30 November 2024

Andreas Reckwitz: Verlust. Ein Grundproblem der Moderne

 https://www.perlentaucher.de/buch/andreas-reckwitz/verlust.html

Andreas Reckwitz: Verlust, Suhrkamp, Berlin 2024

Erfreulich ist an den Rezensionen, dass alle Reckwitz relativ große Nüchternheit nachsagen, bemerkenswert (oder naheliegend?) dass Reckwitz nachgesagt wird, er übergehe reale Verluste und andererseits, er sei auf vermeintliche Verluste fixiert.

Verlagstext: "[...] Unter dem Banner des Fortschritts, so legt er dar, wird die westliche Moderne schon immer von einer Verlustparadoxie angetrieben: Sie will (und kann) Verlusterfahrungen reduzieren - und potenziert sie zugleich. Dieses fragile Arrangement hatte lange Bestand, doch in der verletzlichen Spätmoderne kollabiert es. Das Fortschrittsnarrativ büßt massiv an Glaubwürdigkeit ein, Verluste lassen sich nicht mehr unsichtbar machen. Das führt zu einer der existenziellen Fragen des 21. Jahrhunderts: Können Gesellschaften modern bleiben und sich zugleich produktiv mit Verlusten auseinandersetzen? [...]"

 Stefan Reinecke:" [...] In Anlehnung an Virilio spricht Reckwitz von einer Gesellschaft, in der die technische Entwicklung stetig weitergeht, die Zukunftsvision aber abhanden gekommen ist. Die eurozentrische Perspektive des Buches reflektiert Reckwitz selbst, so ganz zufrieden ist der Rezensent aber nicht damit, dass er in seiner Analyse die Rolle von China und Indien vernachlässigt." 

Guillaume Paoli: "[...] Denn die Grundprämisse des Buchs, nämlich "Verlust" nicht von seiner Konkretion her, sondern als Diskursphänomen behandeln zu wollen - also die Art und Weise, wie Verluste gesellschaftlich aufgearbeitet und thematisiert werden - findet Paoli wenig ertragreich. Die sich daraus ergebende Formel des "doing loss" passe zwar wunderbar zur praxistheoretischen Ausrichtung Reckwitz', sei aber eben blind für gewisse sehr reale Verluste wie etwa den der Biodiversität, der diskursiv wenig präsent und doch stetig fortschreitend sei, moniert Paoli. Auch die vehemente Abgrenzung des Autors von jeglicher Kulturkritik scheint den Kritiker zu nerven; die Beanspruchung einer neutralen Beobachterposition ist für ihn schlicht veraltet - und, ebenso wie Reckwitz' abschließende drei Zukunftsszenarien, recht unbrauchbar für den Umgang mit Verlusten."

Thomas Steinfeld : "[...] Besonders kritisiert Steinfeld die Fixierung auf vermeintliche Verluste, hinter denen oft gar keine realen Schäden stecken, sondern versteckte Ansprüche, wie etwa die Sehnsucht nach einer "biodeutsch reinen Volksgemeinschaft". Reckwitz' "Universalsoziologie" gerät dadurch eher zu einer Bestätigung landläufiger Vorurteile als zu einer eine originellen Analyse, meint der Kritiker. Wie nun der richtige Umgang mit dem Verlust aussieht, kann Reckwitz letztlich auch nicht sagen - ob seine Soziologie da weiterhelfen kann, "bleibt abzuwarten", schließt Steinfeld.

Dass man angesichts des Klimawandels, der schmelzenden Eisdecke, der verheerenden Brände jenseits des nördlichen Polarkreise, des weltweiten Anstiegs des Meeresspiegels und des zunehmenden Verlusts der Erwärmung bremsenden Eigenschaft der Weltmeere von "vermeintlichen" Verlusten sprechen kann, ohne sich die Mühe zu machen, den Klimawandel abzuleugnen, beeindruckt mich. Denn dass es Menschen gibt, die unter Realitätsverlust leiden und deshalb "Verluste" da sehen, wo nichts Wertvolles verloren geht, beweist ja nicht, dass es keine realen Verluste gibt. 

Und wenn von den weltweiten Verlusten nicht alle genannt worden sind, bedeutet das erst recht nicht, dass es überhaupt keine gäbe. 

