10 Juli 2020

Eichendorff: Dichter und ihre Gesellen XIII - Schluss

Fortunat
"Er sang laut alle Lieder, die er wußte, dann horchte er wieder und lachte und schimpfte und ritt immer schneller fort, bis er zuletzt mit Entsetzen bemerkte, daß ein Unwetter rasch im Anzuge war, um die Verwirrung vollkommen zu machen. Schon durchkreuzten Möwen mit ihren weißen, spitzigen Flügeln pfeilschnell die schwüle Stille. Vergeblich blickte er nach einem Obdach umher, nicht einmal der Klang einer Holzaxt ließ sich im Walde vernehmen. Nur einzelne Nebengestalten stiegen nun langsam aus den Klüften empor und setzten sich mit ihren langen, grauen Gewändern in die Wipfel der Tannen, über dem Berge vor ihm aber hatte das Gewitter allmählich sein bleifarbenes Dunkel ausgebreitet, in das die Mauerspitzen einer Ruine fast grauenhaft hineinragten. Indem er noch so zögernd stand und unentschlossen, wohin er sich wenden sollte, hörte er auf einmal den Schall einer Glocke weit aus der Höhe herüberklingen. »O du göttlicher Aberglaube!« rief er freudig aus, »was sind alle Blitzableiter der Welt gegen diesen tröstlichen Klang, der wie ein singender Engel mit gefalteten Händen über die Wälder zieht und die Wetter wendet. Ja, die Erde ist noch immer voll schöner Wunder, wir beachten sie nur nicht mehr!« Er folgte nun eilig den Klängen, die bald schwächer, bald deutlicher durch den Gewitterwind von dem Berge herabzukommen schienen, wo er vorhin die Ruine erblickt. [...]
Was ist das für ein Traumlied in den Wäldern, gleichwie die Saiten einer Harfe, die der Finger Gottes gestreift. Wahrlich, wen Gott liebhat, den stellt er einmal über allen Plunder auf die einsame Zinne der Nacht, daß er nichts als die Glocken von der Erde und vom Jenseits zusammenschlagen hört und schauernd nicht weiß, ob es Abend bedeute oder schon Morgen.« [...]
Ein neues Grab [das Grab Ottos], soeben erst mit schönem Rasen belegt, schimmerte ihnen taufrisch entgegen. Ein Mönch kniete betend daneben zwischen wilden, bunten Blumen, und Vögel flatterten und sangen lustig in dem jungen Grün, das aus allen Mauerritzen rankte, über die Gräber aber leuchtete auf einmal eine unermeßliche, prächtige Aussicht aus der rauschenden Tiefe herauf. – »Gott gebe jedem Dichter solch ein Grab!« rief Fortunat freudig überrascht. Bei dem Klang seiner Stimme aber hob sich's plötzlich unter den Blumen, er stand wie im Traum – es war Fiametta. »Ist er da!« rief sie emporfahrend aus, schüttelte die Locken aus dem Gesicht und sprang fröhlich zu ihm. [...]

