14 Juli 2020

Die Weihnachtsgeschichte im Heliand (in der Übersetzung von Karl Simrock)

Christi Geburt

1 Es begab sich aber zu der Zeit, dass ein Gebot von dem Kaiser Augustus ausging, dass alle Welt geschätzt würde. 2 Und diese Schätzung war die allererste und geschah zur Zeit, da Quirinius Statthalter in Syrien war. 3 Und jedermann ging, dass er sich schätzen ließe, ein jeglicher in seine Stadt. 4 Da machte sich auf auch Josef aus Galiläa, aus der Stadt Nazareth, in das judäische Land zur Stadt Davids, die da heißt Bethlehem, darum dass er von dem Hause und Geschlechte Davids war, 5 auf dass er sich schätzen ließe mit Maria, seinem vertrauten Weibe; die war schwanger. [...] Lukas 2, 1-20

             Da brachte man von Rom aus   des mächtigen Manns
Über all dies Erdenvolk,   Octavians,
Bann und Botschaft:   über sein breites Reich
Kam es von dem Kaiser   an die Könige all,
Die daheim saßen,   soweit seine Herzoge
Über all den Landen   der Leute gewalteten.
Die Ausheimischen hieß er   die Heimat suchen,
Ihre Mahlstatt die Männer,   daß männiglich vor dem Fronboten
Bei dem Stamme stünde,   von dem er stammte,
In der Burg seiner Geburt.   Das Gebot ward geleistet
Über die weite Welt:   die Leute wanderten
Jedes zu seiner Burg.   Die Boten fuhren hin,
Die von dem Kaiser   gekommen waren,
Schriftverständige Männer,   und schrieben in Rollen ein,
Genau nachforschend,   die Namen alle
Des Lands und der Leute,   und keinem erließen sie
Den Zins und den Zoll,   den sie zahlen sollten
Männiglich von seinem Haupt.
                                                      Da schied mit den Hausgenossen
Auch Joseph der gute,   wie Gott der mächtige,
Der Waltende wollte,   sein wonnig Heim zu suchen,
Die Burg in Bethlehem,   wo beider war,
Des Mannes Mahlhof   und der Jungfrau zumal,
Maria der guten.   Da war des Mächtigen Stuhl
In alten Tagen,   des Edelkönigs,
Davids des hehren,   solang er die Herrschaft durfte
Unter den Ebräern   zu eigen haben
Und den Hochsitz behaupten.   Seines Hauses waren sie,
Seinem Stamm entsprossen,   aus gutem Geschlecht
Beide geboren.   Da hört ich, daß der Schickung Gebot
Marien mahnte   und die Macht Gottes,
Daß ihr ein Sohn da sollte   beschert werden,
In Bethlehem geboren,   der Geborenen stärkster,
Aller Könige kräftigster.   Da kam an der Menschen Licht
Der mächtige Held,   wie schon manchen Tag
Davon der Bilder viel   und der Zeichen geboten
Waren in dieser Welt.   Da ward das alles wahr,
Was spähende Männer   vordem gesprochen,
Wie er in Niedrigkeit   hernieder auf Erden
Durch seine einige Kraft   zu kommen gedächte,
Der Menschen Mundherr.   Da ihn die Mutter nahm,
Mit Gewand bewand ihn   der Weiber schönste,
Zierlichen Zeugen,   und mit den zweien Händen
Legte sie liebreich   den lieben kleinen Mann,
Das Kind, in eine Krippe,   das doch Gottes Kraft besaß,
Der Menschen mächtigster.   Die Mutter saß davor,
Die wachende Frau,   und wartete selber
Und hütete das heilige Kind.   In ihr Herz kam Zweifel nicht,
In der Magd Gemüt.

Anbetung der Hirten

                                                   Da ward es manchem kund
Über die weite Welt.   Wächter erst erfuhren 's,
Die bei den Pferden   im Freien waren,
Hütende Hirten,   die bei den Rossen hielten
Und dem Vieh auf dem Felde.   Die sahn, wie die Finsternis
In der Luft sich zerließ   und das Licht Gottes brach
Wonnig durch die Wolken,   die Wärter dort
Im Felde befangend.   Da fürchteten sich
In ihrem Mut die Männer.   Sie sahen den mächtigen
Gottesengel kommen,   und gegen sie gewandt,
Befahl er den Feldhirten:   »Fürchtet nicht für euch
Ein Leid von dem Lichte!   Liebes«, sprach er, »soll ich
Euch in Wahrheit sagen   und sehr Erwünschtes
Künden, von mächtger Kraft:   Christ ist geboren
In dieser selben Nacht,   der selige Gottessohn,
Hier in Davids Burg,   der Herr der gute.
Des mag sich freuen   das Menschengeschlecht;
Es frommt allen Völkern.   Dort mögt ihr ihn finden
In der Bethlehemsburg,   der Gebornen Mächtigsten.
Zum Zeichen habt euch das,   was ich erzählen mag
Mit wahren Worten,   daß er bewunden liegt,
Das Kind, in einer Krippe,   ob ein König über alles,
Über Erd und Himmel   und der Erde Kinder,
Der Walter dieser Welt.«   Wie er das Wort noch sprach,
So kam zu dem einen   der Engel Unzahl,
Eine heilige Heerschar   von der Himmelsau,
Ein fröhlich Volk Gottes.   Viel sprachen sie,
Manches Lobwort   dem Herrn der Lebenden,
Erhoben heiligen Sang   und schwebten zur Himmelsau
Dann wieder durch die Wolken.   Die Wärter hörten,
Wie der Engel Schar   den allmächtigen
Gott mit wahrhaften   Worten pries:
»Lob sei«, lautete   das Lied, »dem Herrn
Hoch im höchsten   Reiche der Himmel
Und Friede auf Erden   den Völkern allen,
Den gutwilligen,   die Gott erkennen
Mit lauterm Herzen.«
                                      Die Hirten verstanden wohl,
Wes sie die Meldung,   die himmlische, mahnte,
Die fröhliche Botschaft.   Gen Bethlehem kamen sie
Bei der Nacht gelaufen:   ihr Verlangen war groß,
Dort selber zu schaun   den erschienenen Christ.
Sie hatte der Engel   wohl unterwiesen
Mit lichthellen Zeichen,   zweifellosen:
So konnten sie wohl kommen   zu dem Kinde Gottes.
Da fanden sie sofort   den Fürsten der Völker,
Der Leute Herrn.   Da lobten sie Gott,
Den Waltenden, weithin   nach der Wahrheit kündend
In der Bethlehemsburg,   welch Bild ihnen war
Her von der Himmelsau   heilig erschienen,
Fröhlich auf dem Felde.   Die Frau behielt
Das alles im Herzen,   die heilige Jungfrau,
Im Gemüte die Magd,   was die Männer sprachen.
Da erzog ihn in Züchten   die zierste der Frauen,
Die Mutter, in Minne,   den Gebieter der Menschen,
Das heilige Himmelskind.   Helden besprachen sich
Am achten Tage,   der Edeln manche,
Gutmeinende, mit der   Gottesdienerin,
Daß er Heiland zum Namen   haben sollte,
Wie der Gottesengel   Gabriel befahl
Mit wahren Worten   und dem Weibe gebot,
Der Gesandte des Herrn,   da sie den Sohn empfing
Wonnig zu dieser Welt.   Ihr Wille war stark,
Daß sie ihn so heilig   halten wollte:
Da willfahrte sie dem gern.
Der Heliand ist ein frühmittelalterliches altsächsisches Großepos. In fast sechstausend (5983) stabreimenden Langzeilen wird das Leben Jesu Christi in der Form einer Evangelienharmonie nacherzählt. Den Titel Heliand erhielt das Werk von Johann Andreas Schmeller, der 1830 die erste wissenschaftliche Textausgabe veröffentlichte. Das Wort Heliand kommt im Text mehrfach vor (z. B. Vers 266) und wird als altniederdeutsche Lehnübertragung von lateinisch salvator („Erlöser“, „Heiland“) gewertet. (Wikipedia)

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