereit, ihm nachzufolgen, jener in bittrer Leibes- und Seelennot, von ihm eine solche Erlösung fordernd, die er zu geben nicht fähig war. Aber was half es, sie dauerten ihn. Er konnte sich nicht aus der Welt zurückziehen und sie, die wenigen, die ihm vertraut, enttäuschen und in Verzweiflung zurücklassen. Zwar mancher lebt und lacht und ißt und trinkt gleichgültig, hoffnungslos und mit einer kalten Verzweiflung, die nicht mehr brennt, in der Brust. Aber er konnte den Glauben nicht töten. Allzugroß war sein Mitleid und seine zärtliche Liebe, um einen solchen Mord zu begehn. Er nahm aber doch die Scharfs beiseite und sagte immer wieder aufs dringlichste: er bitte sie innig, ihn zu verlassen. »Bewahret das Geheimnis des Reichs, jedoch, lieben Brüder, verlasset mich!« – Und nun kam er leider wieder in seine biblische Art zu sprechen hinein und sagte: »Der Menschensohn ist gekommen, die Leiden des Menschensohnes zu tragen! Ich bin arm! Die Dielen im Hause meines Vaters und meiner Mutter verbrennen mir meine nackten Sohlen. Ich muß fort. Des Menschen Sohn hat kein Dach über seinem Kopf, kein Bett und kein Kissen für sein Haupt, das ihm gehört. Was hoffet ihr von mir? Was begehrt ihr von mir?«
»Daß du uns nicht vergessest«, sagte der überstiegene Martin Scharf, »daß du uns nicht vergessest, dereinst in deiner Herrlichkeit.« Jetzt mußte Quinten wohl der furchtbare Irrtum deutlich aufgehen, der sich in den Köpfen des engeren Kreises seiner Anhänger festgesetzt hatte: deshalb verwandelte sich die erneute Wahrnehmung eines so verstiegenen Glaubens in einen heftigen Ausbruch des Zorns. »Martin«, rief er, »du siehst, wer ich bin! Ich bin nicht der, für den du mich nimmst! Was willst du von mir? Wenn du teilhaben willst an meiner Herrlichkeit: du siehst, meine Herrlichkeit ist das Leiden! Ich habe keine andere irdische Herrlichkeit! Gehet und redet mit meinem Stiefvater! Gehet und redet mit meinem Bruder! Hört, was man in den Schenken und in den Häusern der Reichen von mir spricht! Und alles, was ihr dort erfahren werdet, das ist meine ganze Herrlichkeit! Wollt ihr den Rock, den ich auf den Schultern habe, nehmt ihn hin! Silber und Gold habe ich nicht und suche ich nicht! Reichtum also ist von mir, von jetzt an in alle Ewigkeit, nicht zu erwarten. Was erwartet ihr also von mir?« Und Anton rief sogleich in berauschtem Bibelton: »Wir warten auf die Erscheinung der Herrlichkeit des seligen Gottes und unseres Heilandes Jesu Christi; der sich selbst für uns gegeben hat, auf das er uns erlöste von aller Ungerechtigkeit und reinigte ihm selbst ein Volk zum Eigentum, das fleißig wäre zu guten Werken.« Emanuel atmete von Grund seines Herzens qualvoll auf. Er wollte sich losreißen, aber da drängten sich alle wiederum flehend, wie hungernde Bettler, um ihn herum und als wäre er einer, der einen Laib Brot hoch in die Luft hinaus hielte. Mitleid und Grauen kam ihn an: Mitleid mit ihrer hilflosen Leibesnot und Grauen vor der würdelosen und heimlichen Gier nach anderen als nach geistlichen Gütern. Und schließlich graute ihm auch vor dem, was in diesem Treiben ihm als eine sinnlose Lust am Unfug an sich erkenntlich ward. Fast bewog ihn dies alles, geradezu die Flucht zu ergreifen, aber da durchblitzte ihn plötzlich wieder die ganze Kraft seines eingebildeten Lehrberufs. Und nachdem er sich mit Entschiedenheit von seinen Bedrängern freigemacht hatte, schritt er entschlossenen Ganges den kleinen Hügel hinan, wo der Birnbaum stand, und befahl der Gemeinde, sich um ihn im Kreise niederzulassen. »Ihr wißt«, begann er, mit einer Stimme, die wiederum fest und einfach klang und darin das Beben des Herzens, das Beben einer vorgeahnten Inspiration fühlbar ward, »ihr wißt, daß Jesus, der Heiland, zu den Seinen, wie der Evangelist berichtet, nie anders als durch Gleichnis geredet hat ...« Weiter kam Emanuel nicht, denn im nächsten Augenblick hatte sich etwas überaus Klägliches mit ihm und seiner Gemeinde ereignet.