17 November 2024

Henry de Montherlant: Die Aussätzigen

 Henry de Montherlant: Die Aussätzigen

"[...] Zu den prägenden Einflüssen seiner Jugend gehörten, neben seiner Familie, Sport, Literatur und Stierkampf. In seinen Anfangswerken sind Ich-Kult, Männlichkeit und der Kampf ums Dasein von ihm idealisierte Themen. Montherlant war vor allem von D’Annunzio, Nietzsche und Barrès beeinflusst. Erst später setzte er sich mit den Geschehnissen und der Gesellschaft seiner Zeit kritisch auseinander. Seine Stilsicherheit und sein gutes Vermögen, Menschen psychologisch zu analysieren, brachten ihm schon früh den Ruf eines Klassikers ein.

Montherlant war bekannt für antifeministische und frauenfeindliche Ansichten, die Simone de Beauvoir in einem Kapitel von Das andere Geschlecht  behandelte.[...][5] (Wikipedia)

Zitate:

  • "Am Unheil der Welt leiden und zu gleicher Zeit glücklich sein: eine jener absurden Gleichungen, deren ich mich stets befleißigt habe" - Tagebücher 1930-1944, Kiepenheuer & Witsch, Köln/Berlin 1961, S. 322
  • "Das einzige Rezept: schöne Werke schaffen. Dann komme, was mag." - Tagebücher 1930-1944, Kiepenheuer & Witsch, Köln/Berlin 1961, S. 14
  • "Das Mädchen wird unter Tränen zur Frau und unter Stöhnen zur Mutter." - Die jungen Mädchen
  • "Die Geschichte? Das gleiche Stück mit unterschiedlichen Rollenbesetzung." - Tagebücher 1930-1944, Kiepenheuer & Witsch, Köln/Berlin 1961, S.168
  • "Eine anständige Frau ist eine, die nicht oder nicht mehr imstande ist, mehr als nur einen Mann unglücklich zu machen." - Erbarmen mit den Frauen
  • "Die Hoffnung ist der Wille der Schwachen" - Nutzloses Dienen, S.130, Leipzig, 1939
  • "Man bezahlt die Frauen, damit sie kommen, und man bezahlt sie, damit sie verschwinden; das ist ihr Schicksal." - Die Aussätzigen
  • "Wer dem Publikum - seiner "Kundschaft" - nicht zu mißfallen wünscht, ist, wie er es auch anstellen mag, ein Krämer. Sogar und vor allem, wenn er Literat ist. - Tagebücher 1930-1944, Kiepenheuer & Witsch, Köln/Berlin 1961, S.60
Das Buch fiel mir in einem öffentlichen Bücherregal in die Hand, weil ich für eine Kurzreise kein Buch mitgenommen hatte. Ich bin zufrieden, dass ich mir jetzt ein Vorstellung von ihm machen konnte.
Die folgenden Textauszüge erklären zum einen den Titel "Die Aussätzigen", weil davon berichtet wird, wie der Protagonist mit der aussätzigen Rhadidja schläft und dann sein Verhältnis zu zwei anderen Frauen: Andrée Hacquebaut schreibt Briefe die den Protagonisten charakterisieren (diese Briefe finden sich ca. alle 20 Seiten), von denen aber immer wieder festgestellt wird: "Dieser Brief ist vom Empfänger ungeöffnet abgelegt worden." Solange Dandillot hat er in Genua kennengelernt und schreibt einen Roman über sie. Er findet sie sehr langweilig, doch nimmt er sie als Ausgangsfigur für die Heldin, die re für seinen neuen Roman erfindet. Während des Schreibens hält er sich monatelang von ihr entfernt. Zum Ausgleich dafür, dass er ihr gegenüber so herzlos war, heiratet er sie. 
Die Phase, in der sich die beiden kennenlernen, kommt im Roman nicht vor. 














15 November 2024

Chatwin: Traumpfade

 Songlines oder Traumpfade nennen die Einwanderer Australiens die in Lieder gefassten Nachschöpfungen der Natur (Landschaftsbeschreibungen) der Aborigines. (Diese nennen ihre Beschreibungen "Fußspuren der Ahnen" oder "Weg des Gesetzes".)

