Kapitel 5
"[...] »Wie?« rief Georg mit Entsetzen, »Das hieße ja den Herzog um sein Land betrügen. Wollt Ihr ihn denn zwingen, der Regierung zu entsagen und sein schönes Württemberg mit dem Rücken anzusehen?«
»Und Ihr habt bisher geglaubt, man wolle nichts weiter als etwa Reutlingen wieder zur Reichsstadt machen? Wovon soll denn Hutten seine 42 Gesellen und ihre Diener besolden? Wovon denn Sickingen seine tausend Reiter und zwölftausend zu Fuß, wenn er nicht ein hübsches Stückchen Land damit erkämpft? Und meint Ihr, der Herzog von Bayern wolle nicht auch sein Teil? Und wir? Unsere Markung grenzt zunächst an Württemberg –.«
»Aber die Fürsten Deutschlands«, unterbrach ihn Georg ungeduldig, »meint Ihr, sie werden es ruhig mit ansehen, daß Ihr ein schönes Land in kleine Fetzen reißt? Der Kaiser, wird er es dulden, daß Ihr einen Herzog aus dem Land jagt?«
Auch dafür wußte Herr Dietrich Rat. »Es ist kein Zweifel, daß Karl seinem Vater als Kaiser folgt. Ihm selbst bieten wir das Land zur Obervormundschaft an, und wenn Österreich seinen Mantel darauf deckt, wer kann dagegen sein? Doch, seht nicht so düster aus. Wenn Euch nach Krieg gelüstet, dazu kann Rat werden. Der Adel hält noch zum Herzog, und an seinen Schlössern wird sich noch mancher die Zähne einbrechen. Wir verschwatzen übrigens das Mittagsmahl. Kommt bald nach, daß wir erfahren, was Frau Sabina uns gekocht hat.« Damit verließ der Schreiber des großen Rates von Ulm so stolzen Schrittes, als wäre er selbst schon Obervormund von Württemberg, das Zimmer seines Gastes.
Georg sandte ihm nicht die freundlichsten Blicke nach. Zürnend schob er seinen Helm, den er noch vor einer Stunde mit so freudigem Mut zu seinem ersten Kampf geschmückt hatte, in die Ecke. Mit Wehmut betrachtete er sein altes Schwert, diesen treuen Stahl, den sein Vater in manchem guten Streit geführt, den er sterbend seinem verwaisten Knaben als einziges Erbe vom Schlachtfeld gesandt hatte. »Ficht ehrlich!« war das Symbol das der Waffenschmied in die schöne Klinge gegraben hatte, und er sollte sie für eine Sache führen, die ihre Ungerechtigkeit an der Stirn trug? Wo er der Kriegskunst erfahrener Männer, der Tapferkeit des einzelnen die Entscheidung zutraute, da sollten geheime Ränke, die Politica, wie Herr Dietrich sich ausdrückte, entscheiden? Wo ihn der fröhliche Glanz der Waffen, die Aussicht auf Ruhm gelockt hatte, da sollte er nur den habgierigen Plänen dieser Menschen dienen? Ein altes Fürstenhaus, dem seine Ahnen gerne gedient hatten, sollte er von diesen Spießbürgern vertreiben sehen? Unerträglich wollte ihm auch der Gedanke scheinen, von diesem Kraft sich belehren lassen zu müssen.
Doch dem Unmut über seinen gutmütigen Wirt konnte er nicht lange Raum geben, wenn er bedachte, daß ja jene Pläne nicht in seinem Kopf gewachsen seien und daß Menschen, wie dieser politische Ratsschreiber, wenn sie einmal ein Geheimnis, einen großen Gedanken in Erfahrung gebracht haben, ihn hegen und pflegen wie ihren eigenen; daß sie sich mit dem adoptierten Kind brüsten, als wäre es Minerva, aus ihrem eigenen harten Kopf entsprungen.
Mit milderen Gedanken kam er zu seinem Gastfreund, als man ihn zu Tisch rief.
Ja, die ganze Ansicht der Dinge wurde ihm nach einigen Stunden bei weitem erträglicher, als er sich erinnerte, daß ja auch Mariens Vater dieser Partei folge. Es war ihm, als möchte die Sache doch nicht so schwarz sein, welcher Männer wie Frondsberg ihre Dienste geliehen.
