17 August 2018

Gerhart Hauptmann: Der Narr in Christo Emanuel Quint - Kapitel 26, 27 und 28

Sechsundzwanzigstes Kapitel

"Nach einiger Zeit fand im »Musenhain« jener vielbesprochene Abend statt, der den Kreis der dort Vereinigten sprengte und die Besuche in dem schlimmen Lokal zum Abschluß brachte.
Hedwig Krause war erschienen, aber nicht in Schwesterntracht, und hatte, gleichsam zum Schutz, den in persönlich moralischen Dingen äußerst braven und gediegenen Doktor Hülsebusch mitgebracht. [...]
»Gut!« sagte Hülsebusch, ohne merken zu lassen, daß er es seiner Meinung nach mit einem Irren zu tun hatte, zu Emanuel Quint. »Gut! Aber das können wir doch nicht den Kranken sagen, die zu uns kommen und fordern, daß man sie gesund machen soll. Ich sage Ihnen übrigens offen: ich bin ein Gegner des Christentums. Ich bin mit Goethe, Schiller und unseren größten Philosophen der Ansicht, es ist durch die christliche Lehre ein lebensfeindliches Element in die europäische Menschheit gekommen. Das Christentum hat zum Beispiel mit der Verdammung, Entheiligung und Entwürdigung des Geschlechtslebens allein schon maßloses Unheil angerichtet. Es hat den Vorgang der Liebe der Geschlechter, aus dem die neuen Menschen hervorgehen, auf eine Stufe mit den Vorgängen in einer Latrine oder Kloake gebracht. Ja sogar auf eine noch tiefere Stufe. Ich betrachte das Christentum noch immer überhaupt als den wahren Krebsschaden unserer gesamten menschlichen Zustände.« 
Ein Murmeln ging durch den Jüngerkreis, aber Anton Scharf, der mit stotternden Worten dreinfahren wollte, ward durch einen Wink seines Meisters zum Schweigen gebracht. Dann sagte Quint: »Es ging ein Sämann aus zu säen seinen Samen, und indem er säete, fiel etliches an den Weg und ward zertreten, und die Vögel unter dem Himmel fraßen es auf. Und etliches fiel auf den Fels, und da es aufging, verdorrete es, darum, daß es nicht Saft hatte. Und etliches fiel mitten unter die Dornen, und die Dornen gingen mit auf und erstickten es. Und etliches fiel auf ein gutes Land. Da es aber aufgehen wollte, kam der Feind des Nachts und säete Unkraut darunter aus. Und es war am Tage der Ernte kein gutes Jahr, und nach Frost und Hitze, nach Meltau und Hagelschlag waren wenige Körnchen Weizens übriggeblieben.« »Er könnte sich gut etwas deutlicher ausdrücken«, bemerkte Weißländer zynisch, »ohne seiner Stimme Zwang anzutun.« – Josefa Schweglin aber, die mit Bewußtsein die gleiche Anrede wie die Jünger brauchte, sagte: »Sie meinen also, Meister, daß unser heutiges Christentum Fels, Weg, Dornen, Hagel, Brand, Meltau, kurz alles andere, nur nicht der ursprüngliche Weizen des Sämanns ist. Nun gut! Aber ist überhaupt auch nur ein Körnchen des alten Weizens übriggeblieben?« »Was müßte geschehen, wenn ein Körnchen des alten Weizens übriggeblieben wäre?« fragte, statt zu antworten, Quint. 
»Es müßte in gute Erde gelegt werden.« »Es sei denn, daß ein Weizenkorn in die Erde falle und ersterbe, anders bleibt es allein und trägt keine Frucht«, fuhr Quint fort. »Du hast recht geredet!« »Demnach, wenn wir Sie richtig verstanden haben, sind Sie im Sinne des heute herrschenden römisch-katholischen, griechisch-katholischen oder protestantischen Christentums«, bemerkte Kurowski, »durchaus kein Christ?« »Ich bin die Auferstehung und das Leben!« sagte Quint. [...]
Plötzlich trat eine Stille ein. Der schwarze Karl [der Wirt der Gaststätte] war mit einer unheilverkündenden Blässe im Gesicht bis zu Dominik durchgedrungen und hatte sich vor dem schönen Jüngling, der vom Sitze emporgesprungen war, aufgepflanzt. »Ich möchte bloß wissen«, fragte er, »ob Sie gesagt haben, daß ich ein Ausbeuter bin.« – »Ich habe nicht speziell Sie gemeint«, erwiderte Dominik, der nicht wenig erschrocken war und den die heisere und gemeine Stimme des Kerls und überhaupt der ganze Mensch anekelte. Da hatte ihn aber die Faust des Wirtes bereits mit brutalem Griffe vorn an der Gurgel und hinten im Nacken gepackt, und er lag, eins, zwei, drei, auf der Gasse draußen.
Der Professor und die meisten Teilnehmer dieser nächtlichen Sitzung, Weißländer und einige andere ausgenommen, erhoben sich. Ihre Rufe der Entrüstung und der Mißbilligung riefen indessen an einigen anderen Tischen und in den Nebenlokalen für den Wirt eine wahre Salve des Beifalls wach. Dazwischen wurden Worte wie »Sozialistenbagage!« und »Anarchistengesindel!« ausgesprochen. Durch solche Worte und seinen Beifall ward aber der schwarze Karl auf dem Wege seiner Ehrenrettung noch weitergeführt, wobei auch seine Wut durch den Aufbruch der Tafelrunde gesteigert wurde. Er schrie, dieses Jüngelchen habe er schon längst auf dem Striche gehabt. Es sei ein Schüler, der, statt zu lernen, sich herumtreibe und ein Verhältnis zu einer Kellnerin angefangen habe, einem Mensch, das er ihm am liebsten gleich auf die Straße nachschmeißen möchte.
»Und Sie!« – mit diesen Worten trat jetzt der Wirt dicht vor Quint, dessen Miene sich nicht verändert hatte –, »wagen Sie sich noch einmal mit Ihrem Gesindel in mein Lokal herein, unterstehen Sie sich noch ein einziges Mal ...« 
Er schwieg. In dem ganzen Lokal aber war die Stille so tief geworden, daß man plötzlich die Stimme eines Harzer Kanarienvogels vernahm, der irgendwo in einem Wirtschaftsraume der Kneipe herrlich trillerte.
Nach einigen bangen Augenblicken hörte man Quintens Stimme sagen: »Womit habe ich Ihnen Böses getan?« Diejenigen aber, die, in der nun wiederum folgenden Stille, die entstellten Züge des Wirtes betrachteten, hatten eine Empfindung, als ob dieser Mensch den anderen, den armen Narren in Christo, der immer noch, nicht ohne Ruhe und Hoheit, vor ihm stand, mit einem tödlichen Hasse gehaßt haben müßte, bis zu diesem ersehnten Augenblicke, jahrtausendelang.

