[...] es gibt vielleicht auf der ganzen Welt kein anderes Mittel, ein Ding oder Wesen schön zu machen, als es zu lieben. [...]
er konnte sich aber, nach vielfach wiederholter Befragung seines Inneren, trotzdem nicht dem Ergebnis verschließen, daß er liebte. Und das war eine sonderbare Sache, denn ein Herz, das gegen fünfzig Jahre alt ist, ist ein zäher Muskel, der sich nicht mehr so einfach ausdehnen mag wie der eines Zwanzigjährigen in der Zeit der Liebesblüte, und es bereitete ihm beträchtliche Unannehmlichkeiten. [...]
Das Allgemeingültige, das er immer seinen Handlungen zu geben bestrebt war, als ein vor ganz Europa lebender Mensch, zeigte sich ihm mit einemmal als etwas Uninnerliches. Vielleicht ist das nur natürlich, wenn etwas für alle gelten soll; das Befremdliche war aber die Umkehrung dieses Schlusses, die sich Arnheim gleichfalls aufdrängte, denn wenn das Allgemeingültige uninnerlich ist, dann ist umgekehrt der innere Mensch das Ungültige, und so verfolgte Arnheim jetzt nicht nur auf Schritt und Tritt der Drang, irgend etwas unrichtig Schmetterndes, unvernünftig Illegitimes zu tun, sondern auch noch die Belästigung, daß dies im Sinne irgendeiner Übervernunft das Richtige wäre. Seit er das Feuer wieder kennengelernt hatte, das ihm die Zunge verdorrte, überwältigte ihn das Gefühl, er habe einen Weg, den er ursprünglich gegangen, vergessen, und die gesamte Ideologie eines großen Mannes, die ihn erfüllte, sei nur der Notersatz für etwas, das ihm verlorengegangen war. [...]
Nur kam ihm heute vor, so abgerundet und mannigfaltig sein Leben sich ihm auch darstellte, es hätte darin von allem doch gerade das eine ihn ganz anders nachwirkend ergriffen, was zuerst unter allem als das Unwirklichste erschienen war: eben jener romantisch ahnungsvolle Zustand, der ihm eingeflüstert hatte, nicht nur der lebhaft bewegten Welt, sondern noch einer anderen anzugehören, die wie ein angehaltener Atem in ihr schwebte. Diese schwärmerische Ahnung, die ihm nun durch Diotima wieder in ihrer ganzen Ursprünglichkeit gegenwärtig war, gebot jeder Tätigkeit und Regsamkeit Stille, der Tumult der jugendlichen Widersprüche und die hoffnungsvollen wechselnden Aussichten machten dem Tagtraum Platz, daß alle Worte, Geschehnisse und Forderungen in ihrer von der Oberfläche abgewandten Tiefe ein und dasselbe seien. In solchen Augenblicken schwieg selbst der Ehrgeiz, die Ereignisse der Wirklichkeit waren fern wie der Lärm vor einem Garten, ihn dünkte, die Seele sei aus ihren Ufern getreten und nun erst wahrhaft anwesend. [...]
Um den kleinsten Volontär, der in einem Weltgeschäft tätig ist, kreist die Welt, und Erdteile gucken ihm über die Schulter, so daß nichts, was er tut, ohne Bedeutung ist; um den einsamen Verfasser in seinem Zimmer kreisen dagegen höchstens die Fliegen, er mag sich anstrengen, wie er will. Das ist so einleuchtend, daß vielen Menschen in dem Augenblick, wo sie anfangen, in Lebensmaterial zu schaffen, alles, was sie früher bewegt hat, »nur Literatur« zu sein scheint, das heißt, es übt bestenfalls eine schwächliche und verworrene, meistens aber eine widerspruchsvolle, sich selbst aufhebende Wirkung aus, die in gar keinem Verhältnis zu dem Aufheben steht, das man von ihrer Veranstaltung macht.
Robert Musil: Der Mann ohne Eigenschaften, Kapitel 86
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