Neben der Kodierung der äußeren Natur im Lied steht für die Aborigines die Verkörperung der Seelen der Ahnen in Tschuringas oder Tjurungas, die in Höhlen aufbewahrt werden.
Bei seinen Reflexionen über das Nomadentum verweist Bruce Chatwin, der Verfasser des Buches "The Songlines" (deutsch: Traumpfade), darauf, dass Kain, der Ackerbauer, zum Mörder an Abel, dem Hirten, wurde und Gott von ihm als Sühne verlangt, dass er seinerseits zum Umherziehenden wird, im Lande Nod, dem Bereich des Umherwanderns, der Wildnis oder Wüste.
Meiner Meinung nach ist deutlich genug, dass Chatwin im Roman nicht eine wissenschaftlich treffende Beschreibung der Vorstellungen der Aborigines versucht, sondern etwas anderes: Die Übersetzung des Fremdartigen, das er erlebt hat, in eine dichterische Welt, die es einem Europäer von heute ermöglicht, eine eigene Vorstellung von dem zu gewinnen, was die Welt der Aborigines von der unsrigen unterscheidet. 
Deshalb schaltet er zwischen seine Darstellung der Welt der Aborigines den "Fachmann" Akardy ein, der die Erkenntnisse, die er von den Aborigenes hat, nur unter dem Siegel der Verschwiegenheit bekommen hat, seine Erkenntnisse aber weitergibt, so wie er - um die Welt der Aborigines zu schützen - seine Erkenntnisse darüber, was man beim Eisenbahnbau nicht zerstören sollte, der Eisenbahngesellschaft weitergibt.


Zumindest theoretisch konnte ganz Australien wie eine Partitur gelesen werden. Es gab kaum einen Felsen oder einen Bach im Land, der nicht gesungen werden konnte oder gesungen worden war. Man musste sich die Songlines wie Spaghetti aus Iliaden und Odysseen vorstellen, die sich hier hin und dorthin schlängelten, wobei jede 'Episode' den geologischen Formen abzulesen war.
"Unter Episode, verstehen Sie 'heilige Stätte'?" fragte ich. "So ist es." 
"Stätten wie die, die sie zur Zeit für die Eisenbahngesellschaft vermessen?" 
"Sie müssen es so sehen", sagte er. Überall im Busch können sie auf irgendeine Stelle in der Landschaft zeigen und den Aborigine an ihrer Seite fragen: 'Was für eine Geschichte ist das?' oder: 'Wer ist das?' Es ist möglich, dass er 'Känguru oder 'Wellensittich' oder 'Eidechse' antwortet, je nachdem, welcher Ahne diesen Weg gegangen ist."
"Und die Entfernung zwischen zwei solcher Stätten kann als Abschnitt des Lieds gemessen werden?"
"Deshalb", sagte Arkadi, "habe ich so viele Schwierigkeiten mit den Leuten von der Eisenbahn." (S.24)
Man musste es natürlich nicht, sondern die 'Ilias als Spaghettifaden' ist ein Bild, das dem Leser ermöglichen soll, sich eine eigene Vorstellung darüber zu machen, wie eine Landschaft in ein Lied umzusetzen sei und wie man ein Lied als Orientierungshilfe in der (möglichst über Jahrtausende unveränderten) Landschaft verwenden könne.

"Es war nicht leicht, einen Vermesser davon zu überzeugen, dass ein Haufen Flusssteine, die Eier einer Regenbogenschlange oder ein rötlicher Sandsteinbrocken die Leber eines mit dem Speer erlegten Kängurus war. Schwerer noch war es, ihm einsichtig zu machen, dass eine öde Schotterlandschaft die musikalische Entsprechung zur Beethovens Opus 111 war.
Indem sie die Welt ins Dasein, sangen, sagte er, seien die Ahnen Dichter in der ursprünglich Bedeutung des Wortes poesis gewesen, das 'Schöpfung' besage. Kein Aborigine könne sich vorstellen, dass die erschaffene Welt in irgendeiner Weise unvollkommen sei. Sein religiöses Leben habe nur ein Ziel: das Land so zu erhalten, wie es war und wie es sein sollte. Ein Mann, der 'Walkabout' ging, machte eine rituelle Reise. Er folgte den Fußspuren seines Ahnen. Er sang die Strophen seines Ahnen, ohne ein Wort oder eine Note zu ändern – und er schuf so die Schöpfung neu." [...] 
Aborigines konnten nicht glauben, dass das Land existierte, bevor die Ahnen es sangen. [...]
Aborigines glaubten, dass die 'lebenden Dinge' im verborgenen unter der Erdkruste gemacht worden waren, wie auch alle Maschinen des weißen Mannes- seine Flugzeuge, seine Gewehre, seine Toyota-Landcruiser - und aller Erfindungen, die man noch erfinden würde, sie schlummerten unter der Oberfläche und warteten, bis sie gerufen wurden.
"Vielleicht können sie die Eisenbahn in die erschaffene Welt Gottes zurücksingen?" schlug ich vor.
"Da können Sie sicher sein", sagte Arkady. (S. 25/26).
 
