Dreizehntes Kapitel
[...] Und als der böhmische Josef nicht recht gewußt hatte, was er darauf erwidern sollte, hatte Schwabe seine Rede etwa folgendermaßen fortgesetzt: »Du sollst mir aufs Wort glauben, Josef, daß du, wenn du nicht ganz verblendet bist, wirst solcher Dinge teilhaftig werden, wie ihrer kaum ein Mensch je teilhaftig geworden ist. Glaube es oder glaube es nicht, aber ich, der ich hier liege, sage dir: der, um dessentwillen ich hier mit gebrochenem Arm liege, ist niemand anders als er, dessen Wiederkunft uns verheißen ist.« Josef wagte sich nun hervor und erzählte verschwiegenermaßen, was er für Quint mit seinen Fäusten verrichtet hatte. »Das wird dir im Himmel«, bemerkte der Schneider, »weiß Gott nicht vergessen werden!« Und dann erzählte er immer und immer wieder neue, lebhafte Träume, die er geträumt hatte von Emanuel Quint, bis er schließlich allerlei unverstandene Worte aus der Offenbarung Sankt Johannis einmischte, die er teils von den Brüdern Scharf, teils durch eigenes Lesen erfahren hatte. Man weiß, wie gefährlich das Lesen dieser Offenbarung, die viel weniger das, nämlich eine Offenbarung, als eine Verhüllung ist, zuweilen den Köpfen einfältiger Menschen werden kann. [...]
[...] Und als der böhmische Josef nicht recht gewußt hatte, was er darauf erwidern sollte, hatte Schwabe seine Rede etwa folgendermaßen fortgesetzt: »Du sollst mir aufs Wort glauben, Josef, daß du, wenn du nicht ganz verblendet bist, wirst solcher Dinge teilhaftig werden, wie ihrer kaum ein Mensch je teilhaftig geworden ist. Glaube es oder glaube es nicht, aber ich, der ich hier liege, sage dir: der, um dessentwillen ich hier mit gebrochenem Arm liege, ist niemand anders als er, dessen Wiederkunft uns verheißen ist.« Josef wagte sich nun hervor und erzählte verschwiegenermaßen, was er für Quint mit seinen Fäusten verrichtet hatte. »Das wird dir im Himmel«, bemerkte der Schneider, »weiß Gott nicht vergessen werden!« Und dann erzählte er immer und immer wieder neue, lebhafte Träume, die er geträumt hatte von Emanuel Quint, bis er schließlich allerlei unverstandene Worte aus der Offenbarung Sankt Johannis einmischte, die er teils von den Brüdern Scharf, teils durch eigenes Lesen erfahren hatte. Man weiß, wie gefährlich das Lesen dieser Offenbarung, die viel weniger das, nämlich eine Offenbarung, als eine Verhüllung ist, zuweilen den Köpfen einfältiger Menschen werden kann. [...]
Es würde nicht ohne Interesse sein, diesen verhängnisvollen Einfluß auf die Köpfe der Menschen in der Geschichte des Christianismus nachzuweisen. Erinnert sei einstweilen nur an das große Münsterische Delirium, wo man das neue Jerusalem in einer Wolke der allgemeinsten Raserei errichten zu können vermeinte: einer Raserei, in der die Wiedertäuferbewegung zugleich kulminierte und unterging. [...]
Nun hatte dieser das Gesehene und Gehörte, in einem Kornfeld versteckt und ausgestreckt, unter einem blauen Dache voll Lerchengetriller, bei sich erwogen und alledem nachgehangen, was im Wesen des Kameraden fremd, ja unbegreiflich erschien, und dabei hatte er auch nicht unterlassen können, sich ganz insgeheim die Frage zu stellen, ob mit dem Freunde denn im Kopfe wirklich noch alles recht richtig sei. Da aber Geheimnis und Verheißung und das Jagen nach einer Illusion auch jeder gesunden Seele natürlich sind, ebensowohl als der Wunsch, den immer vorhandenen, unbestimmten Glauben auf einen bestimmten Gegenstand richten zu können, um diesen Glauben womöglich davon zu ernähren, daran groß wachsen zu lassen, so steigerte sich trotz aller Bedenken die Neigung des böhmischen Josef, göttliche Einwirkung als Grund des verwandelten Wesens seines Freundes anzunehmen, und gleichzeitig auch die Sehnsucht, Emanuel wiederzusehn. [...]