Schnell fertig ist die Jugend mit dem Wort,
Das schnell sich handhabt wie des Messers Schneide –
– Gleich heißt ihr alles schändlich oder würdig,
Bös oder gut. –
Dieses wahre Wort des Dichters möge die Gesinnung Georgs bezeichnen, die Gesinnung Georgs, der vielleicht allzuschnell seine Ansicht über jene Dinge änderte. Und wie die düsteren Falten des Unmuts, auf einer jugendlichen Stirne sich schneller glätten, wie selbst schmerzliche Eindrücke in des Jünglings Seele von freundlichen Bildern leicht verdrängt werden, so erhellte auch Georgs Seele der freudige Gedanke an den Abend.
Man hat uns erzählt, daß unter die schönsten Stunden im Leben der Liebe, die gehören, wo die Erwartung sich an schöne Erinnerungen knüpft. Der Geist seie da ahnungsvoller, das Herz gehobener. So mochte auch Georg fühlen. Er träumte von den schönen Augenblicken, wo es ihm vergönnt sein werde, die Geliebte zu sehen, sie zu sprechen, ihre Hand zu fassen und in ihrem Auge zu lesen.
Kapitel 6
[...] Man blies schon längst zum ersten Tanz auf, als Georg von Sturmfeder in den Rathaussaal eintrat. Seine Blicke schweiften durch die Reihen der Tanzenden, und endlich trafen sie Marien. Sie tanzte mit einem jungen, fränkischen Ritter seiner Bekanntschaft, schien aber der eifrigen Rede, die er an sie richtete, kein Gehör zu geben. Ihr Auge suchte den Boden, ihre Miene konnte Ernst, beinahe Trauer ausdrücken; ganz anders als die übrigen Fräulein, die in der wahren Tanzseligkeit schwimmend, ein Ohr der Musik, das andere dem Tänzer liehen, und die freundlichen Augen bald ihren Bekannten, um den Beifall in ihren Mienen zu lesen, bald ihren Tänzern zuwandten, um zu prüfen, ob ihre Aufmerksamkeit auch ganz gewiß auf sie gerichtet sei.
In gehaltenen Tönen hielten jetzt die Zinken und Trompeten und endeten; Herr Dietrich Kraft hatte seinen Gastfreund bemerkt und kam, ihn, wie er versprochen, zu seinen Muhmen zu führen. Er flüsterte ihm zu, daß er selbst schon für den nächsten Tanz mit Bäschen Berta versagt sei, doch habe er soeben um Mariens Hand für seinen Gast geworben.
Beide Mädchen waren auf die Erscheinung des ihnen so interessanten Fremden vorbereitet gewesen, und dennoch bedeckte die Erinnerung dessen, was sie über ihn gesprochen, Bertas angenehme Züge mit hoher Glut, und die Verwirrung, in welche sie sein Anblick versetzte, ließ sie nicht bemerken, welches Entzücken ihm aus Mariens Auge entgegenstrahlte, wie sie bebte, wie sie mühsam nach Atem suchte, wie ihr selbst die Sprache ihre Dienste zu versagen schien.
»Da bringe ich Euch Herrn Georg von Sturmfeder, meinen lieben Gast«, begann der Ratsschreiber, »der um die Gunst bittet, mit Euch zu tanzen.«
»Wenn ich nicht schon diesen Tanz meinem Vetter zugesagt hätte«, antwortete Berta, schneller gefaßt als ihre Base, »so solltet Ihr ihn haben, aber Marie ist noch frei, die wird mit Euch tanzen.«
»So seid Ihr noch nicht versagt, Fräulein von Lichtenstein?« fragte Georg, indem er sich zu der Geliebten wandte.
»Ich bin an Euch versagt«, antwortete Marie. So hörte er denn zum ersten Mal wieder diese Stimme, die ihn so oft mit den süßesten Namen genannt hatte; er sah in diese treuen Augen, die ihn noch immer so hold anblickten wie vormals.
Die Trompeten schmetterten in den Saal; der Oberfeldleutnant Waldburg Truchseß, dem man den zweiten Tanz gegeben hatte, schritt mit seiner Tänzerin vor, die Fackelträger folgten, die Paare ordneten sich, und auch Georg ergriff Mariens Hand und schloß sich an. Jetzt suchten ihre Blicke nicht mehr den Boden, sie hingen an denen des Geliebten; und dennoch wollte es ihm scheinen, als mache sie dieses Wiedersehen nicht so glücklich wie ihn, denn noch immer lag eine düstere Wolke von Schwermut oder Trauer um ihre Stirn. Sie sah sich um, ob Dietrich und Berta, das nächste Paar nach ihnen, nicht allzu nahe seien. – Sie waren fern.