Leider sagte der Maler Kurz jetzt ein Wort, das seiner Tapferkeit und seiner Empfindung zwar Ehre machte, aber das böse Verhängnis des Auftrittes ward:
»Rühren Sie diesen Menschen nicht an, sonst werden Sie es zu bereuen haben!« Diesen drohend und schneidig gesprochenen Worten folgte als einzige, schreckliche Antwort des Wirtes ein Faustschlag mitten in Quintens Gesicht. Emanuel schwankte. Das linke getroffene Auge schloß sich zu, und es rann daraus Blut und Wasser über die im Augenblick unförmlich aufgeschwollene Wange herunter. Während aber der Wirt, wahrscheinlich rot vor den Augen sehend, hochatmend und aufgerissenen Mundes noch die Besinnung nicht wiedererlangt hatte, beugte Quint sein furchtbar verschwollenes Antlitz, schon wieder vollkommen seiner Herr, vor ihm hinab und küßte dem schlechten Halunken die ruchlose Hand. [...]"

Siebenundzwanzigstes Kapitel 

In dieser Nacht, als Quint mit nassen Kompressen um den Kopf im Grünen Baum zur Ruhe gegangen war, hielten die Jünger im hinteren Zimmer des Wirtshauses bis zum Morgen Rat miteinander. [...]
Als die Jünger nun, anfänglich furchtsam und flüsternd, im Hinterzimmer des Grünen Baums beim Schein einer Kerze Rat hielten, hatten sie sich in kurzer Zeit, nachdem erst das Eis gebrochen war, nicht minder im Zweifel als früher im Glauben gestärkt, wobei Emanuel nicht zum einfachen Menschen, sondern weit mehr zum Feind, zum Dämon, zum bösen Geiste sich umbildete. Emanuel wollte nichts wissen von einem sogenannten Kirchenlied. Er meinte: die schlichte, fruchtbare Einfalt der Lehre leide unter einem weichlich aufgeschwemmten Gefühl, das in einer sumpfigen Trübsal dahinsickere. Dies bekannte er eines Tages, in Gegenwart vieler, Dominik. Diese Ansicht deutete man ihm nun als Verbrechen aus. Quint hatte gesagt: »Buße? Was Buße? Tut meine Worte!« Er hatte es zu dem zerknirschten Weber Schubert gesagt, der sich vieler heimlicher Sünden anklagte. [...]
Am allermeisten bildete aber der Verkehr Emanuels mit einer wachsenden Anzahl gebildeter Menschen für die Seinen ein Ärgernis. Sie sahen erstens, nach Art ihrer Sektengenossen, Teufelswerk in aller Bildung und Wissenschaft und besaßen außerdem jenen Haß gegen bessere Kleider, edleres Aussehen und überlegene Lebensform, der dem Paria der Gesellschaft eigen ist. [...]
Quint sprach: »Habe ich euch nicht immer wieder gesagt: ohne daß ihr von neuem geboren werdet, könnt ihr das Himmelreich nicht sehen? Und seid ihr von neuem geboren worden? Seid ihr, geheiligt durch den Geist, zu heiligen Menschen Gottes geworden? Ich habe mich für euch geheiligt durch den Geist und die Wahrheit, damit auch ihr durch den Geist und die Wahrheit geheiligt werdet. Aber ihr seid nicht geheiliget worden und habt euch selbst nicht geheiliget. Deshalb seid ihr Knechte der Welt. Aber ich bin kein Knecht der Welt. Und ich bin nicht mehr in der Welt, während ich mit euch rede, die ihr nichts anderes seid als Kinder der Welt. Wahrlich, ihr habt dem Menschensohne gedient, aber ihr habt ihm gedient um des Feindes willen, habt ihm gedient um des Fürsten willen dieser Welt. Des Menschen Sohn aber hat euch gedient um Gottes willen. Denn auch ich bin gekommen, nicht daß ich herrsche, sondern diene! Ich bin dazu geboren und in die Welt gekommen, daß ich die Wahrheit zeugen soll. [...]