Das bewußte Geistesleben dieser Leute wurde beherrscht von Lebensgier und einem jahrzehntelangen Harren und Hoffen in einer unsäglichen Alltagsmonotonie. Auf eine endliche Erfüllung aller zurückgestellten, leidenschaftlichen Wünsche, Neigungen und Bedürfnisse zu warten, mangelte plötzlich die Geduld. [...]
Will man sich von der geistigen Atmosphäre, in der die Talbrüder lebten, einen Begriff machen, so muß man sich in eine Zeit zurückversetzen, wo Freizügigkeit und Eisenbahn noch nicht vorhanden und der flämische Fuhrmann sowie die Postkutsche den Verkehr in die Ferne und aus der Ferne vermittelten: denn obwohl Eisenbahn und Telegraph bereits bestanden, waren doch unter den Talbrüdern ganz wenige, die ein Leben außerhalb des narkotischen Brodems ihrer Heimatscholle kennengelernt hatten. Nun ist lange noch nicht genügend erkannt, welche Bedeutung die Phantasie im Leben jedes und ganz besonders des einfachen Menschen hat. Die Phantasie ist des Menschen Mantel. Die Phantasie ist das, was der Geist erzeugt und wovon sich die Seele des Menschen nährt. Die Seele auch des verknöchertsten Mannes nährt sich aus den Schätzen der Phantasie, trotzdem er sie bekämpft und geringschätzt, wie die Lunge von Luft: und sofern es dem Manne gelänge, ebendie Phantasie zu ersticken, so stürbe sein Geist: – und auch seine Seele, so wie sein Körper, verfiele unrettbar dem Erstickungstod. In dem Bereiche der Phantasie wohnt dem Menschen der Mensch, Welt und Gott! Dem Manne das Weib! Dem Weibe der Mann! Den Eltern das Kind! Dem Kinde die Eltern! In ebendemselben Bereiche schweben und weben Hölle und Paradies. Der Einzelmensch ist in eine bunte, gebärende Wolke eingeschlossen, eine Wolke, die jeder nur um sich selber, nicht aber an seinem Nebenmenschen sieht, der in Wirklichkeit von einer ähnlichen gebärenden Phantasmagorie umgeben ist. [...]
Es wurde späterhin durch Gerichtspersonen, die Haussuchung hielten, in der Schublade des Beratungstisches im Hinterzimmer ein liegengebliebenes Schriftstück entdeckt, das, in der Handschrift des Dibiez, das Glaubensbekenntnis der Talbrüder darstellte. Es wich von dem allgemeinen protestantischen Glaubensbekenntnis nur in wenigen Punkten ab, und zwar in Artikel sieben bis zehn. Der siebente lautete: »Wir glauben an die Kräfte und Gaben des ewigen Evangeliums, das heißt: an die Gabe des Glaubens, der Erkenntnis von Geistern, der Prophezeiung, der Offenbarung, der Gesichte, der Heilkraft, der Zungen und der Verdolmetschung der Zungen, der Weisheit, der Barmherzigkeit, der Bruderliebe.« – Folgender war der achte Artikel: »Wir glauben, daß das Geheimnis vom Reiche Gottes bis heut noch nicht offenbart ist. Wir glauben und wissen aber: die Stunde der Offenbarung ist nahe. Gott hat seinen Sohn in die Welt gesandt. Fürwahr, er trägt weder Gestalt noch Schöne, sie aber halten ihn für den, der von Gott geschlagen und gemartert wäre. Es sind solche unter uns, denen der Geist gegeben hat, ihn mit leiblichen Augen zu sehen. Dieser wird das Geheimnis verkündigen. Er ist der Verachtetsten einer unter den Menschen, wir aber loben seinen Namen: Emanuel.« Wichtig ist noch der neunte Artikel: »Wir glauben an die Aufrichtung Zions und die tausendjährige Herrschaft Christi auf Erden in paradiesischer Herrlichkeit. Und wir glauben, daß wir, die mit Wachen und Beten hier Versammelten, den leiblichen Tod nicht sterben werden, bevor der Herr seine Verheißung wahr macht.« [...]