Elftes Kapitel
Elftes Kapitel
Es sind nachher ihrer viele gewesen, die sich ganz und voll auf die Seite derer gestellt haben, die, wie man meinte, versucht hatten, das dörfliche Ärgernis auf ihre Art aus der Welt zu schaffen. Es wurde gesagt, der Schlachtergeselle, der dem Schneider Schwabe durch einen Schlag mit einer Bohnenstange den linken Arm zerbrochen habe, sei zwar nicht geradezu berechtigt gewesen, dies zu tun, aber man müsse ihn aus seinem christlichen Gefühl heraus entschuldigen. Es wurde ferner allgemein eine Tat des böhmischen Josef verdammt, der einen Gastwirt aus dem Niederdorf und einen Pferdejungen des Bauers Karge buchstäblich in einen gewissen Froschteich, der ziemlich tief war, geschleudert hatte, wobei noch außerdem der Wirt sowohl als der Pferdejunge von ihm auf eine so erhebliche Weise tätlich mißhandelt worden war, daß jeder von ihnen nahezu vierzehn Tage das Bett hüten mußte. Aber Josef hatte sich in der Notwehr befunden.
Es war erwiesen, daß eine Rotte aufgeregter Menschen, worunter sich einige Schlepper aus dem nahen Kohlenrevier, ein Pferdehändler, ein Handelsmann und ein Schlachtermeister befanden, um neun Uhr abends das Wirtshaus zum Stern in angetrunkenem Zustand verlassen hatten, und zwar mit der ausgesprochenen Absicht, zunächst in ein anderes Gasthaus, »Emmaus Einkehr«, zu ziehen, dort mit den »Muckern« Händel zu suchen und, wenn man Emanuel Quint anträfe, diesen zunächst gründlich zu »vertobaken«, was mit verbleuen, windelweich schlagen oder fürchterlich durchprügeln gleichbedeutend ist. [...]
Unter diesen Verhältnissen wurde es auch wenig beachtet, was in der Folge mit Emanuel Quint geschah, den man, aus einigen Wunden blutend, bewußtlos in das Haus seiner Eltern gebracht hatte. Die Mutter, die wahrhaft erschrocken war und deren mütterliche Liebe mit Weinen und Schluchzen lebhaft zutage trat, pflegte seiner mit eben der Sorgfalt und etwa ein wenig zärtlicher, als es in jenen Kreisen üblich war. Nach einigen Tagen kam ein Arzt, den das Gurauer Fräulein, das von dem Mißgeschick des armen Narren auf dem Wege über die Scharfs und Bruder Nathanael unterrichtet worden war, brieflich zu dem Besuche veranlaßt hatte. Er stellte fest, daß, ungeachtet vieler Hautschürfungen, auch eine Zerreißung von Blutgefäßen in der Lunge des Kranken vorhanden war, eine Verwundung, die ein heftiger Stoß oder Schlag verursacht hatte. Nachdem der Arzt mit seiner Untersuchung fertig geworden war, riet er Emanuel und der Mutter Emanuels, die weinend neben dem ärmlichen Lager stand, eine Privatklage gegen die Täter einzureichen. Das war auch die Mutter Emanuels und sogar der Stiefvater willens zu tun: der Betroffene selbst aber weigerte sich. Er wollte von einer Klage nichts wissen. Wiederum nach einigen Tagen holte man ihn unter dem schrägen Dach der elenden Rumpelkammer, wo er gelegen hatte, hervor, nachdem es schon dunkel geworden war, und brachte ihn in ein Schwesternhaus, das die Gurauer Dame gegründet hatte und aus eigenen Mitteln unterhielt. »Da dieser arme Mensch«, so waren ihre Worte gewesen, »nun leider nicht selber zu mir kommen kann, was bleibt mir übrig, als ihn zu holen?« Drei Diakonissinnen und eine Art Oberschwester besorgten das kleine Krankenhaus, das in einem freundlichen Garten, nicht weit vom Rande des Waldes, gelegen war. Von Zeit zu Zeit kam das Fräulein selbst in einer mit Atlas ausgeschlagenen Landkutsche aus Gurau herüber, begleitet von ihrer Gesellschafterin, um sich persönlich von dem Gedeihen ihrer Stiftung zu unterrichten. Diesmal erschien sie genau am siebenten Tage, einem Montag, nach Emanuels Einlieferung. [...]