»Ach, Georg«, begann sie, »welch unglücklicher Stern hat Dich in dieses Heer geführt?«
»Du warst dieser Stern, Marie«, sagte er, »Dich habe ich auf dieser Seite geahnt, und wie glücklich bin ich, daß ich Dich fand! Kannst Du mich tadeln, daß ich die gelehrten Bücher beiseite legte und Kriegsdienste nahm? Ich habe ja kein Erbe als das Schwert meines Vaters; aber mit diesem Gut will ich wuchern, daß der deinige sehen soll, daß seine Tochter keinen Unwürdigen liebt.«
»Ach Gott! Du hast doch dem Bund noch nicht zugesagt?« unterbrach sie ihn.
»Ängstige Dich doch nicht so, mein Liebchen, ich habe noch nicht völlig zugesagt; aber es muß nächster Tage geschehen. Willst Du denn Deinem Georg nicht auch ein wenig Kriegsruhm gönnen? Warum magst Du um mich so bange sein? Dein Vater ist alt und zieht ja doch auch mit uns.«
»Ach, mein Vater, mein Vater!« klagte Marie. »Er ist ja – doch brich ab, Georg, brich ab – Berta belauscht uns; aber ich muß Dich morgen sprechen, ich muß, und sollte es meine Seligkeit kosten. Ach! Wenn ich nur wüßte wie?«
»Was ängstigt Dich denn nur so?« fragte Georg, dem es unbegreiflich war, wie Marie, statt sich der Freude des Wiedersehens hinzugeben, nur an die Gefahren dachte, denen er entgegengehe? »Du stellst Dir die Gefahren größer vor, als sie sind«, flüsterte er ihr tröstend zu. »Denke an nichts, als daß wir uns jetzt wieder haben, daß ich Deine Hand drücken darf, daß Auge in Auge sieht wie sonst. Genieße jetzt die Augenblicke, sei heiter!«
»Heiter? Oh, diese Zeiten sind vorbei, Georg! Höre und sei standhaft – mein Vater ist nicht bündisch!«
»Jesus Maria! Was sagst Du?« rief der Jüngling und beugte sich, als habe er das Wort des Unglücks nicht gehört, herab zu Marien. »Oh sag, ist denn Dein Vater nicht hier in Ulm?«
Sie hatte sich stärker geglaubt; sie konnte nicht mehr sprechen; bei dem ersten Laut wären ihre Tränen unaufhaltsam geflossen; sie antwortete nur durch einen Druck der Hand und ging mit gesenktem Haupt, nach Kraft suchend, ihren Schmerz zu bekämpfen, neben Georg her. Endlich siegte der starke Geist dieses Mädchens über die Schwäche ihrer Natur, die einem so großen, tiefen Kummer beinahe erlegen wäre. »Mein Vater«, flüsterte sie, »ist Herzog Ulrichs wärmster Freund, und sobald der Krieg entschieden ist, führt er mich heim auf den Lichtenstein!«
Betäubt wirbelten jetzt die Trommeln, in volleren Tönen schmetterten die Trompeten, sie begrüßten den Truchseß, der eben an dem Musikchor vorüberzog, er warf ihnen, wie es Sitte war, einige Silberstücke zu, und von neuem erhob sich ihr betäubender Jubel.
Das leise Gespräch der Liebenden verstummte vor der rauhen Gewalt dieser Töne, aber ihr Auge hatte sich in diesem Schiffbruch ihrer Liebe um so mehr zu sagen, und sie bemerkten nicht einmal, wie ein Geflüster über sie im Saal erging, das sie als das schönste Paar pries.
Aber nur zu wohl hatte Berta diese Bemerkungen der Menge gehört. Sie war zu gutmütig, als daß Neid darüber in ihre Seele gekommen wäre, aber sie setzte sich doch im Geist an Mariens Platz, und fand, daß man vielleicht das Paar nicht minder schön gefunden hätte. Auch das Gespräch, das zwischen den beiden begonnen hatte, fiel ihr auf. Die ernste Base, die selten oder nie mit einem Mann lange sprach, schien mehr und angelegentlicher zu reden als ihr Tänzer. Die Musik hinderte sie zu verstehen, was gesprochen wurde; die Neugierde wurde in ihr rege, sie zog ihren Tänzer näher an das vordere Paar, um ein wenig zu lauschen; aber war es Zufall oder Absicht, das Gespräch verstummte, als sie näherkam, oder wurde so leise geführt, daß sie nichts davon verstand.