vgl. dazu das Nationalepos der Finnen Kalevala, wonach die alten Finnen/Heroen Wirklichkeit durch Singen bewirkten.("Übersinge, wer mich ansingt,/Überspreche, wer mich anspricht,/Singe, daß der beste Sänger/Bald als schlechtester erscheinet,/Sing' ihm Steinschuh' an die Füße,/Hölzern Beinkleid an die Hüften,/Sing' ihm Steinlast auf das Brustbein,/Einen Steinblock auf die Schultern,/Steinern' Handschuh' an die Hände,/Eine Steinmütz' auf den Schädel.")

Auf den Seiten 80-89 lässt Chatwin den Ex-Benediktiner Flynn eine relativ verständliche Darstellung zu der Bedeutung der Song-Lines abgeben.

Zitate:

"Die Weißen, begann er, gingen von der allgemein verbreiteten, irrtümlichen Annahme aus, dass die Aborigines, weil sie Wanderer waren, keine Landbesitzordnung hätten. Das sei Unsinn. Aborigines, das stimmte, / konnten sich ein Territorium nicht als ein von Grenzen umschlossenes Stück Land vorstellen, sondern sahen es eher als ein verschachteltes Netz von 'Linien' oder 'Durch-Gängen'.

Alle unsere Worte für Land sind identisch mit den Wörtern für Linie, sagte er.

Dafür gab es eine einfache Erklärung. Der größte Teil des australischen Busch Landes bestand aus dürrem Gestrüpp oder Wüste, wo die Regenfälle immer unregelmäßig kamen und wo auf ein fettes Jahr sie magere Jahre folgen konnten. in einer solchen Landschaft herumzuziehen, bedeutete Überleben, am selben Ort zu bleiben war Selbstmord. 

 Die Definition von 'eigenem Land' eines Menschen war der 'Ort, an dem ich nicht fragen muss'. (S.81/82)

Chatwin deutet an, dass die Aborigines die Regeln der Kultur der Weißen nicht akzeptieren und dafür erwarten, dass die Weißen, sie sich an sie annähern, sich den Aborigines-Regeln anzupassen hätten und dass bei Nichtbefolgung der Tod drohe. Eine seiner Personen spricht von Apartheid, und er deutet an, dass sie von den Aborigines ausgehe.



Tschuringa: "der Begriff umfasste nach Strehlow heilige Zeremonien, Stein- und Holzobjekte, SchwirrgeräteBodenzeichnungen, zeremonielle Pfähle, zeremoniellen Kopfschmuck, Gesänge und Erdhügel" (https://de.wikipedia.org/wiki/Tjuringa)



"Einer hatte noch die Kraft, den Arm zu heben, ein anderer etwas zu sagen. Als sie hörten, wer Limpy [ein Aborigine] war, lächelten alle drei spontan, dasselbe, zahnlose Lächeln.
Arcady schlug die Arme übereinander und beobachtete sie.
"Sind sie nicht wunderbar?" flüsterte Marian, legte ihre Hand in meine und drückte sie.
Ja. Ihnen fehlte nichts. Sie wussten, wohin sie gingen. Im Schatten eines Geistereukalyptusbaumes lächelten sie dem Tod entgegen." (S,393/394)


14 November 2024

Vesper

 Ein wenig verbreiteter Name, der ein Verbindung zwischen drei ganz unterschiedlichen Personen herstellt: zwischen dem Nazi-Dichter Will Vesper, seinem Sohn Bernward Vesper*, zeitweise der Lebensgefährte der späteren RAF-Terroristin Gudrun Ensslin, und Guntram Vesper*, Lyriker, Hörspielautor, Privatgelehrter und Verfasser von Romanen, die passagenweise wie Lyrik gelesen werden können/sollten.