Das Gurauer Fräulein begann ihr Gespräch mit Redensarten, wie sie in ähnlichen Fällen üblich sind. »Sind Sie zufrieden mit der Verpflegung?« fragte sie. »Sind Sie mit irgend etwas unzufrieden?« fuhr sie fort, als Quint zu der ersten Frage bejahend genickt hatte. Quint schüttelte nun verneinend den Kopf. Dann trat eine kleine Stockung ein. »Es ist empörend, wie diese rohen und schlechten Menschen Sie behandelt haben«, setzte sie dann ihre Rede fort. »Ich habe gehört, daß sich der Staatsanwalt bereits mit der Sache beschäftigt hat. Man sagt mir, auch Sie, Herr Quint, wären über diese Sache bereits vernommen worden. Wir leben in einem geordneten Staat! Wo sollte das hinführen, wenn Pöbelrotten ungestraft über friedliche Menschen herfallen dürften?« Quint, der, die Hände gefaltet auf der wollenen Bettdecke, mit scharfgerichteten, aber niedergeschlagenen Augen zugehört hatte, erhob nun, mit einem langen Blick in das Antlitz der alten Dame, den Kopf, dann begann er, in einem gemessenen Tonfall und ohne jedwede Spur von Befangenheit: »Was meinen Sie, wenn man die Lehre des Heilands, dazu sein Leben und Sterben recht verstanden hat und wenn man ferner nichts Besseres und Höheres in diesem irdischen Leben kennt, als seiner Lehre, seinem Leben und Sterben nachzufolgen, kann man dann wohl mit dem Vorgehen irgendeines Gerichtes, das aus menschlichen Richtern gebildet ist, einverstanden sein oder gar jemals ein solches anrufen?« »Ich denke doch«, gab das Fräulein zurück. »Wo Obrigkeit ist, sagt unser Heiland, so ist sie von Gott verordnet, und jedermann sei ihr Untertan. Diese Menschen haben sich vergangen gegen Gott und die Obrigkeit, und darum müssen sie füglich bestraft werden.« »Hat nicht«, sagte Emanuel, »der Heiland mitunter in einem gewissen Zusammenhange Worte gesagt, die in einem anderen Zusammenhange anders lauten und andres bedeuten? Was soll man glauben, was von drei Dingen das köstlichste ist: das von Menschenhänden niedergeschriebene Leben unseres Herrn, das irdisch gelebte Leben unseres Heilandes oder das himmlische Leben unseres Herrn?« Die Dame meinte: »Das himmlische Leben.« »So«, sagte Emanuel, »denke auch ich. Ich meine, daß in diesem Leben das schlackenlose Licht des Geistes gewesen ist; daß aber Schlacken dieses heilige Licht des Geistes in seinem zweiten, irdischen Leben schon verdunkelten: um wieviel mehr in diesem dritten Leben, auf den bedruckten Blättern eines Buchs, die etwas wiedergeben, was von Menschen erzählt, von Menschen erlauscht, von Menschenhänden niedergeschrieben ist. Oder sollte es Menschen geben, die da meinen, die Glorie, die den Sohn Gottes umstrahlt, stamme etwa aus diesem Buch? Es enthält vielmehr nur einen schwachen Abglanz seiner Glorie.«
Die Dame fand sich ein wenig beunruhigt, weil ihr dies alles auf eine bedenkliche Weise einleuchtete, und Quint fuhr fort: »Ich glaube, daß dieses Wort von der Obrigkeit in einem gewissen Sinne unter die Schlacken zu rechnen ist. Jedenfalls ist es für Leute bestimmt, die außerhalb der Wiedergeburt, sowohl als Herrscher wie als Beherrschte, dem Reiche der Toten angehören. Ich aber gehöre diesem Reiche nicht an: mein Reich ist nicht von dieser Welt.«
(Gerhart Hauptmann: Der Narr in Christo Emanuel Quint, Kapitel 10 und 11)
Die Dame fand sich ein wenig beunruhigt, weil ihr dies alles auf eine bedenkliche Weise einleuchtete, und Quint fuhr fort: »Ich glaube, daß dieses Wort von der Obrigkeit in einem gewissen Sinne unter die Schlacken zu rechnen ist. Jedenfalls ist es für Leute bestimmt, die außerhalb der Wiedergeburt, sowohl als Herrscher wie als Beherrschte, dem Reiche der Toten angehören. Ich aber gehöre diesem Reiche nicht an: mein Reich ist nicht von dieser Welt.«
Jetzt aber blickte das Fräulein plötzlich den Narren in Christo mit gespanntester Neugier an. [...] Und er fuhr fort:
»Mein Reich ist nicht von dieser Welt. In dieser Welt aber, wo der Lohn der Sünde zum Stachel des Todes geworden ist, ward die Kraft der Sünde zum Gesetz. Wer es fassen mag, fasse es. Ich aber stehe unter der Kraft der Sünde und also auch unter dem Gesetze nicht. Deshalb suche ich auch meine Ehre vor dem Gesetze nicht, sondern ich suche allein in mir die Ehre des, der mich gesandt hat.«
Unser Vater richtet uns nicht! Zwischen ihm und uns ist weder Gerechtigkeit noch auch Ungerechtigkeit, sondern nur Liebe. Und keiner thront zu seiner Rechten, der mehr ist denn ich, des Menschen Sohn! Keiner thront zu seiner Linken, der mehr ist denn ich und irgendwer, der durch Jesum Christum wiedergeboren und in die Gemeinschaft des Geistes beschlossen ist. [...]
Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: ich habe die Pforten der Hölle aufgeriegelt, so stark ist die Kraft des Vaters in mir, es gibt keine Finsternis, in die Licht des Geistes nicht hinabdringen soll, es gibt keinen armen Schächer, den meine Liebe nicht befreit! Sie werden alle die Wahrheit erkennen, und ebendie Wahrheit wird alle frei machen. Was wartet ihr auf die Zukunft Gottes? Das Geheimnis ist offenbar! Gott ist nicht fern! Er ist nicht in einem fernen Lande! Gott ist hier! Gott ist bei uns! In mir ist Gott!« [...]
Zwar hatte Emanuel keineswegs die runde Behauptung aufgestellt, er sei der wiedererstandene Christ; aber dies und nichts anderes war, durch die letzten Worte des armen Hospitaliten, nach Ansicht des Fräuleins in vollem Umfange ausgedrückt, und ihr Kapotthut begann zu zittern.
»Nicht alles, was Sie gesagt haben«, erwiderte sie vorsichtig, »nicht alles ist mir ganz verständlich, lieber Herr Quint. Ich bin eine arme alte Frau, und mein Kopf ist niemals der allerbeste gewesen. In meiner Einfalt meine ich allerdings, daß die Obrigkeit Gewalt zu richten und Gewalt zu strafen hat. Ich kenne Sie noch zu wenig, Herr Quint. Ich kenne insonderheit die Geschichte Ihres Lebens und Ihrer Gotteserfahrungen nicht. Ich weiß wohl, daß geschrieben steht: ›Ich habe es den Weisen verborgen; den Ungelehrten, den Kindern und Unmündigen, denen, die arm an Geist und reines Herzens sind, dagegen zu wissen getan!‹ Ich weiß das wohl. Ich bin auch ganz erfüllt von dem, was der heilige Apostel Petrus geredet hat: ›Wir haben desto fester das prophetische Wort, und ihr tut wohl, darauf zu achten als auf ein Licht, das da scheinet in einem dunkeln Ort, bis der Tag anbreche und der Morgenstern aufgehe ... ‹«
»... in euren Herzen!« ergänzte Quint.
