26 November 2011

Immermann: Münchhausen. Eine Geschichte in Arabesken

Am Beginn leben von der Seitenlinie der adligen Familie Schnuck, die auf dem Schloss Schnick-Schnack-Schnurr ihren Sitz hat, nur noch der alte Baron und seine Tochter Emerentia. Diese hat als Zwölfjährige mal auf dem Schoß eines Fürsten gesessen.

Die Zeit verwischte zwar den Fürsten Xaverius Nicodemus den Zweiundzwanzigsten, da sie ihn nicht wiedersah, allgemach aus ihrem Herzen, dagegen setzte sich in ihr die Standesvorstellung, die Vorstellung an sich, daß sie bestimmt sei, mit einem Hechelkramischen Fürsten in zärtliche Verhältnisse zu treten, immer fester in ihr, wobei sie sich durchaus nichts Arges dachte, woran sie aber mit solcher Innigkeit hing, wie ihr Vater an seinen Geheimenratsgedanken. Weil nun das Herz nicht in das Leere seinen Drang versenden mag, sondern gern an liebevoll-gediegner Wirklichkeit ausruht, so hatte ihre schwärmende Phantasie nach einigem Umherschweifen im leeren Raume auch bald den sichtbaren Gegenstand gefunden, der ihr den künftigen Liebhaber unter den Fürsten von Hechelkram vorbilden mußte. In der Tat war dieser Gegenstand ganz geeignet, die Einbildungskraft eines fühlenden Mädchens knacken, der Mund wollte zwar seines Berufes wegen für die Gesetze reiner Verhältnisse etwas zu groß erscheinen, aber ein schwarzer Schnurrbart von wunderbarer Fülle, welcher über den Lippen hing, machte diesen Übelstand wieder gut. Die großen, grellen, himmelblauen Augen blickten sanft und grade vor sich hin, und ließen auf eine Seele vermuten, in welcher die Milde bei der Stärke wohnte.
Bekleidet war dieser idealisch-schöne Nußknacker mit einer rotlackierten Uniform und weißem Unterzeuge; auf dem Haupte aber trug er einen imponierenden Federhut. Emerentia hatte ihn zu ihrem Namenstage geschenkt bekommen. Sobald sie seiner ansichtig wurde, erzitterte sie, erseufzte sie, errötete sie. Niemand verstand ihre Regung. Sie aber trug den Nußknacker auf ihr einsames Zimmer, stellte ihn auf den Kamin, blickte ihn lange glühend und weinend an, und rief endlich: [63] »Ja, so muß der Mann aussehen, dem sich dieses volle Herz zu eigen ergeben soll!« Von der Zeit an war der Nußknacker ihr vorläufiger Geliebter. Sie hielt mit ihm die zärtlichsten Zwiegespräche, sie küßte seinen schwarzen Schnurrbart, sie hatte dem ganzen Verhältnisse eine so tiefe Beseelung gegeben, daß sie jederzeit des Abends, wenn sie sich zum Schlafengehen entkleiden wollte, schamhaft zuvor ihrem Freunde auf dem Kamin das Haupt mit einem Tuche verhüllte. Nußknacker ließ sich das alles gefallen, stand zuversichtlich auf seinen Füßen, und blickte mit den großen, blaugemalten Augen mildkräftig vor sich hin.
Emerentien hatte diese schöne Liebe rasch gereift. Von der Natur war sie, wenn auch nicht mit Reizen, doch mit blühenden Gesichtsfarben und runden Armen ausgestattet worden; es konnte ihr daher an Verehrern unter den benachbarten Landjunkern nicht fehlen. Aber sie schlug alle Bewerbungen von der Hand und sagte, sie folge ihrem Ideal und gehöre der Zukunft an. Unter dem Ideal verstand sie den auf dem Kamin und unter der Zukunft einen Hechelkramischen Fürsten.
Ihre Eltern ließen ihr ganz freie Hand. Sie sagten, in den Linien Schnuck-Muckelig und Schnuck-Puckelig seien alle Gefühle seit Jahrhunderten der heraldisch-richtigen Bahn gefolgt. Es lasse sich also nichts daran ändern und modeln, was ihre Tochter empfinde. (Immermann: Münchhausen, 1. Buch 1. Kapitel, S.62)
In Kenntnis dieser Passage wird man den Münchhausen zu Recht als einen satirischen Roman ansehen.

Keine Kommentare: