05 Juli 2020

Golo Mann: Erinnerungen und Gedanken. Lehrjahre in Frankreich

"Dann, es muss 1937 gewesen sein, erschien auf dem Plan ein in den USA lebender Deutscher, der eine Bibliothek großer deutscher Philosophen für Yankee-Leser herausgab; es sollte die Tausend 1000 Gedanken des Soundso ... heißen, der Verlag nannte es dann The living thoughts of…, was besser klang. Der Herausgeber schien ein wenig gebildeter Mensch. Was er verlangte, war, jedes philosophische Oevre in Miniatur, aber total wiederzugeben; die große Gestalt verwandelt in eine kleine, aber der großen vom Kopf bis zu den Füßen genau gleiche, das Ganze zu versehen mit einem einführenden Essay. Nur ein Unwissender konnte dergleichen verlangen. Das Honorar betrug $ 750,-. Meine Schwester Erika, immer praktischer als ihre älteren Verwandten, zeigte sich sehr zornig darüber, zumal sie die amerikanischen Honorare kannte. [...] Trotzdem übernahm TM den Schopenhauer, Heinrich den Nietzsche, wobei die Auswahl der Texte – das Gesamtwerk in Miniatur – mir zufiel. Die Reklame des amerikanischen deutschen Barbaren für den Band Schopenhauer: Die meisterhafte Auswahl mit der genialen Einleitung!" Über die Auswahl darf ich nicht richten. Die Einleitung war so großartig nicht, zumal sie für meinen Vater eine unwillkommene Unterbrechung bedeutete; das Schopenhauer-Kapitel in Buddenbrooks ist viel schöner, so auch, was in dem Sigmund Freud-Vortrag über den Philosophen zu finden ist. Dem Onkel Heinrich musste ich ein Buch über Nietzsche schicken, das Karl Jaspers neuerdings publiziert hatte, aber der Adressat wusste mit dem professoralen Stil wenig anzufangen. Ihm schrieb ich, dass ich zwar von meiner Arbeitszeit wenig hielte, aber einen geringen Lohn diesmal doch haben sollte: wie wäre es mit 5 % des Honorars? Und wirklich, nach dem jener Barbar das kläglich Ausgemachte bezahlt hatte, erhielt ich eines Tages aus Nizza 37 1/2 Dollar überwiesen; der Oheim nahm es genau." (Seite 145)

In Rennes herrschte der Bischof"
"Zum Beispiel gab sein Ordinariat eine Wochenschrift heraus, die neben anderem, die in den Kinos der Stadt gebotenen Filme zensurierte: "Sehr zu empfehlen." "Nur für Erwachsene." "Bedenklich." "sehr bedenklich." "Absolut verwerflich." Die letztere Qualifikation war eine Art Todesurteil: der Film verschwand, wenn nicht sofort, so doch am Ende einer Woche. Dafür gab es ein Kino, das von notorischen Atheisten, Proletarienr und "linken" Studenten – in Rennes eine Minderheit - Und anderen verdächtigen Gesindel aufgesucht wurde. Wenn hier ein zu grausamen Tod verurteilt der Verbrecher – es war der Räuber Cartouche – von der Leinwand her verkündete: "Es gibt keinen Gott!", so reagierten die Zuschauer mit Beifallsrufen und lautem Gelächter.

Noch immer das zweigeteilte Frankreich, wobei hier, im Gegensatz zu Paris, die fromme Seite die stärkere blieb." (Seite 150)

sieh auch:
https://fontanefan3.blogspot.com/2020/07/meine-leseerfahrungen-in-sachen-golo.html

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