»Jawohl«, fuhr sie fort, »aber es werden auch äußere Zeichen geschehen, wenn der Sohn in den Wolken zur Rechten des Vaters sitzen wird am Jüngsten Tag und am Jüngsten Gericht. Hüten wir uns, in Versuchung und Stricke und in verderblichen Irrtum hineinzugeraten.« Dies alles sprach die alte Dame mehr und mehr erregt und mit einem bebenden Herzenston.
»Gott ist ein Geist«, sagte Quint dagegen, indem er, nicht ohne eine leise begütigende Zärtlichkeit, seine Hand über die zitternden Hände der Dame gleiten ließ. »Gott ist ein Geist, und die ihn anbeten, sollen ihn mit dem Geiste und mit der Wahrheit anbeten. Denket nach, liebe Frau: Gott ist ein Geist! Die heiligen Menschen Gottes, wie Petrus sagt – und wahrlich, mehr, denn Petrus war, bin ich! –, sind überall. Solange die Welt steht, haben heilige Menschen Gottes geredet, getrieben von dem Heiligen Geist. Aber dasselbe Wort, gute Frau, dadurch das Licht ins Irdische scheinet, dasselbe Wort verdunkelt das Licht, und soweit nicht der Geist das Wort tötet, so weit tötet das Wort den Geist. Aber wenn heilige Menschen Gottes reden, so wissen wir alsogleich, wes Geistes Kinder sie sind. Gott ist ein Geist: so wissen wir, zu wem und von wem sie Vater sagen. Der Vater ist Geist, und die da wiedergeboren sind durch den Heiligen Geist, die alleinwerden ihn Vater nennen und werden Gotteskinder heißen. Nicht aber die leiblich Toten, leiblich Erweckten an einem Jüngsten Tag oder Jüngsten Gericht.
Ihr müßt nicht glauben«, fuhr Quint fort, »daß Gott ein Gott der Gestorbenen ist. Er ist, wie es der Heiland uns offenbart, ein Gott der Lebendigen, nicht der Toten! Wehe denen, die eine Sünde tun wider den Geist, die nie vergeben wird, indem sie ein Bild machen von dem Geist! indem sie einen irdischen König aus ihm machen! einen Zauberer! einen König, der in den Wolken thront, umgeben von geflügelten Geißelknechten mit feurigen Geißeln! einen Mann, der uns richtet und also weder haßt noch liebt, sondern unter dem Gesetze steht, dem aus Sünde geborenen Recht. Der uns kein Vater sein kann und sein darf, denn wo wäre je ein Vater zum Richter über Leben und Tod seiner Kinder gesetzt? Ein Vater liebt seine Kinder, denn seine Kinder sind sein Blut. Wir sind aber Gottes Blut, denn ›unser Vater‹ beten wir. Unser Vater richtet uns nicht! Zwischen ihm und uns ist weder Gerechtigkeit noch auch Ungerechtigkeit, sondern nur Liebe. Und keiner thront zu seiner Rechten, der mehr ist denn ich, des Menschen Sohn! Keiner thront zu seiner Linken, der mehr ist denn ich und irgendwer, der durch Jesum Christum wiedergeboren und in die Gemeinschaft des Geistes beschlossen ist. Was fürchtet ihr? Wehe denen, die da Lügen verbreiten, als wäre der Geist nicht Geist, sondern ein Kerkermeister ewiger Abgründe! Wehe allen, die da gekommen sind, die Welt zu foltern und zu martern durch den ›Geist‹! Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: ich habe die Pforten der Hölle aufgeriegelt, so stark ist die Kraft des Vaters in mir, es gibt keine Finsternis, in die Licht des Geistes nicht hinabdringen soll, es gibt keinen armen Schächer, den meine Liebe nicht befreit! Sie werden alle die Wahrheit erkennen, und ebendie Wahrheit wird alle frei machen. Was wartet ihr auf die Zukunft Gottes? Das Geheimnis ist offenbar! Gott ist nicht fern! Er ist nicht in einem fernen Lande! Gott ist hier! Gott ist bei uns! In mir ist Gott!«
Emanuel Quint hat diese für ihn so überaus bezeichnende Gedankenfolge späterhin oft entwickelt, und die Hartnäckigkeit, mit der er das tat, wurde als für eine bestimmte Krankheitsform seines Seelenlebens beweisend erachtet. Nicht so dachte die Geistlichkeit, die in derlei verwunderlichen Deduktionen nur die Gefahr für die Dogmen der Kirche herausspürte. Übrigens war diese Geistlichkeit später in zwei Lager geteilt: im ersten Lager sah man in dem Bestechenden, geradezu Einleuchtenden dieser Verstandesoperation und Betrachtungsart die Gefahr, im anderen Lager, das bei weitem zahlreicher war, nahm man sich nicht die Mühe, in die innere Logik dieser närrischen Weisheit einzudringen, oder auch, man vermochte es nicht. Hier tat man Quinten insofern unrecht, als man ihn schlankweg für einen bewußten Scharlatan und Betrüger nahm, der, einfach auf seinen gemeinen Vorteil bedacht, die Leichtgläubigkeit derer, die niemals aussterben, ausnutzte und sich, ähnlich wie zuweilen Hypnotiseure, Spiritisten und andere Tausendkünstler tun, zynischerweise – was allerdings noch nie dagewesen war! – geradezu mit dem Nimbus des Heilands breitmachte.