Sie verrichteten, wie gesagt werden muß, täglich die Zeremonie des Brotbrechens, und jedesmal, wenn sie zu tafeln begannen, tranken sie aus einem bestimmten Becher den Erinnerungswein des Abendmahls. Diese Tatsache erregte, als sie später bekannt wurde, sicherlich nicht mit Unrecht, ganz besonderes Ärgernis. Allein man wird als mildernden Umstand gelten lassen, daß es in wahrer Ekstase und in jener wundergläubigen, legendären Einfalt geschah, die eine törichte Glaubenshandlung der Armen im Geist zuweilen zu einer Gott wohlgefälligen Handlung umbildet und Gnade vor seinen Augen finden läßt. Wenn jemand die Talbrüder in ihren Andachten beobachtet hätte, er würde zuweilen Eindrücke aufgenommen haben, verbunden mit einer wahrhaft frommen Erschütterung, wie sie uns etwa aus den plastischen Werken der deutschen Gotik oder aus den Reliefs im Naumburger Dome zuteil werden. Maler und Plastiker der kirchlichen Kunst hätten sich vor einer Sammlung alter, wundervoller Modelle gesehen, aus niederem Stande, derb und treuherzig, wodurch ihnen vielleicht etwas von jener frommen Einfalt und Kraft wieder zuteil geworden wäre, die in den deutschen Werken des Mittelalters so unwiderstehlich wahr und erhebend ist. [...]
Vierzehntes Kapitel
Gleichsam zur Nachkur hatte das Gurauer Fräulein Emanuel Quint in der Gärtnerei ihrer Herrschaft Miltzsch untergebracht. Gern und gelassen war durch Emanuel ihr Vorschlag, der seine neue Unterkunft betraf, angehört und befolgt worden. Der Schloßgärtner, der übrigens alle Gärtnereien und Parkanlagen auf den Besitzungen des Gurauer Fräuleins unter sich hatte, hieß Heidebrand. Er war, wie alle Angestellten des Fräuleins, ein protestantischer, gottesfürchtiger Mann, der zudem über die mit Rosen besponnene Haustür die Bibelworte »Ich und mein Haus, wir wollen dem Herrn dienen!« gesetzt hatte. [...]
Quint hatte vom ersten Augenblick an ein Gefühl der Geborgenheit. Bald aber überkam ihn mitten unter dem Dufte des sommerlich warmen Blüten- und Fruchtgartens ein zarter, neuer, paradiesisch irdischer Hauch, der nichts an Duft und Wärme verlor, als die kleine Ruth Heidebrand, die fünfzehnjährige Tochter des Schloßgärtners, die ihm eine Karaffe frischen Wassers gebracht und nach seinen Wünschen gefragt hatte, nicht mehr im Zimmer war. Bald wurde Emanuel Quint von Mutter und Tochter Heidebrand auf eine Weise versorgt und gepflegt, als ob er im Hause Sohn und Bruder wäre. [...]
Vierzehntes Kapitel
Gleichsam zur Nachkur hatte das Gurauer Fräulein Emanuel Quint in der Gärtnerei ihrer Herrschaft Miltzsch untergebracht. Gern und gelassen war durch Emanuel ihr Vorschlag, der seine neue Unterkunft betraf, angehört und befolgt worden. Der Schloßgärtner, der übrigens alle Gärtnereien und Parkanlagen auf den Besitzungen des Gurauer Fräuleins unter sich hatte, hieß Heidebrand. Er war, wie alle Angestellten des Fräuleins, ein protestantischer, gottesfürchtiger Mann, der zudem über die mit Rosen besponnene Haustür die Bibelworte »Ich und mein Haus, wir wollen dem Herrn dienen!« gesetzt hatte. [...]