Achtundzwanzigstes Kapitel
[...] »Glaubt ihr vielleicht«, rief mit Entrüstung Dominik, »daß dieser Mann Gottes ausschließlich dazu in die Welt gekommen ist, euren acht blöden Köpfen den Star zu stechen?« Auf diese Worte hin brach unter den Talbrüdern ein allgemeines Toben los. Es war, als habe sich ein lange gestauter Strom von Wut, Angst, Enttäuschung und Verzweiflung Luft gemacht und rase über ein Wehr hinunter. Als wenn eine Meute, die mit der ganzen Gier des Blutinstinktes stundenlang ruhelos auf der Fährte gewesen ist, sich plötzlich durch das Wild gefoppt und um seine Beute betrogen sieht, kläfften, bellten, schrien und heulten sie durcheinander. Besonders Krezig, der Handelsmann, kannte sich vor Entrüstung nicht. Es war, als seien sie alle gleichzeitig nüchtern und auf eine neue Weise verrückt geworden. Es hatte den Anschein, als hielten sie über ihren Meister von ehedem, als über einen gemeinen Betrüger, das furchtbarste Strafgericht, wobei Worte wie: »Er hat Gott gelästert! Er hat die Heilige Schrift entehrt! Er hat Kirchen geschändet, Abendmahlskelche zerstört!« und viele ähnliche Reden laut wurden. Wer weiß, ob sich die Empörung der Seinen nicht bis zur Mißhandlung Quintens, Dominiks und seiner Geliebten gesteigert hätte, wenn nicht die erste beschwichtigende und zugleich gebieterische Bewegung des falschen Propheten zufälligerweise durch einen gewaltig prasselnden Donnerschlag, bei kaum sichtbarem Blitz, unterstützt worden wäre. Allein nun wurde es lautlos still, während draußen ein leiser Regen rieselte.
»Gott vergibt euch, denn ihr wisset nicht, was ihr tut«, sagte Quint – und während die lautlose Stille andauerte, begann er mittels eines Waschbeckens ruhig jene Zeremonie auszuüben, die an vielen Orten unter der römisch-katholischen sowie der griechisch-katholischen Kirche üblich ist: nämlich das sogenannte Fußwaschen. Die Jünger waren durch den Donnerschlag in ihren abergläubischen Herzen eingeschüchtert und diesmal im Unglauben wiederum schwankend geworden. Eine Art Grauen hielt sie gebannt, was durch die Handlung des Meisters in Hilflosigkeit und Beschämung verwandelt wurde. Es war offenbar, daß die eigentümliche Macht seiner Person noch einmal in alter Weise zu wirken begann.
Als Emanuel nach der Reihe bis zu den Füßen des böhmischen Josef gekommen war, starrte ihn dieser zuerst mit furchtbaren Augen an, rannte aber, schon von den ersten Wassertropfen wie von Weißglut berührt, gleich darauf mit Entsetzen davon.
Dies waren Emanuels letzte Worte, als die durch Schrift und Gebrauch überlieferte Zeremonie ihr Ende erreicht hatte: »Ihr nanntet mich Meister und Herr. So nun ich, den ihr Herr und Meister nanntet, mich erniedrige, so sollen sich die Herren, Meister und Gewalttäter dieser Welt voreinander erniedrigen! So sollt ihr euch voreinander erniedrigen: denn ich sage euch, wie der Knecht nicht niedriger ist als sein Herr, so ist auch der Herr nicht größer als sein Knecht. Und wer der Geringste ist in der Welt, der wird den ewigen Tag des Reiches Gottes in ihm heraufkommen sehen! Wer aber der Gewaltigste ist in der Welt, dessen Sonne geht unter.«"
(Gerhart Hauptmann: Der Narr in Christo Emanuel Quint - Kapitel 26,  27 und 28)

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