Ihr Interesse an dem schönen jungen Mann wuchs mit diesen Hindernissen; noch nie war ihr der gute Vetter Kraft so lästig geworden als in diesen Augenblicken; denn die zierlichen Redensarten, womit er ihr Herz zu umspinnen gedachte, hinderten sie, jene genauer zu beobachten. Sie war froh, als endlich der Tanz endete. Denn sie durfte hoffen, daß der nächste an des jungen Ritters Seite desto angenehmer für sie sein werde.
Sie täuschte sich nicht in ihrer Hoffnung, Georg kam, sie um den nächsten Tanz zu bitten, der auch sogleich begann, und sie hüpfte fröhlich an seiner Seite in die Reihen. Aber es war nicht mehr derselbe, der vorhin mit Marien so freundlich gesprochen hatte. Verstört, einsilbig, in tiefe Gedanken versunken, war der junge Mann an ihrer Seite, und es war nur zu sichtbar, daß er sich immer erst wieder sammeln mußte, wenn er eine ihrer Fragen beantworten sollte.
War dies jener »höfliche Ritter«, welcher sie, ohne daß sie sich je gesehen hatten, so freundlich grüßte? War es derselbe, welcher so heiter, so fröhlich war, als ihn Vetter Kraft zu ihnen führte? Derselbe, der mit Marien so eifrig sich unterredet hatte? Oder sollte diese –? Ja, es war klar, Marie hatte ihm besser gefallen, ach! vielleicht weil sie die erste war, die mit ihm getanzt. Je weniger Berta gewohnt war, sich der ernsten Marie nachgesetzt zu sehen, um so mehr befremdete sie dieser Sieg ihrer Base, um so mehr glaubte sie sich beeifern zu müssen, ihren Rang, ihre Gaben geltend zu machen. Sie setzte daher mit ihrer heiteren Geschwätzigkeit das Gespräch über den bevorstehenden Krieg, das sie mit Mühe angesponnen hatte, fort, als sie nach Beendigung des Tanzes zu Marien und dem Ratsschreiber traten.
»Nun, und der wievielte Feldzug ist es denn, Herr von Sturmfeder, dem Ihr jetzt beiwohnt?«
»Es ist mein erster«, antwortete dieser kurz angebunden, denn er war unmutig darüber, daß jene ihn noch immer im Gespräch halte, da er mit Marie so gerne gesprochen hätte.
»Euer erster?« entgegnete Berta verwundert, »Ihr wollt mir etwas weismachen, da habt Ihr ja schon eine mächtige Narbe auf der Stirn.«
»Die bekam ich auf der hohen Schule«, antwortete Georg.
»Wie? Ihr seid ein Gelehrter?« fragte jene eifrig weiter. »Nun, und da seid Ihr gewiß recht weit weg gewesen; etwa in Padua oder Bologna, oder gar bei den Ketzern in Wittenberg.«
»Nicht so weit, als Ihr meint«, entgegnete er, indem er sich zu Marien wandte, »ich war in Tübingen.«
»In Tübingen«, rief Berta voll Verwunderung. Wie ein Blitz erhellte dies einzige Wort alles, was ihr bisher dunkel war, und ein Blick auf Marien, die mit niedergeschlagenen Augen, mit der Röte der Scham auf den Wangen, vor ihm stand, überzeugte sie, daß die lange Reihe von Schlüssen, die sich an jenes Wort anschlossen, ihren nur zu sicheren Grund hatten. Jetzt war ihr auf einmal klar, warum sie der artige Ritter begrüßt, warum Marie geweint, die ihn gewiß gerne auf der feindlichen Seite gesehen hätte, warum er so viel mit jener gesprochen, warum er bei ihr selbst so einsilbig war. Es war keine Frage, sie kannten sich, sie mußten sich längst gekannt haben.
Beschämung war das erste Gefühl, das bei dieser Entdeckung Bertas Herz bestürmte; sie errötete vor sich selbst, wenn sie sich gestand, nach der Aufmerksamkeit eines Mannes gestrebt zu haben, dessen Seele ein ganz anderer Gegenstand beschäftige. Unmut über Mariens Heimlichkeit verfinsterte ihre Züge. Sie suchte Entschuldigung für ihr eigenes Betragen, und fand sie nur in der Falschheit ihrer Base. Hätte diese ihr gestanden, in welchem Verhältnis sie zu dem jungen Mann stehe, sie hätte ihr nie ihre Teilnahme an ihm gezeigt; er wäre ihr dann, meinte sie, höchst gleichgültig geblieben, sie hätte nie diese Beschämung erfahren.