Quint hatte vom ersten Augenblick an ein Gefühl der Geborgenheit. Bald aber überkam ihn mitten unter dem Dufte des sommerlich warmen Blüten- und Fruchtgartens ein zarter, neuer, paradiesisch irdischer Hauch, der nichts an Duft und Wärme verlor, als die kleine Ruth Heidebrand, die fünfzehnjährige Tochter des Schloßgärtners, die ihm eine Karaffe frischen Wassers gebracht und nach seinen Wünschen gefragt hatte, nicht mehr im Zimmer war. Bald wurde Emanuel Quint von Mutter und Tochter Heidebrand auf eine Weise versorgt und gepflegt, als ob er im Hause Sohn und Bruder wäre. [...]
Die kleine Ruth war ein liebliches Kind, das in jenen Wochen, wo Quint im Hause der Eltern Wohnung nahm, sich zur Jungfrau umbildete. Also durchlebte sie jene gefährliche Frühlingszeit, wo Knospe und Blüte sich hervorwagen und alles Duftige, Blühendzarte sich dem Wechsel von Eis und Glut, von paradiesischer Wonne, wilden Stürmen und Hagelschauern unschuldig gläubig entgegensetzt. [...]
Fünfzehntes Kapitel
Eines Tages besuchte Quint im Gärtnerhause Schwester Hedwig, jene evangelische Pflegerin, die ihn im Krankenhause »Herr, hilf!« gepflegt hatte. Er begab sich mit ihr in die kleine Hütte des Schäfers hinüber, die dem Schafstalle gegenüberlag und wo, da es Sonntag nachmittags war, sich etwa zwanzig Landleute mit irgendwelchen Gebresten eingefunden hatten, die den Rat des Miltzscher Schäfers beanspruchten. Die angeketteten Schäferhunde unterbrachen ihr wildes Gebell, als der Narr mit der Schwester vorüberkam. Beide begaben sich zu dem Schäfer hinein, der das gebrochene Bein eines Erntearbeiters schiente, den zwei Männer auf seinem Bette gebracht hatten. Sie begrüßten den Schäfer, er hieß sie willkommen und stellte die beiden sogleich als Gehilfen an. Schwester Hedwig ging dem Schäfer kunstgerecht an die Hand, während Quint mit einigen Frauen redete, die ihm die Art ihrer Leiden eröffneten. Dabei schielte der Schäfer zu ihm hin und richtete Blicke auf die Schwester, die sie auf Quints Betragen hinwiesen: dieses schien für den Schäfer ein Gegenstand geheimen, bewundernden Staunens zu sein. Während der Schäfer eifrig arbeitete, schrie er laut zur Schwester hinüber durch den vom Massengeblök des nahen Schafstalls erfüllten Raum: »Sie verlassen mich alle und wollen zu ihm!«, worauf die Schwester bemerken konnte, wie sogar auch jener Patient, der eben unter den Händen des Schäfers war, zu Emanuel Quint hinüberlugte. Der Schwester war die Geduld bekannt, deren Emanuel fähig war, da sie ihn ja als Kranken gepflegt hatte. Er hatte sein Leiden hingenommen, gelassen und heiter, wie etwas, das ein guter Geist zu seinem Besten ersonnen hatte. Sie war ergriffen und an ihn gefesselt durch die wortlose Wärme seiner Seele, die sie empfand wie reinste Dankbarkeit; aber sie hatte zugleich, ein suchendes junges Weib, das sie war, etwas an sich wie eine heilende und beglückende Kraft seines Herzens gespürt. Sie wußte, was über ihn an Gerüchten in Umlauf stand. Allein da sie aus seinem Munde niemals ähnlich überspannte Dinge vernommen hatte, wie sie deren in ihren eigenen Kreisen und Konventikeln fast täglich zu hören bekam, dagegen aber eine unbestimmbare Macht aus seiner Person in sich wirken fühlte, nahm das Gerücht, das über ihn ging, mitunter in ihrem Geist den Hauch einer überirdischen Ahnung an. Sie war beglückt, als Emanuel, gern bereit, sie, wohl anderthalb Stunden weit über Land, in das Haus ihrer Eltern begleitete. Schweigend schritt er neben ihr zwischen den Stoppelfeldern hin, auf denen sich Tauben und Krähen tummelten. Es wäre vielleicht mit größerem Fug zu sagen: die Schwester schritt neben ihm. Als beide in den Hof einer romantisch unter alten Linden gelegenen Dorfschule einbogen, die der Vater des Mädchens schon seit dreißig Jahren verwaltete, schlug ihr das Herz gewaltig gegen den Hals hinauf. Aber Emanuel wurde von ihrem Vater und ihrer Mutter mit herzlicher Freude aufgenommen. [...]