Was für ein Gezwitscher ist!
Durchs Blau die Schwalben zucken Und schrein:
›Sie haben sich geküßt!‹ Vom Baum Rotkehlchen gucken.
Der Storch stolziert von Bein zu Bein; »Da muß ich fischen gehen «
Der Abend wie im Traum darein
Schaut von den stillen Höhen.
Und wie im Traum von den Höhen
Seh ich nachts meiner Liebsten Haus,
Die Wolken darüber gehen
Und löschen die Sterne aus.
Fiametta flüsterte wieder: »Ist ihm denn seine Liebste gestorben?« – »Ach, das ist eine dumme Geschichte mit seiner Amour«, erwiderte der Einsiedler, »tut mir den Gefallen und bedauert ihn nicht lange, das will er nur, sonst macht er noch immer mehr Flausen davon.« »Wer ist's denn?« fragte Fiametta. Aber der Spielmann sang von neuem:
Im Schloß ihr wohl am Fenster steht
Und herzt euch nach Gefallen,
Der Herbst schon durch die Felder geht,
Da hört ihr's unten schallen.
»Das klingt ja wie vom Felsenrand
Einst bei des Klausners Buchen,
Ich glaub, das ist der Musikant,
Der kommt zum Kindtaufskuchen.«
Und die Vögel ziehn über die Buchen,
Der Sommer der ist vorbei,
Ich aber muß wandern und suchen,
 Wo der ewige Frühling sei.
Hier entstand plötzlich ein heftiges Geräusch, und eh' sie sich's versahen, kam der Sänger in hastiger Flucht durch Laub und Äste geradezu über die alte Gartenmauer dahergeflogen, daß die losen Steine hinter ihm dreinkollerten. Fiametta drängte sich scheu an Fortunat, dieser erkannte zu seinem Erstaunen in dem Flüchtling Dryander. [...]
Da erkannte er auf einmal in Fiamettas Augen das hübsche Jägerbürschchen vom Donauschiff, und seine ganze Gedankenfolge bekam dadurch plötzlich einen anderen Zug. Fiametta errötete und fragte ihn lächelnd, ob er sich noch mit ihr schlagen wolle? Er aber besann sich nicht lange. »Oh«, entgegnete er tapfer, »ich habe damals auf dem Schiffe alles recht gut gewußt und wollte nur die Damen ein wenig schrecken.« – »Ja, ja, das hat die Schiffsgesellschaft wohl gemerkt«, sagte Fortunat, »denn sie haben deinen zurückgelassenen Hut über die Tür des Wirtshauses angenagelt zum ewigen Gedächtnis eines verwegenen Duellanten, der vor Zorn und Wut plötzlich die Verschwindsucht bekommen.«
Unterdes hatte der Einsiedler das Gebüsch hinter der Mauer untersucht und kam nun mit großem Gelächter zurück. Gerade in dem wildverwachsenen Versteck, wo Dryander das Ständchen gebracht, befand sich der zertrümmerte Eingang zur Klostergruft; dort saß seit alter Zeit ein Totengerippe, wie ein Wächter zwischen den Steinen, dem der Einsiedler, als er vorhin Tisch und Stühle abräumte, in der Eile des Doktors Schlafpelz umgehangen. Mitten im Gesange nun sich umwendend, hatte Dryander plötzlich sich selbst zu erblicken geglaubt und so mit größter Behendigkeit die Flucht ergriffen.
Jetzt erfuhr Fortunat auch, daß der Doktor schon seit längerer Zeit in einem angeblichen Bußanfall bei dem Einsiedler sich aufgehalten, der ihm sehr gut war und immer tausend Spaß und Händel hatte mit dem kuriosen Gesellen. Heut noch vor Tagesanbruch aber war Dryander gleichfalls voll Eifer ausgezogen, um Fortunaten aufzusuchen, ohne in seiner Zerstreuung vorher erst die Braut zu betrachten. Unterwegs aber hatte er bald die ganze Geschichte wieder vergessen und schlenderte wohlgemut nach dem nächsten Städtchen, wo er sich im Gasthause tüchtig restaurierte. [...]
»Was wär' denn Poesie«, meinte Victor unwillig, »wenn sie in einem Goldschnitt auf einer Morgentoilette durchzublättern wäre? Talent! das ist nur ein Blitz, den der Herr fortschleudert in die Nacht, um zu leuchten, und der sich selbst verzehrt, indem er zündet. Nein, Freunde, genug endlich ist des weichlichen Sehnens, wer gibt uns das Recht zu klagen, wenn niemand helfen mag! Nicht morsche Mönche, Quäker und alte Weiber; die Morgenfrischen, Kühnen will ich werben, die recht aus Herzensgrund nach Krieg verlangt. Auch nicht übers Meer hinüber blick' ich, wo unschuldige Völker unter Palmen vom künftigen Morgenrot träumen, mitten auf den alten, schwülen, staubigen Markt von Europa will ich hinuntersteigen, die selbstgemachten Götzen, um die das Volk der Renegaten tanzt, gelüstet's mich umzustürzen und Luft zu hauen durch den dicken Qualm, daß sie schauernd das treue Auge Gottes wiedersehen im tiefen Himmelsgrund.« – [...]
»Geht, geht«, fiel Fortunat hier ein, »über eueren Reden verlier' ich mich selber ganz. Du Victor zumal, verwirrst mir schon seit gestern, wie ein nächtliches Wetterleuchten, der Seele Grund: tiefe Klüfte mit kühnen Stegen darüber und manche alte, geliebte Gegend fernab, aber alles so fremd und wunderbar wie in Träumen. Zuletzt ist's doch dasselbe, was ich eigentlich auch meine in der Welt, ich habe nur kein anderes Metier dafür als meine Dichtkunst, und bei der will ich leben und sterben!«
Jetzt standen sie auf einem Abhang, von dem veschiedene Pfade auseinandergingen. Hier hielt Victor plötzlich an, sein Weg führte ihn noch weiter über den Gebirgskamm nach der Stadt, wo die neuen Gefährten seiner harrten. Er schien tief bewegt. [...]
»Seid frei, und alles ist euer!« – O Freunde, das ist eine Zeit! glückselig wer drin geboren war, sie auszufechten!« – Hier reichte er ihnen noch einmal die Hand und wandte sich schnell zum Walde. »Ade, du geistliches Soldatenherz!« rief Fortunat erschüttert aus. Sie sahen ihm alle noch lange schweigend nach, dann schieden auch sie voneinander. Manfred wollte dem Ruf zu einem bedeutenden Staatsdienste folgen, da hoffte er, wenn auch auf anderer Bahn, auf den frischen Gipfeln des Lebens mit Victorn wieder zusammenzutreffen. Walter aber begleitete das junge Ehepaar zunächst noch nach Hohenstein; [...]
Und als Victor sich noch einmal auf der Höhe zurückwandte, waren schon alle im Morgenrot verschwunden. [...]
So stand er noch lange in Gedanken oben – da ging die Sonne prächtig auf, die Morgenglocken klangen über die stille Gegend, und der Einsiedler sang:
Wir ziehen treulich auf die Wacht,
Wie bald kommt nicht die ew'ge Nacht
Und löschet aus der Länder Pracht,
Du schöne Welt, nimm dich in acht!
(Eichendorff: Dichter und ihre Gesellen, Kapitel 25/ 26)

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