Ungefähr zu dieser Zeit begann Arnheim auch seine Schriften zu veröffentlichen, und das Wort Seele tauchte in ihnen auf. Man kann vermuten, daß er es wie eine Methode, einen Vorsprung, als Königswort gebrauchte, denn sicher ist, daß Fürsten und Generale keine Seele haben, und von Finanzleuten war er der erste. Gewiß ist auch, daß dabei ein Bedürfnis eine Rolle spielte, sich gegen seine sehr vernünftige engere Umwelt, namentlich gegen die im Geschäftlichen überlegene Führernatur seines Vaters, neben dem er allmählich die Figur des alternden Kronprinzen zu spielen begann, in einer dem Geschäftsverstande unzugänglichen Weise zu verteidigen. Und ebenso gewiß ist es, daß sein Ehrgeiz, alles Wissenswerte zu beherrschen, – ein Hang zur Polyhistorie, dem in solchem Ausmaße, wie es seinem Bedürfnis entsprach, kein Mensch gewachsen wäre – in der Seele ein Mittel fand, um alles, was sein Verstand nicht beherrschen konnte, zu entwerten. [...]
er leugnete nicht den Nutzen des Wissens, ja im Gegenteil, er machte selbst Eindruck durch sein emsiges Zusammentragen, wie es nur ein Mann vermag, dem dazu alle Mittel zu Gebote stehn, aber nachdem er diesen Eindruck gemacht hatte, erklärte er, daß sich über dem Bereich des Scharfsinns und der Genauigkeit ein Reich der Weisheit befinde, das nur noch seherisch erkannt werden könne; er beschrieb den Willen, der Staaten und Weltgeschäfte gründet, um verstehen zu lassen, daß er bei aller Größe nichts sei wie ein Arm, der von einem im Unsichtbaren schlagenden Herzen bewegt werden muß; er erklärte, seinen Zuhörern die Fortschritte der Technik oder den Wert der Tugenden in der allergewöhnlichsten Weise, wie es jeder Bürger sich vorstellt, um aber hinzuzufügen, daß solcher Gebrauch der Natur- und Geisteskräfte doch nur verhängnisvolle Unkenntnis bleibe, wenn man nicht ahne, daß sie die Erregungen eines Ozeans sind, der tief unter ihnen liege und von den Wellen kaum geritzt werde. Und er trug solche Äußerungen im Stil von Erlassen des Statthalters einer vertriebenen Königin vor, der seine Weisungen von ihr persönlich empfangen hat und die Welt nach ihnen ordnet. Vielleicht war dieses Ordnen seine eigentliche und heftigste Leidenschaft, ein Machtdrang, der weit alles überschritt, was selbst ein Mensch in seiner Stellung sich gewähren konnte, und unmittelbar dazu führte, daß der in den Bezirken der Wirklichkeit so mächtige Mann mindestens einmal im Jahr sich auf sein Schloß in der Mark zurückziehen und seinem Sekretär ein Buch ins Stenogramm diktieren mußte. Jene sonderbare Ahnung, die zuerst und am lebhaftesten in seinen schwärmerischen Jugendstunden hervorgekommen war, hatte sich diesen Weg gebahnt, aber sie suchte ihn zuweilen auch noch unmittelbar, wenngleich mit geschwundener Kraft, heim. Inmitten der Weltgeschäfte befiel es ihn dann wie eine süße Lähmung und Klostersehnsucht, die ihm zuflüsterte, daß alle Widersprüche, alle großen Ideen, alle Welterfahrungen und -anstrengungen nicht nur so Eines seien, wie man es ungenau als Kultur und Humanität versteht, sondern auch in einer wild-wörtlichen und flimmernd untätigen Bedeutung, so wie man an einem kränkelnd schönen Tag die Hände kreuzen, über Fluß und Wiesen hinschauen und nimmer sich lösen mag. In diesem Sinne war sein Schreiben ein Kompromiß. Und weil es nur eine Seele gibt und diese nicht greifbar, sondern im Exil und von dort sich nur auf eine einzige, so merkwürdig undeutliche oder vieldeutige Weise meldend, dagegen unzählige, schlechthin unendlich viele, und alle Fragen der Welt, auf die man diese königliche Botschaft anwenden kann, so entstand mit den Jahren jene ernste Verlegenheit für ihn, in die alle Legitimisten und Propheten geraten, wenn es zu lange dauert. Arnheim brauchte sich nur in der Einsamkeit zum Schreiben hinzusetzen, so führte die Feder geradezu mit gespenstischer Ergiebigkeit seine Gedanken von der Seele zu den Problemen des Geistes, der Tugenden, der Wissenschaft und der Politik, die, aus unsichtbarer Quelle bestrahlt, in einer deutlichen und magisch einheitlichen Beleuchtung erschienen. Dieser Ausdehnungsdrang hatte Berauschendes, dafür war er aber an jene Spaltung des Bewußtseins gebunden, die bei vielen die Voraussetzung der schriftlichen Schöpfung ist, indem der Geist alles ausschaltet und vergißt, was ihm nicht ins Konzept paßt; im Angesicht eines Unterredners sprechend und durch dessen Person den Beziehungen der Erde verbunden, würde sich Arnheim niemals so weit ausgelassen haben, aber über ein Papier gebeugt, das bereitlag, seine Anschauung widerzuspiegeln, ließ er es sich mit Freuden an einem gleichnishaften Ausdruck von Überzeugungen genug sein, die nur zum geringsten Teil fest, zum größeren ein Nebel von Worten waren, dessen einziger, übrigens nicht unbeträchtlicher Wirklichkeitsanspruch darin bestand, daß er unwillkürlich an immer den gleichen Stellen aufstieg. Wer ihn deshalb tadeln möchte, sollte bedenken, daß eine doppelte geistige Persönlichkeit zu besitzen, schon längst nicht mehr ein Kunststück ist, das nur Narren fertigbringen, sondern daß im Tempo der Gegenwart die Möglichkeit politischer Einsicht, die Fähigkeit, einen Zeitungsartikel zu schreiben, die Kraft, an neue Richtungen in Kunst und Literatur zu glauben, und unzähliges andere ganz und gar auf der Begabung gegründet ist, für bestimmte Stunden gegen seine Überzeugung überzeugt zu sein, von dem vollen Bewußtseinsinhalt einen Teil abzuspalten und diesen zu einem neuen Vollüberzeugtsein auszubreiten. Es bedeutete auf diese Weise noch einen Vorzug, daß Arnheim ganz ehrlich niemals von dem überzeugt war, was er sagte.
Robert Musil: Der Mann ohne Eigenschaften, Kapitel 86
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