Sechzehntes Kapitel
Eines Tages besuchte Quint im Gärtnerhause Schwester Hedwig, jene evangelische Pflegerin, die ihn im Krankenhause »Herr, hilf!« gepflegt hatte. Er begab sich mit ihr in die kleine Hütte des Schäfers hinüber, die dem Schafstalle gegenüberlag und wo, da es Sonntag nachmittags war, sich etwa zwanzig Landleute mit irgendwelchen Gebresten eingefunden hatten, die den Rat des Miltzscher Schäfers beanspruchten. Die angeketteten Schäferhunde unterbrachen ihr wildes Gebell, als der Narr mit der Schwester vorüberkam. Beide begaben sich zu dem Schäfer hinein, der das gebrochene Bein eines Erntearbeiters schiente, den zwei Männer auf seinem Bette gebracht hatten. Sie begrüßten den Schäfer, er hieß sie willkommen und stellte die beiden sogleich als Gehilfen an. Schwester Hedwig ging dem Schäfer kunstgerecht an die Hand, während Quint mit einigen Frauen redete, die ihm die Art ihrer Leiden eröffneten. Dabei schielte der Schäfer zu ihm hin und richtete Blicke auf die Schwester, die sie auf Quints Betragen hinwiesen: dieses schien für den Schäfer ein Gegenstand geheimen, bewundernden Staunens zu sein. Während der Schäfer eifrig arbeitete, schrie er laut zur Schwester hinüber durch den vom Massengeblök des nahen Schafstalls erfüllten Raum: »Sie verlassen mich alle und wollen zu ihm!«, worauf die Schwester bemerken konnte, wie sogar auch jener Patient, der eben unter den Händen des Schäfers war, zu Emanuel Quint hinüberlugte. Der Schwester war die Geduld bekannt, deren Emanuel fähig war, da sie ihn ja als Kranken gepflegt hatte. Er hatte sein Leiden hingenommen, gelassen und heiter, wie etwas, das ein guter Geist zu seinem Besten ersonnen hatte. Sie war ergriffen und an ihn gefesselt durch die wortlose Wärme seiner Seele, die sie empfand wie reinste Dankbarkeit; aber sie hatte zugleich, ein suchendes junges Weib, das sie war, etwas an sich wie eine heilende und beglückende Kraft seines Herzens gespürt. Sie wußte, was über ihn an Gerüchten in Umlauf stand. Allein da sie aus seinem Munde niemals ähnlich überspannte Dinge vernommen hatte, wie sie deren in ihren eigenen Kreisen und Konventikeln fast täglich zu hören bekam, dagegen aber eine unbestimmbare Macht aus seiner Person in sich wirken fühlte, nahm das Gerücht, das über ihn ging, mitunter in ihrem Geist den Hauch einer überirdischen Ahnung an. Sie war beglückt, als Emanuel, gern bereit, sie, wohl anderthalb Stunden weit über Land, in das Haus ihrer Eltern begleitete. Schweigend schritt er neben ihr zwischen den Stoppelfeldern hin, auf denen sich Tauben und Krähen tummelten. Es wäre vielleicht mit größerem Fug zu sagen: die Schwester schritt neben ihm. Als beide in den Hof einer romantisch unter alten Linden gelegenen Dorfschule einbogen, die der Vater des Mädchens schon seit dreißig Jahren verwaltete, schlug ihr das Herz gewaltig gegen den Hals hinauf. Aber Emanuel wurde von ihrem Vater und ihrer Mutter mit herzlicher Freude aufgenommen. [...]