*sein Romanessay: Die Reise

mehr in: Fritz J. Raddatz: Mitleid, Trauer und Empörung, DIE ZEIT Nr.38  13.9.1985

zu allen drei Vespers: Zuordnung und Unterscheidung

08 November 2024

Nikolaus Lenau: Faust

 Nikolaus Lenau: Faust (Wikipedia)

Die Verschreibung

"[...] Mönch

Zur Kirche, wüstes Weltkind! sollst du kehren,
Daß mütterlich sie dir die bittern Zähren
Des Zweifels trockne, der Verlassenheit,
Die, unbewußt dir selbst, um Hülfe schreit.
O kehre heim zur gläubigen Gemeinde,
Und laß von ihr das kranke Herz dir pflegen!
Rings steht um dich der brüderliche Segen
Und wird dich schützen vor dem wilden Feinde;
Erlösen wird dich im geweihten Bunde
Der Geist des Herrn, lebendige Liebeskunde.

Faust
Ohnmächtig ist und elend auch die Schar,
Wenn jeder einzle aller Weisheit bar.
Die Kunde, die mir Einsamen geschwiegen,
Mit vielen würd' ich sie zu hören kriegen?
Zur Kirche, meinst du, daß ich flüchten soll?
Ei! wartet Gott, gleich einem Bänkelsänger,
Mit Seiner Stimme, bis die Stube voll
Mönch, hebe dich und laste mir nicht länger!

(Wieder allein)

Ist diese Welt dadurch entstanden,
Daß Gott sich selber kam abhanden?
Ist Göttliches von Gotte abgefallen,
Um wieder gottwärts heimzuwallen?
Ist aus urdunklen Ahnungstiefen,
Worin die Gotteskeime schliefen,
Das Göttliche zuerst erwacht,
Und stieg es auf zur Geistesmacht?
So daß Natur in Haß und Lieben
Als ihre Blüte Gott getrieben? –
An dieser Frage hängt die Welt,
Doch hab ich immer sie umsonst gestellt.
Ja! ob die Welt mit ihrem Lauf
Zu nennen ein Hinab? Hinauf?
Ist wohl der ernsten Frage wert;
Wie aber wenn es ein Hinaus?
Des vollen Gottes Ausstrom, Überbraus,
Der nie zurück zu seinem Quelle kehrt?
Ob alles Leben ein Verschwenden
Des unerschöpflich Reichen ist,
Das nie mehr wird von ihm vermißt,
Und bald wie ein vergeßnes Spiel muß enden? –
Wenn ich vorbei an einem Kirchhof geh,
Und Gräber mit den Leichensteinen seh,
Und mir das Wechselspiel bedenke,
Das mit den hier Vergeßnen ward getrieben,
Ist's wie ein Blick in eine leere Schenke,
Wo auf dem Tisch die Karten liegenblieben. –
Was ist's? – Man spricht von unglücklicher Liebe,
Wie sie manch armes Herz zu Staub zerriebe;
Ich habe diese Liebe nie gekannt,
Fürs Erdenweib war nie mein Herz entbrannt;
Die unglücklichste, ewig hoffnungslose,
Die Liebe für die Wahrheit ist mein Schmerz.
Vom Himmel fallen nicht Erhörungslose,
So schreit ich, sie zu suchen, höllenwärts.

Faust sprach es aus das grausenvolle Wort,
Riß aus der Brust ein Buch und warf es fort,
Und eine Rolle rafft er nun dafür,
Aus abgebleichtem Schriftenhauf herfür,
Und liest daraus ein dringendes Beschwören,
Daß rauschend sich des Waldes Haar' empören.
Er blickt umher im öden Waldesraume,
Ob er nicht seh' den schauerlich Ersehnten.
Was knistert hinter jenem alten Baume,
Dem sturmgebrochnen, traurig hingelehnten?
Er ist's! am Baum hervor, aus Moos und Moder,
Mit seiner Augen finsterem Geloder,
Der Teufel blickt gewärtig und bereit,
Und streckt sein Haupt in Faustens Einsamkeit.