Berta hat an diesem Abend den unglücklichen jungen Mann keines Blickes mehr gewürdigt, was ihm übrigens über dem größeren Schmerz, der seine Seele beschäftigte, völlig entging. Sein Unglück wollte es auch, daß er nie mehr Gelegenheit fand, Marien wieder allein und ungestört zu sprechen, der Abendtanz ging zu Ende, ohne daß er über Mariens Schicksal und über die Gesinnungen ihres Vaters gewisser wurde, und Marie fand kaum noch auf der Treppe Gelegenheit, ihm zuzuflüstern, er möchte morgen in der Stadt bleiben, weil sie vielleicht irgendeine Gelegenheit finden würde, ihn zu sprechen.
Verstimmt kamen die beiden Schönen nach Hause. Berta hatte auf alle Fragen Mariens kurze Antwort gegeben, und auch diese, sei es, daß sie ahnte, was in ihrer Freundin vorgehe, sei es, weil sie selbst ein großer Schmerz beschäftigte, war nach und nach immer düsterer, einsilbiger geworden.
Aber auf beiden lastete die Störung ihres bisherigen freundschaftlichen Verhältnisses erst recht schwer, als sie ernst und schweigend in ihr Gemach traten. Sie hatten sich bisher alle jene kleinen Dienste geleistet, welche junge Mädchen nur zu noch engerer Freundschaft verbinden. Wie ganz anders war es heute! Berta hatte die silberne Nadel aus dem reichen blonden Haar gezogen, daß es in langen Ringellocken über den schönen Nacken herabströmte. Sie versuchte, es unter das Nachthäubchen zu stecken; ungewohnt, diese Arbeit ohne Mariens Hilfe zu verrichten, kam sie nicht damit zu Rande, aber zu stolz, ihrer Feindin, wie sie Marien in ihrem Sinn nannte, ihre Verlegenheit merken zu lassen, warf sie das Häubchen in die Ecke und ergriff ein Tuch, um es um das Haar zu winden.
Schweigend nahm Marie das verworfene Häubchen wieder auf und trat hinzu, das Haar ihrer Base nach gewohnter Weise zu ordnen und aufzubinden.
»Hinweg, Du Falsche!« rief die erzürnte Berta, indem sie die hilfreiche Hand zurückstieß.
»Berta; hab' ich dies um Dich verdient?« sprach Marie mit Ruhe und Sanftmut. »Oh wenn Du wüßtest, wie unglücklich ich bin, Du würdest sanfter gegen mich sein!«
»Unglücklich?« lachte jene laut auf, »unglücklich! Vielleicht, weil der artige Herr nur einmal mit Dir tanzte?«
»Du bist recht hart, Berta«, antwortete Marie, »Du bist böse auf mich und sagst mir nicht einmal warum?«
»So? Du willst also nicht wissen, daß Du mich betrogen hast? Nicht wissen, wie mich Deine Heimlichkeiten dem Spott und der Beschämung aussetzten? Ich hätte nie geglaubt, daß Du so schlecht, so falsch, an mir handeln würdest!«
Von neuem erwachte in Berta das kränkende Gefühl, sich hintangesetzt zu sehen. Ihre Tränen strömten, sie legte die heiße Stirn in die Hand, und die reichen Locken flossen über ihr zusammen und verhüllten die Weinende.
Tränen sind die Zeichen milderen Schmerzes. Marie kannte diese Tränen und fuhr mit mehr Vertrauen fort: »Berta! Du schiltst meine Heimlichkeit. Ich sehe, Du hast erraten, was ich nie von selbst sagen konnte. Setze Dich selbst in meine Lage. Ach, Du selbst, so heiter und offen Du bist, Du selbst hättest mir Dein Geheimnis nicht vertrauen können. Aber jetzt ist es ja aus. Du weißt, was meine Lippen auszusprechen sich scheuten. Ich liebe ihn, ja ich werde geliebt, und nicht erst von gestern her. Willst Du mich hören? Darf ich Dir alles sagen?«
Bertas Tränen flossen noch immer. Sie antwortete nicht auf jene Fragen, aber Marie hob an zu erzählen, wie sie Georg im Haus der seligen Muhme kennengelernt habe. Wie sie ihm gut gewesen, lange ehe er ihr seine Liebe gestanden. [...]"
(Wilhelm Hauff: Lichtenstein Kapitel 5 und 6)