Sechzehntes Kapitel
[...] Der arme Emanuel war ein Gottsucher. Jede andere Bemühung, jeder andere Zweck seines Daseins trat hinter dieses Suchen, dieses Gottfinden, Gottergreifen, Gottbehalten zurück. Aber nicht mit dem Verstände suchte er Gott, sondern er suchte ihn mit der Liebe. Und diese Liebe, gleichsam in den Besitz der Gottheit gelangt, strömte, nicht anders als eine Sonne der Gnade, über Brüder und Schwestern, Kinder und Greise, Lahme, Taube und Blinde aus. Das göttliche Licht weckte göttliches Licht! und dann war zwischen Quint und dem Bruder, Quint und der Schwester die Fremdheit wie ein Nebel zerstört und die reine Einheit in Gott gewonnen. So ward er zuzeiten mit Maria, zuzeiten sogar mit der somnambulen Ruth Heidebrand heimlich unter die gleiche Illumination, unter die gleiche Erleuchtung gestellt. [...]
Die Gebrüder Martin und Anton Scharf liefen wie die Leithunde einer nach Erlösung lechzenden Meute hinter ihm her. Seit sie auf dem Markte der kleinen Stadt, wo er seine erste Bußpredigt hielt, seine Spur aufgenommen hatten, ließen sie seine Fährte nicht los und folgten ihm über Flüsse und Abgründe. Dennoch sah er sie nicht als jagende Raubtiere, sondern mehr als gehetzte Schafe einer verirrten Herde an und war ihnen, wie gesagt, mehr in Kameradschaft und Liebe, in hirtenhafter Verantwortlichkeit als durch Furcht verbunden. [...]
»Nicht ich lebe, sondern Christus lebet in mir«, dieses apostolische Wort war ihm zur eigenen Natur geworden. [...]
Die mehr und mehr gefährliche Narrheit der Brüder gewann an Sicherheit, als der böhmische Josef eines Tages, den dicken Finger unter der Zeile, das Wort buchstabiert hatte: »Wer will die Auserwählten Gottes beschuldigen? Gott ist hier, der da gerecht macht.« Ein anderer hatte zur Not diese Zeilen aufgefaßt: »So ist nun nichts Verdammliches an denen, die in Christo Jesu sind.« Ein dritter Ähnliches. Endlich schlug diesen übelberatenen, plötzlich in die üppigen Freuden des Tausendjährigen Reiches aufbegehrenden Hungerleidern alles und alles zum Schlimmen aus: ihre Hoffnungen wurden eine starre, unbewegliche Einbildung. Das Liebesgebot der Schrift trat aus dem allzugeringen Bereich, das in ihrem Wesen dem Geistigen übrigbehalten war, in die Tiernatur ihrer Leiber aus, deren eingeschläferte Triebe es aufreizte. Das ängstliche Harren und die Sehnsucht der Kreatur nach Erlösung ward in einen glühenden Durst, ward in ein Fieber der Gier, in eine unstillbare Sucht verwandelt, die einer verzehrenden Krankheit glich. Und eines Nachts, nachdem man viele lange Stunden hindurch Himmel und Hölle, ewige Seligkeit, Sünde, Strafe, Gnade, Gott, Vater, Sohn und Heiligen Geist, das Neue Zion und das Jüngste Gericht in Bewegung gesetzt hatte, artete alles in einen bösen, ja schrecklichen Paroxysmus aus. Erscheinungen, Umgehen von Gespenstern, Manifestationen Verstorbener, Klopfgeister hatte der Seuchenherd der Talmühle längst zur Genüge ausgeheckt. Was nun hinzutrat, war der Ausbruch einer physischen Krankheitsform von der Art, wie sie in den glaubenseifrigen Zeiten des Mittelalters oft epidemisch gewesen sind. Es nahm seinen Anfang mit diesem Ereignis: Ein starkes blondes Bauernmädchen von achtzehn Jahren, die den Namen Therese Katzmarek trug, begann plötzlich in der Zerknirschung, unter dem Eindruck glühender Zurufe, wunderlich ihren Kopf zu schütteln, anfangs langsam, später mit einer solchen unaufhaltsamen Schnelligkeit, daß viele der bäurischen Brüder und Schwestern es merken mußten, wo sie denn ihre Andacht unterbrachen, um diesem sonderbaren Betragen des Mädchens womöglich Einhalt zu tun. Aber da war durchaus kein Halt. Anruf, ja selbst der schraubstockartige Griff von schwieligen Bauernfäusten fruchteten nicht. Der Kopf der Therese Katzmarek bewegte sich. Das wiederbefreite, unschuldig kindlich hübsche Mädchenhaupt flog, krampfhaft geworfen, hin und her, das starke Kinn von Schulter zu Schulter, und zwar so schnell, daß der Blick nicht folgen konnte und der Eindruck für das Auge verwirrend war. [...]