Mephistopheles
Faust, kennst du noch den Medikus,
Der an der Leich' um Mitternacht
Dich überrascht mit seinem Gruß,
Und dir ein Wörtlein Trost gebracht?
Faust, kennst du mich den Jäger noch,
Der dich auf jenem Berge hoch,
Als du geglitscht vom steilen Rand,
Ergriff und hielt mit fester Hand,
Und stehen ließ verblüfft im Schrecke,
Hinumschwand um die Felsenecke?

Faust
Ich kenne dich, doch ohne Dank;
Mir wäre besser, wenn ich dort versank.

Mephistopheles
Freund, mir gefiel die Leidenschaft,
Die dich hoch über Blitz und Sturm
Von Fels zu Fels emporgerafft
Nach Stein und Blume, Kraut und Wurm;
Wie du in heißer Lieb' entflammt
Für deine rätselhafte Braut,
Die noch dein Auge nie geschaut;
Wie du am Stein dich festgeklammt,
Wie an der Eiswand ohne Halt
Du fest und keck die Hand geballt,
Sie blutig schlugst, im tollen Schweben
Mit deinem Blut dich hinzukleben.
Freund, mir gefiel so heiße Gier,
Und wahrlich, ich gestehe dir,
Wer also mit dem Tode wettet,
Ist wert, daß ihn der Teufel rettet.
Sieh da, noch sind die Hände wund,
Wie du sie hast ins Eis gehackt;
Dies Blut besiegle dir den Bund:
Auf, schreibe frisch den Ehepakt
Mit deines Herzens Purpurnaß
Fürs holde Liebchen Veritas!
Doch hast du was am Boden dort,
Das fort muß, oder ich muß fort.
Was starrst du so auf jenes Buch,
Das du wegwarfst mit einem Fluch?
Was hinterm Baum mich angekündet,
Wonach du hingelauscht, das Knistern,
Vom Feuer kam's das ich entzündet,
Es brennt nach der Scharteke lüstern;
O wirf hinein den eklen Band
Mit allen Liedern und Gebeten,
Geschichtefaslern und Propheten.
Hinein, 's gibt einen lust'gen Brand.

Faust
Hab ich verworfen auch die Schrift,
Ihr Anblick noch das Herz mir trifft;
Durch die mir einst so teuren Zeilen
Hör ich die Winde blätternd eilen;
Sie wecken, wie sie drüber fahren,
Mir Klänge aus vergangnen Jahren:
Als ob die Bibel mahnend wehte
Ans Herz mir Psalmen und Gebete
In wunderbaren Sehnsuchtsklängen,
Fühl ich darin ein bang Bedrängen.

Mephistopheles
Ha, die Gebete waren Wind.
Du sei ein Mann und schnell dich fasse,
Eh ich verachtend dich verlasse;
Der Teufel taugt nicht für ein Kind.
Die Blätter, einst dir noch so teuer,
Wirf sie geschwind in dieses Feuer!
Und sind verbrannt sie ganz und gar,
So streu zur Sühnung dir ins Haar
Die Asche vom geliebten Buch;
Mit einem büßerischen Spruch
Verneige dein geäschert Haupt,
Daß du so dumm warst und geglaubt,
Die Wahrheit, scheu und ewig flüchtig,
Nach der dir heiß die Pulse pochen,
Sie habe, völlig zahm und züchtig,
in diesen Schweinsband sich verkrochen.
Schlag dir die Faust zur Stirne oft,
Daß du so dumm warst und gehofft,
Daß du geträumt hast, der Geschichte
Längst abgewelkte Judenblätter,
Sie dauern grün im Zeitenwetter,
Und daß sie dir noch bringen Früchte,
Die ewig frisch das Herz dir laben,
Weil einer aufstand, der begraben.
Oh, Freund, sei bis zum Tod betrübt,
Daß du so dumm warst und geliebt,
Wie diese Blätter dir geboten,
Den ungeheuren Urdespoten!

Faust
Den Herrn nicht lieben, wäre schwer;
Doch liebt mein Herz die Wahrheit mehr.

Mephistopheles
So, Faust, du hast es recht begonnen;
Die Wahrheit mehr – ist viel gewonnen.
Sieh, wie das Feu'r die Zunge streckt,
Nach dem geweihten Futter leckt; –
Hinein damit, hinein damit,
Und deiner Knechtschaft bist du quitt!