Ein Erzbetrüger dieser Art war aber der arme Narr in Christo nicht, und auch das Gurauer Fräulein hielt ihn, nachdem sich längst sein Geschick vollendet hatte, niemals dafür. Sie gehörte zu denen, die behaupteten, daß er höchstens ein irregeführter, ehrlicher Heilandssucher gewesen sei, und manchmal hat sie sogar in Gegenwart vieler die Worte gesagt: »Wer weiß, er war vielleicht ein Erleuchteter, den euere neunmal kluge Theologie nicht begriffen hat.« Einstweilen griff sie jedoch nach dem Riechfläschchen! Die Worte Emanuels hatten sie ganz aus der Fassung gebracht. [...]
Ihr war, als habe ein Strahl aus dem Herzen dieses fremden und doch so vertrauten Menschen ihr innerstes Wesen brennend berührt. Ihr schwindelte förmlich, ihr pochte das eigene Herz atemraubend bis an den Hals hinauf, und wenn sie sich nicht gewaltsam beherrscht hätte, so würde sie tatsächlich am Bette des armen Hospitanten weinend niedergesunken sein.
In diesem Augenblick aber rang sich ein leises Hüsteln aus der Brust Emanuel Quints hervor, und man konnte merken, wie sich ein an seinen Mund geführtes weißes Tüchelchen rot färbte. Gleichgültig schob er es zwischen Matratze und Bettstelle. Das Gurauer Fräulein erhob sich sogleich.
»Sie haben zu viel gesprochen, lieber Herr Quint«, sagte sie, mit einem ehrlichen Schreck und gleichzeitig über und über, wie ein junges Mädchen, errötend. »Ich hätte Ihnen gern noch lange zugehört, leider geht es nicht und darf ich es nicht. Unser strenger Herr Doktor macht mir Vorwürfe.«
Die Schwester Hedwig trat heran. Sie hatte eine Zitrone zerschnitten, die Scheiben auf einen Teller gelegt und reichte diesen Emanuel. Emanuel achtete ihrer nicht.
»So Gott will«, sagte die Dame weiter, »haben wir uns nicht zum letzten Male gesehen, Herr Quint!« Und somit reichte sie ihm die Hand, die jener nahm und in der seinigen ruhen ließ, wobei er die Gurauer Dame mit einem kaum merklichen Kopfnicken anblickte. Dabei fielen ihm rötliche Strähnen seines Haupthaars über das bleiche, eingesunkene, mit Sommersprossen bedeckte Gesicht, auf das sich ein Strahl der späten Morgensonne gelegt hatte, der durch weiße Gardinen in das Zimmerchen drang. Wiederum zwischen dem »Gange nach Emmaus« und der »Himmelfahrt Christi« im Vorzimmer auf und ab rauschend, wiederholte die Dame oftmals in jenem weltlichen, resoluten Ton, für den sie bekannt war: »Ich sage euch, macht mir diesen armen Menschen gesund! Es wird nichts außer acht gelassen, Doktor, was irgend für ihn geschehen kann. – Ich werde euch Früchte und Wein schicken, ihr Mädchen!« so wandte sie sich an die Oberschwester und einige Diakonissinnen, die dabeistanden. »Tut euer Bestes! Schont meinen Rendanten nicht!«
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