Jetzt war in dieser Versammlung nicht einer, den langen, dunkelhaarigen Müller Straube ausgenommen, der nicht von der gleichen sinnlosen Raserei ergriffen ward. Die Nacht war finster. Die Bäume rauschten. Die Zahl der sich Wälzenden mehrte sich, andere rannten, einander das leere Gebälk der Scheune weisend, gegen die großen Tore und kleinen Pförtchen der Scheunentenne, drängten ins Freie und wie durch ein Schlupfloch ein und aus. Von denen aber, die ins Freie gelangt waren, horchten einige, ob sie nicht durch das Ohr die ersten Laute des nahenden Welt- und Strafgerichts erhaschen könnten. Andere fielen erst hier zur Erde und schrien, indem sie gen Himmel wiesen, sie sähen dort, auf Thronen, von Engeln umgeben, über Wolken, Gott den Vater, den Sohn und den Heiligen Geist. Man stieg auf Bäume. Die Kinder weinten. Martin und Anton Scharf wateten, um irgend etwas genauer zu sehen, bis übers Knie in den dunkel gurgelnden Mühlbach hinein. Wer wüßte nicht, in welchem Umfang allein die Nacht die Dämonen im Innern der Menschen entfesseln kann und wie dagegen die schöne Klarheit der Sonne die Abgründe deckt und die Seele zu Licht und Ordnung verklärt. Was in diesen Minuten des allgemeinen Taumels geschah, das hätte der Tag nie zugelassen. Man denke, wie das Bindemittel aller Gemeinden in Jesu Christo die Liebe ist. Wie Paulus sagt, wird eine Mauer oder Wand zwischen Mensch und Mensch durch den Namen des Heilands hinweggenommen. Man erkennt die Gefahr, die mit dem Niederreißen von dergleichen Mauern gegeben ist. Weh aber, wenn außerdem, durch Unberufene, apostolische Worte wie diese gepredigt wurden: daß jedermann allein durch den Glauben gerecht werde, daß der Glaube Berge versetze und daß dem Gerechten kein Gesetz gegeben sei. Kurz, die Angst, das Entsetzen, der Jubel, die Raserei brachte viele dazu, daß sie sich, Hilfe flehend oder nicht wissend, was sie taten, umklammerten, andere fielen einander in die Arme und küßten und herzten sich. [...]
Religiöse Orgien dieser Art wiederholten sich. Gerüchte davon, die langsam durchsickerten, waren eines Tags auch zu Nathanael Schwarz gelangt. Der Unfug machte ihm schlaflose Nächte. Endlich hatte er den Entschluß gefaßt, und zwar trotz der Gefahr, die er lief, mit seinem ehrlichen Namen in das lästerliche Treiben verwickelt zu werden, persönlich zum Rechten zu sehn und womöglich dem Ärgernis zu steuern. So nahm er denn eines Abends, nachdem der verrückte Schneider Schwabe eine Menge illuminierten Unsinns gepredigt hatte, am Rednertische in der Scheune der Talmühle seine Stelle ein. Was er vorbrachte, würde unzweifelhaft eine im ganzen heilsame Wirkung getan haben, besonders hatte er auf die Scharfs, die durch Quintens Abwesenheit und durch das Treiben der Brüder beunruhigt waren, mit seinen Mahnungen, seinen Warnungen, seinen heftigen Apostrophen, ja starken Drohungen einen beinahe befreienden Eindruck gemacht. Leider ließ sich der Bruder verleiten, den Nerv der Torheit der Talbrüder anzutasten, wodurch er ihre Verrücktheit, der er, ganz gegen seine Absicht, nur Nahrung gegeben hatte, zu seinem Entsetzen in ihrer ganzen nackten Gewalt zu schmecken bekam. [...]
(Gerhart Hauptmann: Der Narr in Christo Emanuel Quint Kapitel 13, 14, 15, 16)
(Gerhart Hauptmann: Der Narr in Christo Emanuel Quint Kapitel 13, 14, 15, 16)
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