Faust (wirft die Bibel ins Feuer)
Mich soll der Glaube nimmer locken.
Sie brennt; ihr Zauber ist besiegt;
Der Trost, den sie geboten, fliegt
Zerstreut in grauen Aschenflocken.
Entschieden war mein Sinn zuvor,
Als dich mein Wort heraufbeschwor.
Jetzt wär's zu spät, mich zu bedenken,
Im Herzen noch den süßen Wahn
Unschlüssig feig herumzuschwenken;
Ich schütt ihn plötzlich aus: wohlan,
Ich bin ein Mann, und was ich liebe,
Lieb ich mit vollem Mannestriebe,
Ich lieb's auf Leben und auf Sterben,
Auf Heil und ewiges Verderben.
Wohlan, du letzter Helfer, sprich:
Willst du zur Wahrheit führen mich,
Daß ich ihr Antlitz schauen mag?

Mephistopheles
Ich will; doch schließe den Vertrag.
Das beste Mittel wäre fast,
Du hängtest dich an diesen Ast;
Doch wirst du wohl noch länger wollen
Herum dich treiben auf den Schollen;
Und wenn ich's recht genau bedenke,
Schad' wär's, daß Faust sich jetzo henke.
Dein halbes Leben ist verflossen,
Es ward vergrämelt und vergrübelt,
Einsam in studiis verstübelt,
Hast nichts getan und nichts genossen.
Hast noch die Weiber nicht geschmeckt,
Noch keinen Feind ins Blut gestreckt.
Das Beste, so das Leben beut,
Hast du zu kosten dich gescheut.
Sonst ist des Menschen höchste Lust,
Daß liebend er ein Kindlein mache,
Und wenn er haßt, dem Mann der Rache
Den Dolch zu stoßen in die Brust.
Denn: liebend zeugen, hassend morden,
Ist Menschenherzens Süd und Norden;
Und was dazwischen innesteckt,
Sind Keime, doch zurückgeschreckt,
Sind Sprossen, doch die halben, matten,
Von Totschlag oder von Begatten.
Du warst bis jetzt ein blöder Tor;
Drum höre, was ich schlage vor:
Der alte Zwingherr hält die Erde
In knechtisch frömmelnder Gebärde;
Doch hat mein Erzfeind nicht versagt
In seiner Welt mir freie Jagd.
Verdinge dich mir zum Gesellen,
Und hilf mein Weidwerk mir bestellen,
Ich will dafür bei meinem Leben
Die Wahrheit dir zum Lohne geben,
Und Ruhm und Ehre, Macht und Gold,
Und alles was den Sinnen hold.
Von deiner Seel' es sich versteht,
Daß sie mit in den Handel geht.
Laß bluten die verharschte Hand,
Zu schreiben mir das Unterpfand,
Und daß dazu beitrage jeder,
Reich ich dir diese Hahnenfeder,
Die ich in einem Forste jüngst,
's war grade Sonntag früh, zu Pfingst,
Dem Raubschütz aus dem Hute zog,
Als ihm ins Herz die Kugel flog.
Recht artlich war es anzusehn,
Wie so der Dieb, im dichten Laub
Versteckt, auflauscht dem Wildesraub;
Wie doch vier Jäger ihn erspähn,
Wie er auf sie drei Kugeln sendet,
Von denen jed' ein Leben endet,
Die vierte, ohne Sakrament,
Ihm selber durch die Lungen rennt.
Was ist dir, Faust, du wirst so blaß,
Ging dir zu Herzen gar der Spaß?

Faust
So reiche mir den Hahnenkiel:
Doch laß der Laune freches Spiel,
Die widerlich dein Wort mir salzt.

(Die Feder betrachtend)

Der arme Hahn, voll Liebesnot,
Hat selber sich dem bittern Tod,
Und mich der Hölle zugefalzt.
Hier unterschreib ich den Vertrag,
Weil ich nicht länger zweifeln mag.

Mephistopheles
So recht, mein Faust, es ist geschehn;
Leb wohl, auf frohes Wiedersehn!


Der Jugendfreund

[...]"

Fortsetzung in Projekt Gutenbrg.de


Sieh auch:

Schilflieder. 1832.