"Es war der vierundzwanzigste Dezember, und alle die jungen Damen, welche Pantoffeln und Zigarrentaschen und Polster und Kissen für den Rücken gestickt hatten, die Seelen der Männer, der jungen und alten, zu fangen, nach dem Wort des Propheten Ezechiel im dreizehnten Kapitel, Vers siebenzehn und achtzehn, waren fertig mit ihrer Arbeit und erwarteten ihrerseits die Dinge, die da kommen sollten. Es warteten sehr viele Leute – große und kleine – auf kommende gute Dinge; – der Himmel war am Morgen und Mittag so blau, wie man es sich nur wünschen mochte, die Sonne bestrahlte glitzernd die weiße[407] Weihnachtswelt und färbte sich erst am Nachmittag blutrot, als sie in den aufsteigenden Nebel hinabsank. Es schien, als ob die Sonne es wisse, daß hunderttausend Christbäume auf ihren Niedergang warteten, und es schien, als ob sie gutmütig-froh ihren Lauf beschleunige. Um fünf Minuten nach vier Uhr war das letzte Stückchen feuriges Gold hinter dem Horizont versunken – der Heilige Abend war da, war endlich gekommen, nachdem sich Millionen Kinderherzen so lange nach ihm gesehnt hatten. Um fünf Uhr läuteten alle Glocken im Lande den morgenden Festtag ein, und die Kuchen waren fertig; es wurde Friede in der Brust auch der scheuereifrigsten Hausfrau, Um sechs Uhr stand jeder festlich geschmückte Tannenbaum in vollem Lichterglanz, und wer noch froh und glücklich sein konnte, der war es gewißlich um diese Stunde, in welcher sich das Himmelreich derer, die da sind wie die Kinder, auch dem trübsten Blick öffnet und das dunkelste Herz hell macht.
Das war ein Reisetag! Das war ein Tag, um der Heimat zuzueilen! Hans Unwirrsch und Fränzchen Götz bedurften keines Zaubermantels, keines übernatürlichen Beförderungsmittels mehr; der Postwagen oder vielmehr Postschlitten, der sie gen Freudenstadt führte, war selber ein zauberhaftes Vehikel, das dreist mit Oberons fliegender Muschel, mit dem fliegenden Koffer der arabischen Märchen, mit dem hölzernen Gaul, auf welchem der Ritter Peter mit dem silbernen Schlüssel und die schöne Magelone ritten, es aufnehmen konnte. " (Wilhelm Raabe: Der Hungerpastor 33. Kapitel, S.406/407)
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