10 März 2013

Schon wieder auf Leben und Tod


Der Platz um Sankt Georg war mit Menschen angefüllt, die alle voll Angst nach dem Turmdache hinaufsahen. Der ungeheure alte Bau stand wie ein Fels in dem Kampf, den Blitzeshelle mit der alten Nacht unermüdlich um ihn kämpfte. Jetzt umschlangen ihn tausend hastige glühende Arme mit solcher Macht, daß er selber aufzuglühen schien unter ihrer Glut; wie eine Brandung lief's an ihm hinauf und stürzte gebrochen zurück, dann schlug die dunkle Flut der Nacht wieder über ihm zusammen. Ebenso oft tauchte die Menge aneinandergedrängter bleicher Gesichter auf um seinen Fuß und sank wieder ins Dunkel zurück. Der Sturm riß die Stehenden an Hüten und Mänteln und schlug mit eigenen und fremden Haaren und Kleiderzipfeln nach ihnen und warf sie mit seinem Schneegeriesel, das in dem Schein der Blitze wie glühender Funkenregen [609] an ihnen herniederstäubte, als wollte er sie's büßen lassen, daß er vergeblich an den steinernen Rippen sich wund stieß. Und wie die Menschen bald erschienen, bald verschwanden, so wurde ihr verwirrtes Durcheinanderreden immer wieder vom Sturm und vom Donner überbraust und überrollt.
Da rief einer, sich selbst tröstend: »Es ist ein kalter Schlag gewesen. Man sieht ja nichts!« Ein anderer meinte, die Flamme von dem Schlag könne noch ausbrechen. Ein dritter wurde zornig; er nahm den Einwand wie einen Wunsch, der Schlag möge nicht ein kalter gewesen sein und die Flamme noch ausbrechen. Er hatte sich schon getröstet und rächte sich für die Unruhe, die der Einwand wieder neu in ihm erregte. Viele sahen, vor Angst und Kälte zitternd, mit den geblendeten Augen stumpf in die Höhe und wußten nicht mehr warum. Hundert Stimmen setzten dagegen auseinander, welches Unglück die Stadt betreffen könne, ja betreffen müsse, wenn der Schlag kein kalter war. Einer sprach von der Natur der Schiefer, wie sie im Brande schmelzen und, als brennende Schlacken straßenweit durch die Luft fliegend, schon oft einen beginnenden Brand im Augenblick über eine ganze Stadt verbreitet hatten. Andere klagten, wie der Sturm einen möglichen Brand begünstige und daß kein Wasser zum Löschen vorhanden sei. Noch andere: und wäre welches vorhanden, so würde es vor der Kälte in den Spritzen und Schläuchen gefrieren. Die meisten stellten in angstvoller Beredsamkeit den Gang dar, den der Brand nehmen würde. Stürzte das brennende Dachgebälk, so trieb es der Sturm dahin, wo eine dichte Häusermasse fast an den Turm stieß. Hier war die feuergefährlichste Stelle der ganzen Stadt. Zahllose hölzerne Emporlauben in engen Höfen, bretterne Dachgiebel, schindelngedeckte Schuppen, alles so zusammengepreßt, daß nirgends eine Spritze hineinzubringen, nirgends [610]eine Löschmannschaft mit Erfolg anzustellen war. Stürzte das brennende Dachgebälk, wie nicht anders möglich war, nach dieser Seite, so war das ganze Stadtviertel, das vor dem Winde lag, bei dem Sturm und Wassermangel unrettbar verloren. Diese Auseinandersetzungen brachten Ängstlichere so aus der Fassung, daß jeder neue Blitz ihnen als die ausbrechende Flamme erschien. Daß jeder nur eine Seite der Turmdachfläche übersehen konnte, begünstigte die Fortpflanzung des Irrtums. Es war wunderlich, aber man hörte nun von allen Seiten zugleich das Geschrei: »Wo? Wo?« Sturm und Donner verhinderten die Verständigung. Jeder wollte selbst sehen; so entstand ein wildes Gedränge.
»Wo hat es eingeschlagen?« fragte Apollonius, der eben daherkam. »In die Seite nach Brambach zu«, antworteten viele Stimmen. Apollonius machte sich Bahn durch die Menge. Mit großen Schritten eilte er die Turmtreppe hinauf. Er war den langsamem Begleitern um eine gute Strecke voraus. Oben fragte er vergebens. Die Türmersleute meinten, es müsse ein kalter Schlag gewesen sein, und waren doch im Begriff, ihre besten Sachen zusammenzuraffen, um vom Turme zu fliehen. Nur der Gesell, den er am Ofen beschäftigt fand, besaß noch Fassung. Apollonius eilte mit Laternen nach dem Dachgebälk, um sie da aufzuhängen. Die Leitertreppe zitterte nicht mehr unter seinen Füßen; er war zu eilig, das zu bemerken. Innen am Dachgebälke wurde Apollonius keine Spur von einem beginnenden Brande gewahr. Weder der Schwefelgeruch, der einen Einschlag bezeichnet, noch gewöhnlicher Rauch war zu bemerken. Apollonius hörte seine Begleiter auf der Treppe. Er rief ihnen zu, er sei hier. In dem Augenblick zuckte es blau zu allen Turmlucken herein, und unmittelbar darauf rüttelte ein prasselnder Donner an dem Turme. [611] Apollonius stand erst wie betäubt. Hätte er nicht unwillkürlich nach einem Balken gegriffen, er wäre umgefallen von der Erschütterung. Ein dicker Schwefelqualm benahm ihm den Atem. Er sprang nach der nächsten Dachlucke, um frische Luft zu schöpfen. Die Werkleute, dem Schlage ferner, waren nicht betäubt worden, aber vor Schrecken auf den obersten Treppenstufen stehen geblieben. »Herauf!« rief ihnen Apollonius zu. »Schnell das Wasser! die Spritze! In diese Seite muß es geschlagen haben, von da kam Luftdruck und Schwefelgeruch. Schnell mit Wasser und Spritze an die Ausfahrtür!« Der Zimmermeister rief, schon auf der Leitertreppe, hustend: »Aber der Dampf!« – »Nur schnell!« entgegnete Apollonius, »Die Ausfahrtür wird mehr Luft geben, als uns lieb ist!« Der Maurer und der Schornsteinfeger folgten dem Zimmermann, der die Schläuche trug, so schnell als möglich mit der Spritze die Leitertreppe hinauf. Die andern brachten Eimer kalten, der Gesell einen Topf heißen Wassers, um durch Zugießen das Gefrieren zu verhindern.
In solchen Augenblicken hat, wer Ruhe zeigt, das Vertrauen, und dem gefaßten Tätigen unterordnen sich die andern ohne Frage. Der Bretterweg nach der Ausfahrtüre war schmal; durch die verständige Anordnung Apollonius' fand dennoch alles im Augenblicke seinen Platz. Zunächst Apollonius nach der Tür stand der Zimmermann, dann die Spritze, dann der Maurer. Die Spritze war so gewendet, daß die beiden Männer die Druckstangen vor sich hatten. Zwei starke Männer konnten das Druckwerk bedienen. Hinter dem Maurer stand der Schieferdeckergeselle, um über dessen Schulter, so oft es nötig, von dem heißen Wasser zuzugießen. Andere betrieben des Gesellen vorheriges Geschäft, sie schmolzen Schnee und Eis und behielten das gewonnene Wasser in der geheizten Türmerstube, damit es nicht wieder zu Eise fror. Andere [612] waren bereit, als Zuträger zwischen Dachstuhl und Türmerstube zu dienen, und bildeten eine Art Spalier. Während Apollonius mit raschen Worten und Winken den Plan dieser Geschäftsordnung dem Zimmermann und Maurer mitteilte, die ihn dann in Ausführung brachten, hatte er die Dachleiter schon in der Rechten und griff mit der Linken nach dem Riegel der Ausfahrtür. Die Leute hatten die beste Hoffnung; aber als durch die geöffnete Tür der Sturm hereinpfiff, dem Zimmermann die Mütze vom Kopfe riß und Massen feinen Schneestaubs gegen das Gebälke warf und heulend und rüttelnd den Dachstuhl auf und ab polterte und Blitz auf Blitz blendend durch die dunkle Öffnung brach, da wollte der Mutigste die Hand von dem vergeblichen Werke abziehen. Apollonius mußte sich mit dem Rücken gegen die Türe kehren, um atmen zu können. Dann, beide Handflächen gegen die Verschalung oberhalb der Türe gestemmt, bog er den Kopf zurück, um an der äußern Dachfläche hinaufzusehen. »Noch ist zu retten,« rief er angestrengt, damit die Leute vor dem Sturm und dem ununterbrochenen Rollen des Donners ihn verstehen konnten. Er ergriff das Rohr des kürzesten Schlauches, dessen unteres Ende der Zimmermann einschraubend an der Spritze befestigte, und wand sich den obern Teil um den Leib. »Wenn ich zweimal hintereinander den Schlauch anziehe, drückt los. Meister, wir retten die Kirche, vielleicht die Stadt!« Die rechte Hand gegen die Verschalung gestemmt, bog er sich aus der Ausfahrtür; in der linken hielt er die leichte Dachleiter frei hinaus, um sie an dem nächsten Dachhaken über der Tür anzuhängen. Den Werkleuten schien das unmöglich. Der Sturm mußte die Leiter in die Lüfte reißen und – nur zu möglich war's, er riß den Mann mit. Es kam Apollonius zustatten, daß der Wind die Leiter gegen die Dachfläche drückte. An Licht fehlte es nicht, den Haken [613] zu finden; aber der Schneestaub, der dazwischen wirbelte und, vom Dache herabrollend, in seine Augen schlug, war hinderlich. Dennoch fühlte er, die Leiter hing fest. Zeit war nicht zu verlieren; er schwang sich hinaus. Er mußte sich mehr der Kraft und Sicherheit seiner Hände und Arme vertrauen als dem sichern Tritt seiner Füße, als er hinaufklomm; denn der Sturm schaukelte die Leiter samt dem Mann wie eine Glocke hin und her. Oben, seitwärts über der ersten Sprosse der Leiter, hüpften bläuliche Flammen mit gelben Spitzen unter der Lücke und leckten unter den Rändern der Schiefer hervor. Zwei Fuß tief unter der Lücke hatte der Blitz hineingeschlagen. Vor einer Stunde noch war er vor dem Gedanken der bloßen Möglichkeit erschrocken, hierher könnte der Blitz schlagen und er müsse herauf – eine Reihe dunkler tödlicher Fiebergebilde hatten sich daran geschlossen –; jetzt war alles geschehen, wie er sich's vorhin nur gedacht; aber die Lücke war ihm wie jede andere Stelle des Turmdachs, schwindellos stand er auf der Leiter, und nur ein frisches tapferes Gefühl erfüllte ihn, der Drang, von Kirche und Stadt die drohende Gefahr zu wenden. Ja etwas, was ihm die dunkle Furcht durch Sorge erhöht hatte, erwies sich nun sogar als heilvoll und glücklich. Er erkannte, nur das Wasser, welches die Lücke wochenlang geschluckt und das nun im Holze gefroren, ließ die Flamme nicht so schnell überhandnehmen, als ohne dies Hindernis geschehen wäre. Der Raum, den der Brand bis jetzt einnahm, war ein kleiner. Der Frost in der Verschalung warf die hartnäckig immer wiederkehrenden hüpfenden Flämmchen lange zurück, ehe sie bleibend einwurzeln und von dem Wurzelpunkte aus weiterfressen konnten. Hatten sie sich einmal zu einer großen Flamme vereinigt und diese den durch Frost gefeiten Raum unter der Lücke überschritten, dann [614] mußte der Brand bald riesig über die Turmspitze hinauswachsen, und die Kirche und vielleicht die Stadt erlag der vereinten Gewalt von Feuer und Sturm. Er sah, noch war zu retten, und er brauchte die Kraft, die ihm dieser Gedanke gab. Die Leiter schaukelte nicht mehr bloß herüber und hinüber, sie wuchtete zugleich auf und ab. Was war das? Wenn der Dachbalken locker war – aber er wußte, das konnte nicht sein –, diese Bewegung war unmöglich. Aber die Leiter hing ja gar nicht an dem Haken; er hatte sie an ein hervorspringendes Eichenblatt der Blechverzierung angehängt, nah an einem der Befestigungspunkte; aber das andere Ende des Girlandenstücks, an dem die Leiter hing, war das, welches er zu befestigen vergessen hatte. Sein Gewicht wuchtete an dem Stücke und zog es mit der Leiter immer mehr herab und bog die Seite nach vorn, an die er die Leiter gehängt. Noch einen Zoll tiefer, und das Blatt lag wagrecht, und die Leiter glitt von dem Blatte herab und mit ihm hinunter in die ungeheure Tiefe. Jetzt mußte sich sein neugewonnener Lebensmut bewähren, und er tat's. Sechs Zoll weit neben dem Blatte war der Haken. Noch drei leichte Schritte die schwankende Leiter hinauf, und er faßte mit der linken Hand den Haken, hielt sich fest daran und hob die Leiter mit der rechten von dem Blatte herüber an den Haken. Sie hing. Die Linke ließ den Haken und faßte neben der Rechten die Leitersprosse; die Füße folgten; er stand wieder auf der Leiter. Und jetzt begannen schon die Schiefer unter der Lücke zu glühen; nicht lang, und sie rollten sich schmelzend, und die brennenden Schlacken trugen das Verderben fliegend weiter. Apollonius zog die Klaue aus dem Gürtel; wenig Stöße mit dem Werkzeug, und die Schiefer fielen abgestreift in die Tiefe. Nun übersah er deutlich den geringen Umfang der brennenden Fläche; seine Zuversicht wuchs. Zwei Züge an dem Schlauch, [615] und die Spritze begann zu wirken. Er hielt das Rohr erst gegen die Lücke, um die Verschalung oberhalb des Brandes noch geschickter zum Widerstande zu machen. Die Spritze bewies sich kräftig; wo ihr Strahl unter den Rand der Schiefer sich einzwängte, splitterten diese krachend von den Nägeln. Die Flammen des Brandes knisterten und hüpften zornig unter dem herabfließenden Wasser; erst dem unmittelbar gegen sie gerichteten Strahl gelang es, und auch diesem mehr durch seine erstickende Gewalt als durch die Natur seines Stoffes, die hartnäckigen zu bezwingen.
Die Brandfläche lag schwarz vor ihm, dem Strahl der Spritze antwortete kein Zischen mehr. Da rasselte das Getriebe der Uhr tief unter ihm. Es schlug zwei. Zwei Schläge! zwei! Und er stand, und er stürzte nicht! Wie anders war es nun in der Wirklichkeit gekommen, als die fieberischen Ahnungen gedroht! Wenn er oben war, da schlug es zwei, da packte ihn der Schwindel und riß ihn hinab, eine dunkle Schuld zu büßen. Das hatten ihm seine schweren wachen Träume gezeigt. Und er stand doch wirklich oben, und die Leiter schwankte im Sturme, Schneestaub umwirbelte ihn, Blitze umzuckten ihn; mit jedem flammte die Schneedecke der Dächer, der Berge, des Tals, die ganze Gegend in einer ungeheuern Flamme auf, und nun schlug's zwei unter ihm, die Glockentöne heulten, vom Sturm gezerrt, hinaus in den Aufruhr: und er stand, er stand schwindellos, er stürzte nicht. Er wußte, keine Schuld lag auf ihm; er hatte seine Pflicht getan, wo Tausende sie nicht getan hätten; er hatte die Stadt, an der er mit ganzer Seele hing, er allein, von der furchtbarsten Gefahr befreit. Aber aller Stolz dieses Gedankens war in dieser Seele nur ein Dankgebet. Er dachte nicht an die Menschen, die ihn preisen würden, nur an die Menschen, die nun wieder aufatmen durften, an das Elend, das [616] verhütet, an das Glück, welches erhalten war. Und er fühlte selbst nach Monden wieder, was frei aufatmen heißt. Diese Nacht hatte ja auch ihm die Lust wiedergebracht. Mit Freudigkeit erinnerte er sich jetzt wieder an das Wort, das er sich gegeben. Menschen wie Apollonius ist's der höchste Segen einer braven Tat, daß sie sich gestärkt fühlen zu neuem braven Tun. 
Otto Ludwig: Zwischen Himmel und Erde, S.608-616

Handlung und Schwarzweißzeichnung entsprechen dem Trivialroman und passagenweise ist auch kein Unterschied zu entdecken.
Doch die Intensität der psychologischen Durchdringung hebt diese Erzählung deutlich davon ab. 
Dennoch ziehe ich die Heiteretei vor. Zwar ist die Hauptfigur dort ähnlich idealisiert wie Apollonius, aber sie verleugnet nicht so sehr ihr Eigeninteresse, und ihre Widersacher sind ins Satirische gezogen, nicht ins abgrundtief Böse. 
Kann es sein, ich ziehe nur das traditionelle Happyend der plakativen Entsagung vor?
Wer mit dem Schlusse hier nicht zufrieden ist, kann noch bis zum Schluss der Erzählung lesen (er findet sich dann auf Seite 629). Auf diesem Wege findet sich noch mancher triviale Zug, doch in dem Verhältnis, das die Kinder zu Apollonius haben, wird doch deutlich, dass seine Pflichterfüllung nicht das Ideal, sondern sehr deutlich nur das Zweitbeste ist:
Aber das Kind konnte sich erst freuen, wenn er vorübergegangen war. Bei aller Freundlichkeit hatte die große Gestalt etwas so Ernstes und Feierliches, daß das Kind vor Respekt nicht zur Freude kommen konnte.(S.622)

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