Vierundzwanzigstes Kapitel
Erst am zehnten Tage nach seiner Abfertigung hatte sich Martin Scharf, mit dem zwölf Jahre alten Gustav Quint, in der Wirtschaft zum Grünen Baum eingefunden. [...]
Fünfundzwanzigstes Kapitel
Als Emanuel eines Tages von einem gewesenen Stukkateur namens Weißländer, der sich auf der Breslauer Kunstschule für das Zeichenlehrerexamen vorbereitete, laut wegen der Gegenwart des Knaben am Trinktisch getadelt wurde, sagte Quint: »Uns ist eine kurze Frist gegeben. Die Stunden, ja die Minuten, die uns gehören, sind gezählt. Der Abschied steht vor der Tür, und ihr könnt nicht wissen, unter welchen Zeichen wir leben und um welche geheime Stunde des Tages und Jahres und zu welchem Ziel wir beide einander geschenkt worden sind. Denn wir wandern von weit her und wandern weit hin, und obgleich wir hier sind, sind wir nicht hier, noch wir bei euch noch ihr bei uns. Was ihr hier suchet, das suchen wir nicht, und was ihr hier findet, dafür sind unsere Augen blind. Die Augen der Engel heiligen, was sie betrachten. Glaubt ihr, daß er weniger als ein Engel ist?« »Das ist furchtbarer Schwulst!« sagte Weißländer, worauf man ihn aber allgemein – der Professor voran – zur Ruhe verwies. [...]
Emanuels Wesen und Betragen machten in diesen Tagen durchaus den Eindruck strahlender Selbstsicherheit und Furchtlosigkeit. In seinen Gang, in seine Haltung, in seinen Blick war eine stolze Freiheit gekommen. Den Augen der Jünger erschien er beinahe gebieterisch. Zu Kurt Simon und Benjamin Glaser aber äußerte Dominik, voll überschwenglich jünglingshafter Paradoxie und Bewunderung, wie in seinen Augen dieser Tischlerssohn das geborene Genie, der geborene Fürst des Geistes, ein König und Herrscher des inneren Himmelreichs und, wie er romantisch-mystisch sich ausdrückte, mit dem Zeichen allwissenden Schmerzes an der gewölbten Stirn auf Erden der wahre Cruzifixus sei. Nicht ohne tiefe Bewegung konnten die Jünger und Freunde Quints in jener Stunde des Abschieds bleiben, als er sich endlich entschlossen hatte, den kleinen Gustav nach Haus zu entlassen. Meister, Jünger und einige Freunde gaben dem Jungen, der seine Heimreise diesmal unter der Obhut Dibiezens zurücklegen sollte, zu Fuß bis Schmolz das Geleit. [...]
Ehe der kleine Gustav, auf dem Bahnhof von Schmolz, mit Dibiez in den Wagen vierter Klasse stieg, warf er sich schluchzend an Quintens Brust. Dieser sagte zu ihm: »Wenn du lebst, wirst du mir nachfolgen! wenn du lebst, wirst du die Taten des Menschensohnes tun! Du wirst niederfahren zur Hölle, sage ich dir, und wirst am dritten Tage wieder auferstehen! Ist es aber anders bestimmt im Rat, so wirst du noch früher mit mir im Paradiese sein.« Diese Worte waren nur halblaut gesprochen, aber doch so, daß Dominik, Hedwig Krause und Martin Scharf sie vernommen hatten. [...]
So wie hier gegenüber Gustav sprach Quint auch auf dem Rückweg so, als spräche Christus selbst:
So wie hier gegenüber Gustav sprach Quint auch auf dem Rückweg so, als spräche Christus selbst:
»Ich bin der Wissende und der Sehende«, antwortete Quint. »Ihr aber seid die, die unwissend sind und nicht sehen. Deshalb sage ich euch: glaubet, dieweil ihr nicht wisset! Und wer an mich glaubet, der glaubet nicht an mich, sondern an den, der mich gesandt hat. Deshalb, wenn ihr mich lästert, so lästert ihr des Menschen Sohn, und wahrlich, wie ich gesagt habe: liebet eure Feinde! segnet, die euch fluchen!, so will ich euch dennoch lieben und segnen! – Lästert ihr aber den Geist, so lästert ihr Gottes Sohn und macht den Satan zum Herrn über euch.«
Sie näherten sich wiederum der Stadt Breslau an. Quint wies mit der Hand in die dunkle Rauchwolke, die darüber hing. Er sagte:
»Der Satan ist der Lügner, ist der Verbrecher von Anbeginn. Er ist die Lüge und ein Vater der Lüge. Er ist das Verbrechen wider den Geist und ist der Vater des Verbrechens wider den Geist. Satanas ist der Herr der Satzungen. Satanas hat Gott und die Menschen in Kerker gesperrt. Satanas sitzt auf Petri Stuhl. Satanas hat den Schlüssel des Abgrundes als Szepter in seiner Hand und verspricht, mit ihm das Himmelreich aufzuschließen. Satanas hat die Menschen zu Teufeln und Götzen aus Holz, Stein, Erz und bemalter Leinwand zu Heiligen gemacht. Ich aber sage euch: Holz, Erz, Stein, Leinwand können den Menschen nicht heiligen, sondern es ist der Mensch allein, der sie heiligen kann. Deshalb sollt ihr zu heiligen Menschen Gottes werden.
Ihr aber seid die Tempel Gottes, Tempel, die da wandeln und erfüllt sind von Gottes Geist. Andere Tempel, Tempel aus Stein und Erz, Tempel mit Türmen, in denen erzene Glocken hängen, gibt es nicht. Gottes Mund ist nicht von Eisen, undseine Zunge ist nicht ein Glockenklöppel aus Erz. [...]
Tretet doch in die Kirchen, wo sie mit schwieligen und verkrüppelten Seelen Totenknöchel und den Leichnam dessen anbeten, den Satan getötet hat, statt daß sie Engel und Gefäße des Geistes selber sind. Womit wollen sie Gott dienen, außer mit Gott? Was können sie Gott aus der Armut ihrer Knechtschaft darbieten? Meinen sie, daß er ein Vater von geprügelten Hunden, winselnden und gefesselten Knechten zu sein begehrt, dessen Füße mit Wollust auf ihren Nacken herumstampfen? Wahrlich, ich sehe die Zeit, wo eure Kirchen, eure Kanzeln und Richterstühle, eure Altäre, wo sie den Menschen Greuel zu essen gaben, werden unter den Boden gesunken sein, der ewig grünen wird von dem freien Wandel und unter den Füßen der Kinder Gottes.« Man sieht, wie diesem neuen Messias die schriftliche Überlieferung der Worte des ersten, echten Messias mit eigenen Zusätzen kaleidoskopisch durcheinanderging und wie er immer die gleichen Gedanken zu neuen Gruppierungen in sich umwälzte. Freilich schien es, so, wie alle diese Worte laut wurden, daß ein Zwang, eine innere Gewalt hier wirksam war, die alles von innen, wie mit dem Hauche der ersten Schöpfung, hervorbrachte, und jedenfalls lag für die Zuhörer ein kühner und erneuernder, wenn auch weit mehr berauschender und entzückender als klärender Sinn darin. »Was sagen Sie zu der Äußerung Quints von den Aposteln, die nach ihm gekommen sind?« fragte, als die jungen Leute später allein waren, Benjamin Glaser mit einer gewissen eigentümlichen Spannung Dominik. Dieser antwortete: »Wenn Sie eine rationalistische Antwort suchen, so bin ich dafür nicht der rechte Mann. Dazu hat mich diese Erscheinung zu sehr verzaubert. Novalis sagt: ›Alle Bezauberung geschieht durch partielle Identifikation mit dem Bezauberten‹, und ich, der Bezauberte, bin mit diesem Zauberer identifiziert. Ich verstehe, ich kenne, ich fühle ihn allenthalben. Er hat mich gezwungen, jede Sache so zu sehen, zu glauben, zu fühlen, wie er will. Und hat er nicht über alle seine Begleiter, Sie und Herrn Simon ausgenommen, eine ähnliche Macht wie über mich?" [...]
Inzwischen war die Polizei auf das Treiben im Grünen Baum aufmerksam geworden und hatte mehrere Schutzleute abgeordnet, die bei den Nachbarn und auch geradezu bei dem Wirt Informationen, wie man es nennt, einziehen sollten. Der Wirt und Schlächtermeister begünstigte Quint, weil in seinem Laden, seit er im Hause war, mehr rohe Beefsteaks und Würste aus Pferdefleisch und in seiner Gaststube mehr Bier und andere Getränke verkauft wurden. Er traktierte den Schutzmann, der in einem guten Verhältnis zu ihm stand, und gab die Versicherung, man habe es in Quint und seinen Anhängern mit harmlosen Muckern zu tun, Betbrüdern, von denen gewiß nichts zu fürchten war.
Therese Katzmarek und Martha Schubert hatten Emanuels Spur entdeckt, waren ihm nachgefolgt und hatten in nahegelegenen Fabriken Arbeit gefunden. Natürlich benutzten sie jede Gelegenheit, um in der Nähe ihres Abgotts zu sein. Der Wirt erklärte, die Weibsvölker kämen nur meist gegen Abend zur Betstunde, und wirklich hielten die Jünger Quints täglich mehrmals, auch hier, in einem hinteren Zimmer des Gasthauses Betstunde ab. In diesen Versammlungen, denen Emanuel selbst nicht beiwohnte, ging es nach dem Zeugnis des Wirtes überaus ordentlich und gesittet zu. Er machte zum Lobe dieser Zusammenkünfte geltend, daß eines Abends ein großer Stein von Sozialdemokraten, die aus einer Versammlung gekommen wären, durch die Scheiben in das Zimmer geworfen worden sei, weil der Gesang eines Kirchenliedes sie empört habe. Der Freund und Schutzmann bewies indessen, bei allem Hunger und Durst, den er entwickelte, im Ausfragen eine gewisse Zähigkeit und wollte nicht nur über Dominik, sondern auch über Hedwig Krause, Benjamin Glaser und Kurt Simon sowie über alle andren Besucher Bescheid wissen. So wagte der Wirt ihm nicht zu verschweigen, wie auch der Agitator Kurowski eines Tages unter diesen Besuchern gewesen war.
Was die Leute, die Quint noch immer täglich heimsuchten, eigentlich von ihm wollten, wußten der Wirt und die Frau des Wirtes nicht. Sie hatte gelauscht, natürlich nur zufällig, weil ihre Plättkammer neben dem Zimmerchen Quints gelegen war, und konnte versichern, irgend etwas Ungehöriges wäre jedenfalls niemals vorgekommen, auch dann nicht, wenn schlechte Weibsbilder von der Straße ihn besucht hätten. Es seien auch solche Mädchen gekommen, denen man wohl hätte anmerken können, daß sie Freuden entgegensahen und in der Verzweiflung Hilfe von ihm zu erlangen gehofft hätten. Aber er habe auch hier weder jemals ein Medikament verabreicht noch etwas Verdächtiges getan. So sei denn auch die eine etwa durch seine Worte getröstet, die andere enttäuscht davongegangen.
(Gerhart Hauptmann: Der Narr in Christo Emanuel Quint Kapitel 24 und 25
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